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Create 200-Wahrscheinlichkeitstheorie.qmd
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Dirk Ostwald
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Mar 3, 2024
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045945a
commit 9ea2ad0
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Original file line number | Diff line number | Diff line change |
---|---|---|
@@ -0,0 +1,99 @@ | ||
# Wahrscheinlichkeitstheorie | ||
\normalsize | ||
### Vorbemerkungen {-} | ||
|
||
Die Wahrscheinlichkeitstheorie ist ein mathematisches Modell zur Beschreibung | ||
von und zum quantitativen Schlussfolgern über *Zufallsvorgänge* der Wirklichkeit | ||
(@fig-wahrscheinlichkeitstheorie). Unter Zufallsvorgängen verstehen wir dabei | ||
alle Phänomene, die von uns nicht mit absoluter Sicherheit vorhergesagt werden können, | ||
deren Ergebnis also mit Unsicherheit behaftet ist. Offensichtliche und vertraute | ||
Beispiele für Zufallsvorgänge sind das Werfen eines Würfels oder einer Münze. | ||
Allerdings ist der Begriff des Zufallsvorgangs und damit der Anwendungsbereich | ||
der Wahrscheinlichkeitstheorie als sehr viel weiter gefasst zu verstehen. Nicht | ||
mit vollständiger Sicherheit vorhersagbar und damit mit Unsicherheit behaftet | ||
sind zum Beispiel auch der Ausgang einer Wahl, das morgige Wetter, der Messwert | ||
einer EEG-Elektrode zu einem bestimmten Zeitpunkt nach Applikation eines Reizes, | ||
oder der Effekt einer Psychotherapieintervention auf den Gesundheitszustand | ||
einer Patient:in. Beginnt man darüber nachzudenken, welche Phänomene der Wirklichkeit | ||
mit Unsicherheit behaftet sind, so fällt es schwer, nichttriviale Phänomene anzugeben, | ||
hinsichtlich deren Ergebnis man vollständige Sicherheit besitzt. | ||
|
||
![*Wahrscheinlichkeitstheorie als Modell von Zufallsvorgängen.* Ausgangspunkt der | ||
Wahrscheinlichkeitstheorie ist die Absicht, über einen Zufallsvorgang, also ein mit | ||
Unsicherheit behaftetes Phänomen der Wirklichkeit, logisch-quantitative Schlüsse zu ziehen. | ||
Die Repräsentation zentraler Aspekte des Zufallsvorgang mithilfe wahrscheinlichkeitstheoretischer | ||
Begrifflichkeiten bezeichnet man als Modellierung. Das wahrscheinlichkeitstheoretische | ||
Modell selbst garantiert dann im Sinne der Wahrscheinlichkeitsrechnung die Korrektheit | ||
logisch-quantitativer Schlussfolgerungen, welche zur Vorhersage von Aspekten des | ||
Zufallsvorgangs genutzt werden können.](./_figures/200-wahrscheinlichkeitstheorie){#fig-wahrscheinlichkeitstheorie fig-align="center"} | ||
|
||
Als mathematisches Modell von Zufallsvorgängen erlaubt die | ||
Wahrscheinlichkeitstheorie insbesondere das vernunftbasierte, quantitative | ||
Schlussfolgern über Zufallsvorgänge. Dies schlägt sich primär in der sogenannten | ||
*Wahrscheinlichkeitsrechnung* nieder. Quantitative Schlussfolgerungen der | ||
Wahrscheinlichkeitsrechnung haben beispielsweise folgende Form: Wenn ich | ||
annehme, dass das Ereignis $A$ mit Wahrscheinlichkeit $x$ und Ereignis $B$ | ||
mit Wahrscheinlichkeit $y$ eintritt, dann ergibt sich für die Wahrscheinlichkeit | ||
von Ereignis $C$ eine Wahrscheinlichkeit von $z$. Dabei ist der Schluss auf die | ||
Wahrscheinlichkeit von $C$ logisch-mathematisch abgesichert, in dem Sinne wie | ||
zum Beispiel logisch-mathematisch abgesichert ist, dass $1+1=2$ ist. Ob die | ||
Annahmen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeiten von $A$ und $B$ aber den Gegebenheiten | ||
des Zufallsvorgangs in der Wirklichkeit entsprechen, darüber macht | ||
die Wahrscheinlichkeitstheorie keine Aussagen. | ||
|
||
Die Wahrscheinlichkeitstheorie selbst bedient sich dabei der mathematischen | ||
Theorie der Mengen und Funktionen. Spätestens seit @kolmogoroff1933 herrscht | ||
dabei ein axiomatischer Zugang vor: Man fragt in der Wahrscheinlichkeitstheorie | ||
selbst nicht, was denn eine Wahrscheinlichkeit sei oder inwieweit die Vorhersagen | ||
der Wahrscheinlichkeitstheorie mit der Wirklichkeit übereinstimmen, sondern | ||
versucht ein in sich schlüssiges formal-mathematisches System von unbegründeten, | ||
aber intuitiv plausiblen, Grundannahmen und ihren Folgerungen zu entwickeln. | ||
Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist das *Wahrscheinlichkeitsraummodell* eines | ||
Zufallsvorgangs, das wir in @sec-wahrscheinlichkeitsraeume einführen werden. | ||
In der Tat gibt es neben dem formal-mathematischen System der | ||
Wahrscheinlichkeitstheorie bis heute mathematisch-philosophische Diskussionen darüber, | ||
was genau denn unter dem Begriff der "Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses" zu | ||
verstehen ist (vgl. @hajek2019). Dabei sind grob gesagt zwei etwas gegensätzliche | ||
Interpretationen vorherrschend, die sogenannte *Frequentistische Interpretation* | ||
und die sogenannte *Bayesianische Interpretation*. | ||
|
||
Nach der *Frequentistischen Interpretation* ist die Wahrscheinlichkeit eines | ||
Ereignisses die idealisierte relative Häufigkeit, mit der ein Ereignis unter | ||
den gleichen äußeren Bedingungen einzutreten pflegt. Zum Beispiel ist die | ||
Frequentistische Interpretation der Aussage "Mit einer Wahrscheinlichkeit von | ||
1/6 zeigt der Würfel im nächsten Wurf eine 2" die folgende: "Wenn man einen Würfel | ||
unendlich oft werfen würde und dabei die relative Häufigkeit des Ereignisses, dass | ||
der Würfel eine 2 zeigt, bestimmen würde, dann wäre diese relative Häufigkeit | ||
gleich 1/6". Man beachte bei dieser Interpretation, dass man de-facto die | ||
Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses nicht empirisch bestimmen kann, da man | ||
einen Würfel nicht unendlich oft werfen kann. Natürlich kann man die | ||
Wahrscheinlichkeit in dieser Interpretation aber empirisch schätzen. | ||
Schätzvorgänge selbst wiederrum sind allerdings kein Teil der Wahrscheinlichkeitstheorie, | ||
sondern der *Frequentistischen* oder *Bayesianischen Inferenz*. | ||
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||
Nach der *Bayesianischen Interpretation* ist die Wahrscheinlichkeit eines | ||
Ereignisses der Grad der Sicherheit, den eine Beobachter:in aufgrund ihrer | ||
subjektiven Einschätzung der Lage dem Eintreten des Ereignisses $A$ zumisst. | ||
Zum Beispiel ist die Bayesianische Interpretation der Aussage "Mit einer | ||
Wahrscheinlichkeit von 1/6 zeigt der Würfel im nächsten Wurf eine Zwei" dann etwa die | ||
folgende: "Basierend auf meiner eigenen und der tradierten Erfahrung mit dem | ||
Werfen eines Würfels bin ich mir zu 16.6% sicher, dass der Würfel beim nächsten | ||
Wurf eine Zwei zeigt." | ||
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In Modellen von tatsächlich zumindest unter ähnlichen Umständen wiederholbaren | ||
Zufallsvorgängen wie dem Werfen eines Würfels ist der Unterschied zwischen | ||
Frequentistischer und Bayesianischer Interpretation oft eher subtil. Es gibt | ||
aber wie oben angedeutet viele Zufallsvorgänge, die mit Wahrscheinlichkeiten | ||
beschrieben werden können, bei denen aufgrund ihrer Einmaligkeit eine | ||
Frequentistische Interpretation nicht angemessen ist. Zum Beispiel machen | ||
Aussagen der Form "Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die weltweiten Hitzerekorde | ||
im Jahr 2023 nicht auf den Klimawandel zurückzuführen sind, ist kleiner als 0.01" (vgl. | ||
@philip2020) nur unter der Bayesianischen Interpretation Sinn, da es sich bei den | ||
Wetteraufzeichnungen des Jahres 2023 um ein einmaliges, nicht wiederholbares Ereignis handelt. | ||
|
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Obwohl also die Interpretation des Begriffes der Wahrscheinlichkeit durchaus | ||
nicht eindeutig ist, unterscheiden sich die formalen Definitionen und Rechenregeln | ||
für Wahrscheinlichkeiten nicht. Sowohl die Frequentistische als auch die | ||
Bayesianische Inferenz, auf die wir an späterer Stelle eingehen, haben mit der | ||
Wahrscheinlichkeitstheorie also ein identisches mathematisches Bezugssystem | ||
und gemeinsames Fundament. |