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Dirk Ostwald committed Mar 3, 2024
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# Wahrscheinlichkeitstheorie
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### Vorbemerkungen {-}

Die Wahrscheinlichkeitstheorie ist ein mathematisches Modell zur Beschreibung
von und zum quantitativen Schlussfolgern über *Zufallsvorgänge* der Wirklichkeit
(@fig-wahrscheinlichkeitstheorie). Unter Zufallsvorgängen verstehen wir dabei
alle Phänomene, die von uns nicht mit absoluter Sicherheit vorhergesagt werden können,
deren Ergebnis also mit Unsicherheit behaftet ist. Offensichtliche und vertraute
Beispiele für Zufallsvorgänge sind das Werfen eines Würfels oder einer Münze.
Allerdings ist der Begriff des Zufallsvorgangs und damit der Anwendungsbereich
der Wahrscheinlichkeitstheorie als sehr viel weiter gefasst zu verstehen. Nicht
mit vollständiger Sicherheit vorhersagbar und damit mit Unsicherheit behaftet
sind zum Beispiel auch der Ausgang einer Wahl, das morgige Wetter, der Messwert
einer EEG-Elektrode zu einem bestimmten Zeitpunkt nach Applikation eines Reizes,
oder der Effekt einer Psychotherapieintervention auf den Gesundheitszustand
einer Patient:in. Beginnt man darüber nachzudenken, welche Phänomene der Wirklichkeit
mit Unsicherheit behaftet sind, so fällt es schwer, nichttriviale Phänomene anzugeben,
hinsichtlich deren Ergebnis man vollständige Sicherheit besitzt.

![*Wahrscheinlichkeitstheorie als Modell von Zufallsvorgängen.* Ausgangspunkt der
Wahrscheinlichkeitstheorie ist die Absicht, über einen Zufallsvorgang, also ein mit
Unsicherheit behaftetes Phänomen der Wirklichkeit, logisch-quantitative Schlüsse zu ziehen.
Die Repräsentation zentraler Aspekte des Zufallsvorgang mithilfe wahrscheinlichkeitstheoretischer
Begrifflichkeiten bezeichnet man als Modellierung. Das wahrscheinlichkeitstheoretische
Modell selbst garantiert dann im Sinne der Wahrscheinlichkeitsrechnung die Korrektheit
logisch-quantitativer Schlussfolgerungen, welche zur Vorhersage von Aspekten des
Zufallsvorgangs genutzt werden können.](./_figures/200-wahrscheinlichkeitstheorie){#fig-wahrscheinlichkeitstheorie fig-align="center"}

Als mathematisches Modell von Zufallsvorgängen erlaubt die
Wahrscheinlichkeitstheorie insbesondere das vernunftbasierte, quantitative
Schlussfolgern über Zufallsvorgänge. Dies schlägt sich primär in der sogenannten
*Wahrscheinlichkeitsrechnung* nieder. Quantitative Schlussfolgerungen der
Wahrscheinlichkeitsrechnung haben beispielsweise folgende Form: Wenn ich
annehme, dass das Ereignis $A$ mit Wahrscheinlichkeit $x$ und Ereignis $B$
mit Wahrscheinlichkeit $y$ eintritt, dann ergibt sich für die Wahrscheinlichkeit
von Ereignis $C$ eine Wahrscheinlichkeit von $z$. Dabei ist der Schluss auf die
Wahrscheinlichkeit von $C$ logisch-mathematisch abgesichert, in dem Sinne wie
zum Beispiel logisch-mathematisch abgesichert ist, dass $1+1=2$ ist. Ob die
Annahmen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeiten von $A$ und $B$ aber den Gegebenheiten
des Zufallsvorgangs in der Wirklichkeit entsprechen, darüber macht
die Wahrscheinlichkeitstheorie keine Aussagen.

Die Wahrscheinlichkeitstheorie selbst bedient sich dabei der mathematischen
Theorie der Mengen und Funktionen. Spätestens seit @kolmogoroff1933 herrscht
dabei ein axiomatischer Zugang vor: Man fragt in der Wahrscheinlichkeitstheorie
selbst nicht, was denn eine Wahrscheinlichkeit sei oder inwieweit die Vorhersagen
der Wahrscheinlichkeitstheorie mit der Wirklichkeit übereinstimmen, sondern
versucht ein in sich schlüssiges formal-mathematisches System von unbegründeten,
aber intuitiv plausiblen, Grundannahmen und ihren Folgerungen zu entwickeln.
Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist das *Wahrscheinlichkeitsraummodell* eines
Zufallsvorgangs, das wir in @sec-wahrscheinlichkeitsraeume einführen werden.
In der Tat gibt es neben dem formal-mathematischen System der
Wahrscheinlichkeitstheorie bis heute mathematisch-philosophische Diskussionen darüber,
was genau denn unter dem Begriff der "Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses" zu
verstehen ist (vgl. @hajek2019). Dabei sind grob gesagt zwei etwas gegensätzliche
Interpretationen vorherrschend, die sogenannte *Frequentistische Interpretation*
und die sogenannte *Bayesianische Interpretation*.

Nach der *Frequentistischen Interpretation* ist die Wahrscheinlichkeit eines
Ereignisses die idealisierte relative Häufigkeit, mit der ein Ereignis unter
den gleichen äußeren Bedingungen einzutreten pflegt. Zum Beispiel ist die
Frequentistische Interpretation der Aussage "Mit einer Wahrscheinlichkeit von
1/6 zeigt der Würfel im nächsten Wurf eine 2" die folgende: "Wenn man einen Würfel
unendlich oft werfen würde und dabei die relative Häufigkeit des Ereignisses, dass
der Würfel eine 2 zeigt, bestimmen würde, dann wäre diese relative Häufigkeit
gleich 1/6". Man beachte bei dieser Interpretation, dass man de-facto die
Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses nicht empirisch bestimmen kann, da man
einen Würfel nicht unendlich oft werfen kann. Natürlich kann man die
Wahrscheinlichkeit in dieser Interpretation aber empirisch schätzen.
Schätzvorgänge selbst wiederrum sind allerdings kein Teil der Wahrscheinlichkeitstheorie,
sondern der *Frequentistischen* oder *Bayesianischen Inferenz*.

Nach der *Bayesianischen Interpretation* ist die Wahrscheinlichkeit eines
Ereignisses der Grad der Sicherheit, den eine Beobachter:in aufgrund ihrer
subjektiven Einschätzung der Lage dem Eintreten des Ereignisses $A$ zumisst.
Zum Beispiel ist die Bayesianische Interpretation der Aussage "Mit einer
Wahrscheinlichkeit von 1/6 zeigt der Würfel im nächsten Wurf eine Zwei" dann etwa die
folgende: "Basierend auf meiner eigenen und der tradierten Erfahrung mit dem
Werfen eines Würfels bin ich mir zu 16.6% sicher, dass der Würfel beim nächsten
Wurf eine Zwei zeigt."

In Modellen von tatsächlich zumindest unter ähnlichen Umständen wiederholbaren
Zufallsvorgängen wie dem Werfen eines Würfels ist der Unterschied zwischen
Frequentistischer und Bayesianischer Interpretation oft eher subtil. Es gibt
aber wie oben angedeutet viele Zufallsvorgänge, die mit Wahrscheinlichkeiten
beschrieben werden können, bei denen aufgrund ihrer Einmaligkeit eine
Frequentistische Interpretation nicht angemessen ist. Zum Beispiel machen
Aussagen der Form "Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die weltweiten Hitzerekorde
im Jahr 2023 nicht auf den Klimawandel zurückzuführen sind, ist kleiner als 0.01" (vgl.
@philip2020) nur unter der Bayesianischen Interpretation Sinn, da es sich bei den
Wetteraufzeichnungen des Jahres 2023 um ein einmaliges, nicht wiederholbares Ereignis handelt.

Obwohl also die Interpretation des Begriffes der Wahrscheinlichkeit durchaus
nicht eindeutig ist, unterscheiden sich die formalen Definitionen und Rechenregeln
für Wahrscheinlichkeiten nicht. Sowohl die Frequentistische als auch die
Bayesianische Inferenz, auf die wir an späterer Stelle eingehen, haben mit der
Wahrscheinlichkeitstheorie also ein identisches mathematisches Bezugssystem
und gemeinsames Fundament.

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