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Für Helmut Schmidt ist alles nur eine Frage der Zeit. Ostern, so prophezeit der Altkanzler, sei die Sache gelaufen: »Wenn die Menschen ihre Miete, ihren Rotwein, ihren Tabak mit Euro bezahlen, sich an das Geld gewöhnt haben, dann werden sie merken, dass sich für sie nichts verändert.« Auch Helmut Kohl glaubt fest an Europa einig Euroland. Die neue Währung sei »eine phantastische Sache«, sagte er, durch sie sei »die europäische Einigung irreversibel geworden«. Und selbst Kanzler Gerhard Schröder, der den Euro einst als »kränkelnde Frühgeburt« attackierte, gibt sich inzwischen ganz Euro-phil: »Die wirtschaftliche Kraft hinter dieser Währung ist einfach riesig.« An der Stabilität des neuen Geldes könne »überhaupt nicht gezweifelt werden«. Der Euro kommt - und alles wird gut? Schlag Mitternacht werden an Silvester Finanzminister Hans Eichel, Bundesbankpräsident Ernst Welteke und Dresdner-Bank-Chef Bernd Fahrholz am Brandenburger Tor die neuen Scheine verteilen. Punkt 0.00 Uhr kann die neue Währung aus den Geldautomaten gezogen werden. Nicht alle sollten gleich in den ersten Minuten versuchen, sich mit den bunten Scheinen einzudecken, mahnt Welteke. Vor zwei Jahren feierten die Menschen an Silvester den Beginn eines neuen Millenniums - aber das war eine rein kalendarische Zäsur. Diesmal beginnt mit dem neuen Jahr tatsächlich ein neues Zeitalter - die Ära des Euro. Zum ersten Mal ist am Neujahrstag die neue Währung greif- und fühlbar, bisher war sie eine künstliche Größe, die es seit drei Jahren nur als Buchgeld gab, als Recheneinheit für Börsenkurse, Bankgeschäfte und Firmenverträge. Je näher der E-Day rückte, desto mehr Menschen ließen sich von der Begeisterung für das Neue, das Abenteuer anstecken - und desto mehr verflüchtigte sich die Skepsis, ja Angst, die sie dem neuen Geld anfangs entgegenbrachten. Vergessen scheint plötzlich, dass die neue Währung der Bevölkerung von oben aufgedrängt wurde, gegen den Willen der Mehrheit. Führende Ökonomen des Landes haben den Euro jahrelang bekämpft, sie haben Memoranden verfasst und sogar das Bundesverfassungsgericht angerufen. Und dann kommt der Euro - und alle jubeln? Die Ausgabe der Starter Kits, einer Art Euro-Münzenprobepackung, geriet vielerorts zur vorgezogenen Silvestersause mit Musik, Feuerwerk und guter Laune. Schon um Mitternacht wollten in Frankfurt Tausende trotz klirrender Kälte ihre ersten Euro-Münzen entgegennehmen - »in euphorischer Partystimmung«, wie Bundesbankpräsident Welteke schwärmte. Dass die ersten Münzen in vielen Ländern Begeisterung auslösten, war erwartet worden. Aber dass sich die Deutschen von der Euphorie anstecken ließen, überraschte. »Jeder will den Euro, und zwar sofort«, meldete die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« verwundert. Jahrelang galten die Bürger im größten Mitgliedsland der EU als die schlimmsten Euro-Skeptiker. Immer wieder erbrachten die Umfragen der EU-Kommission das gleiche Bild: Während in Luxemburg, Italien, Frankreich, Belgien oder Holland die Mehrzahl der Bürger das Einheitsgeld befürwortete, überwogen in Deutschland die Neinsager. Die Deutschen hängen wie keine andere Nation an ihrer Währung. Die Mark galt immer als die beste und härteste Währung des Kontinents. Warum sollte man das gute Geld hergeben? Dass der Abschied nun offensichtlich leichter fällt als erwartet, erklärt der Kölner Wirtschaftsprofessor Günter Wiswede mit der »Reduktion kognitiver Dissonanz«, der Lösung innerer Widersprüche: Eigentlich überwiegt die Skepsis weiter, aber da sich das Neue nicht mehr abwenden lässt, versuchen die Deutschen das Beste daraus zu machen - sie feiern mit. Die Deutschen, so scheint es, haben sich mit dem Unvermeidlichen abgefunden. Was bleibt ihnen auch anderes übrig? Rund 15 Milliarden Scheine, eine Papierschlange, die fünfmal von der Erde bis zum Mond reicht, und 52 Milliarden Münzen, so schwer wie 10 000 Eisenbahnwaggons, werden in den nächsten Tagen in ganz Europa unters Volk gebracht: eine logistische Glanzleistung ohne Beispiel. In 16 Ländern, den 12 Währungsunion-Staaten plus Andorra, Monaco, Vatikan und San Marino, wird der Euro zum gesetzlichen Zahlungsmittel. Selbst in der Schweiz wollen Hoteliers und Gastronomen die neuen Noten und Münzen akzeptieren. Schon hat das kontinentale Geld den Yen als zweitwichtigste Weltwährung überflügelt. Der Euro wird zur neuen Geldmacht. »In relativ kurzer Zeit«, so prophezeit Finanzminister Eichel, dürften die bunten Scheine und die Münzen auch in vielen anderen Ländern, die gar nicht dem Euro-Club angehören, zur zweiten, wenn nicht gar zur einzigen richtig akzeptierten Währung aufsteigen (siehe SPIEGEL-Gespräch Seite 41). Auf dem Balkan. In Osteuropa. Und selbst in Großbritannien. Eine gemeinsame Währung in Europa - das ist das größte ökonomische Experiment aller Zeiten. Seltsam allerdings, dass kaum jemand von den Risiken dieses Experiments spricht. Dass alle nur betonen, wie schön es ist, in ganz Europa mit gleichen Scheinen und gleicher Münze zu bezahlen. Und keiner mehr fragt, ob in Euroland die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine einzige Währung überhaupt gegeben sind. Hart wie die Mark, stark wie der Dollar sollte die neue Währung werden, so hatten es die Politiker von Anfang an versprochen. Der Euro sollte zum Zeichen des Aufschwungs werden, der Wohlstand für 300 Millionen Menschen bringt, der Wachstum und neue Jobs schafft. Bisher zumindest kam es anders: Der Euro verlor gegenüber der amerikanischen Währung rund ein Viertel seines Wertes - er wurde weich. Und das blieb er bis heute, trotz aller Beteuerungen der Politiker, die eine Umkehr des Trends versprachen. Und von Aufbruch und neuem Wohlstand kann ohnehin keine Rede sein: Die ökonomische Realität ist weltweit trist - und in Europa und Deutschland besonders. Der Zeitpunkt für diesen letzten, finalen Akt der Währungsunion - den Austausch der Scheine und Münzen - hätte kaum ungünstiger ausfallen können. Fast täglich kündigen die großen Konzerne neue Stellenstreichungen an, fast wöchentlich korrigieren die Forscher ihre Wachstumsprognosen nach unten. Und nun kommt, inmitten dieser turbulenten Zeit, auch noch das fremde, unbekannte Geld. Nach wie vor gilt: Der Euro kann dafür sorgen, dass Europas Ökonomie wettbewerbsfähiger wird. Dass die Regierungen endlich die nötigen Strukturreformen anpacken. Dass ein boomender Wirtschaftsraum entsteht, der den USA Paroli bietet. Wenn alles glatt geht. Ebenso groß aber sind die Risiken, gerade in diesen Zeiten. Denn der Euro trifft auf eine Wirtschaft, die schon jetzt nur mäßig wächst, alles in allem mit mickrigen 1,2 Prozent. Und zumindest kurzfristig, fürchten Ökonomen, könnte die Einführung der neuen Scheine und Münzen diesen Abschwung noch verschärfen. Gut möglich, dass die Verbraucher erst mal ihren Konsum einschränken, weil sie sich nur mühsam an das unbekannte Geld und seinen Wert gewöhnen und allergisch auf die versteckten Preissteigerungen reagieren. Gut möglich auch, dass die Unternehmen nur zögerlich in neue Fabriken und Anlagen investieren, weil sie erst mal abwarten, wie die ökonomische Welt sich verändert. Viele Bürger werden den Euro »als Sündenbock für all das nehmen, was in Familie und Beruf schief geht - unabhängig von seinen realen Stärken«, glaubt der Kölner Finanzwissenschaftler Klaus Mackscheidt. Die Politik habe keine Ahnung, welches »Grollpotenzial in der Bevölkerung vorhanden ist und welche Ängste in den Euro hineinprojiziert« würden. Zu alledem gerät jetzt auch noch das Fundament der Währungsunion ins Rutschen. Als habe es den Vertrag von Maastricht und den ergänzenden Stabilitätspakt, der für ausgeglichene Haushalte sorgen soll, nie gegeben, steigen vielerorts die Staatsschulden. Politik auf Kredit, lange verpönt, kommt wieder in Mode. Ausgerechnet Deutschland, der Stabilitätsweltmeister von einst, hat sich zum Europameister der Instabilität entwickelt: Letzter beim Wachstum, Letzter beim Schuldenabbau - noch hinter den angeblich so zügellosen Mittelmeerstaaten des »Club Med«. Gefährlich nahe dürfte das deutsche Defizit im Jahr 2002 der Dreiprozentgrenze kommen, die in Maastricht einst als Eintrittskriterium für die Währungsunion festgelegt wurde. Und es scheint kein Weg aus dem Dilemma herauszuführen: Die Wirtschaft schrumpft, die Arbeitslosigkeit steigt, ständig tauchen neue Milliardenlöcher auf: im Verteidigungsetat, in der Krankenkasse, bei der Bundesanstalt für Arbeit. Will Deutschland dennoch das Dreiprozentlimit einhalten, müssen Hans Eichel und seine Kollegen in den Bundesländern in den kommenden Monaten entweder die Steuern und Abgaben erhöhen oder drastische Einsparungen vornehmen; beides würgt, zumindest kurzfristig, die Konjunktur weiter ab. Lassen Eichel und Co. die Schulden hingegen munter laufen, dürfte dies Anleger und Investoren verschrecken und den Wechselkurs der Gemeinschaftswährung noch weiter nach unten treiben - Deutschland steckt in der Euro-Falle. Das ist Sprengstoff im beginnenden Wahlkampf: »Als größte europäische Kraft hat Deutschland das Zeug dazu, den Euro stark zu machen«, schimpft CSU-Chef Edmund Stoiber. Aber: »Dafür muss Deutschland weg vom letzten Platz in Europa«, die Regierung müsse mehr für Wachstum und Arbeitsplätze tun. Doch davon ist derzeit wenig zu spüren. Stattdessen verführt das schlechte Beispiel der Deutschen auch andere Staaten wieder zum bequemen Leben auf Pump. Italien und Frankreich überschritten im abgelaufenen Jahr deutlich die selbst gesteckten Etatziele; und sie werden es 2002 wieder tun. Schon ist in Europa eine Debatte darüber entbrannt, ob die Sparvorgaben, die die Staaten sich einst auferlegt haben, nicht viel zu kleinlich geraten sind. Hans Eichel empfindet den Stabilitätspakt inzwischen als ein Korsett, das zwei Nummern zu eng ist. Im Sommer zettelte er deswegen eine öffentliche Diskussion an. Auch Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi plädiert ganz ungeniert für eine »Überarbeitung« des lästigen Paktes - und für eine »Fristverlängerung« beim Schuldenabbau. Frankreichs Regierung sind die strengen Sparvorgaben ebenfalls seit langem ein Dorn im Auge. Der Euro, so lautete einst das Versprechen, sollte nichts anderes sein als eine Mark im anderen Gewand. Gesunde Staatsfinanzen, kombiniert mit dem Versprechen, die Notenbanken nicht mehr als Geldpresse der Finanzminister zu missbrauchen, sollten dafür sorgen, dass der Euro so hart wird wie die Mark. Und die Preise so stabil bleiben wie bisher. Deshalb wurde das Statut der Europäischen Zentralbank (EZB) nach dem Vorbild des Bundesbankgesetzes gezimmert - nur noch ein bisschen strenger. Deshalb beharrte die Bundesregierung darauf, die EZB, genauso wie die Bundesbank, in Frankfurt anzusiedeln. Und deshalb pochte Bonn auch auf strenge Auswahlkriterien für die Währungsunion. Schließlich fällt kaum einem Volk der Abschied vom eigenen Geld derart schwer wie den Deutschen. Die Mark war für sie mehr als nur Zahlungsmittel. Sie war ein Symbol des Wirtschaftswunders - und ein Maßstab für Verlässlichkeit und Beständigkeit, Leistung, Fleiß und Ordnung. Anders als etwa Franzosen oder Italiener, die ihre nationale Identität über »Gloire«, Kultur und Geschichte, herausgebildet haben, definierten sich die Nachkriegsdeutschen über den politischökonomischen Erfolg. Eine eher nüchterne Angelegenheit, aber die Mark diente als Erkennungslogo für die Nation. Und jetzt soll das geld- und ordnungsfixierte Volk dafür ausgerechnet den Euro in die Hand bekommen, eine Währungseinheit, der eine klar strukturierte Staatsordnung fehlt, hinter der sich ein unübersichtliches Vielvölkergemisch verbirgt, das sich Europäische Union nennt? Die vertraute Bundesbank hat nichts mehr zu sagen. Stattdessen soll nun die EZB und ihr Präsident Wim Duisenberg, ein niederländischer Professor mit schlohweißen Haaren (siehe Kasten Seite 30), für die Stabilität des Geldes sorgen. Ob das gut geht? Trotz der Partystimmung rund um die Euro-Einführung: Immer noch lehnen die Hälfte aller Bundesbürger die neue Währung ab. Ganz besonders groß ist die Euro-Phobie in Ostdeutschland. Viele ehemalige DDR-Bürger befürchten, erzählt der thüringische Ministerpräsident Bernhard Vogel (CDU), »dass sich wiederholt, was sie 1990 erlebt haben. Denn wieder wird das Geld ungefähr im Verhältnis eins zu zwei getauscht«. Damals brach die DDR-Wirtschaft zusammen, die Sparvermögen wurden entwertet. Heute verliert, zumindest rechnerisch, niemand etwas. Doch hartnäckig hält sich die Furcht, der Euro könnte sich als Preistreiber entpuppen, der Handel die Umstellung zu Aufschlägen nutzen. Seit Monaten warnen Verbraucherverbände vor dem »ungenierten Griff ins Portemonnaie der Kunden«. Und tatsächlich erhärteten einige Studien anfangs diesen bösen Verdacht. So fand das Institut für angewandte Verbraucherforschung aus Köln heraus, dass Produkte, die bereits im Frühjahr auf Euro-Basis ausgezeichnet wurden, um stolze 4,4 Prozent teurer wurden. Jeder kennt Beispiele dramatischer Preiserhöhungen: ob beim Bier in der Kneipe oder bei den Brötchen in der Bäckerei. Die »Bild«-Zeitung rechnete ihren Lesern haarklein vor, dass der Euro »alles teurer« macht. In einem Fliesenmarkt in Berlin koste die Wandfliese »Tilly« nun 50,2 Prozent mehr als üblich, und der Einliterbeutel Zierfischflockenfutter sei 12,5 Prozent teurer. Auch bei H-Milch, Schokolade und anderen Produkten, die bisher zu »Schwellenpreisen« wie 99 Pfennig zu haben waren, beobachtet das Statistische Bundesamt einen Preisschub. Und Hamburgs öffentliche Bedürfnisanstalten werden wohl um 100 Prozent teurer, weil es für das bisher verlangte 50-Pfennig-Stück kein Äquivalent gibt: Künftig muss der Benutzer ein 50-Cent-Stück einwerfen. Das europaweite Geld erhöht allerdings auch den Wettbewerbsdruck. Viele Aufschläge konnte der Handel nicht auf Dauer durchhalten, andere Waren wurden sogar billiger. Und so ist die Inflationsrate in Deutschland auf 1,7 Prozent gesunken - sie liegt damit deutlich niedriger als im Durchschnitt der D-Mark-Zeit Doch die Skepsis der Menschen bleibt. Sogar beim mitternächtlichen Starter-Kit-Spektakel in Frankfurt applaudierten die Besucher einem Kabarettisten, der permanent vom »Teuro« sprach. An die alten Mark-Scheine hatten sich die Deutschen schließlich gewöhnt, das Gefühl des Papiers, der silberne Faden, die Gesichter der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff (20 Mark) und der Musikerin Clara Schumann (100 Mark) - alles bekannt, alles vertraut. Und nun kommen die Scheine, die noch niemand gefühlt, niemand gesehen hat. Sie zeigen Symbole statt Köpfe: Brücken, Bögen, Fenster, damit es keinen Streit über nationale Vorbilder und Eigenheiten gibt. Jedes Land erhält zudem seine eigenen Münzen. Die Bundesrepublik wählte auf der Rückseite das Brandenburger Tor, den Bundesadler und das Eichenlaub; auf dem Rand der Zwei-Euro-Münze ist »Einigkeit und Recht und Freiheit« eingraviert. Doch schon bald werden fremde Münzen in deutsche Portemonnaies wandern: der Schwan aus Finnland, Botticellis Venus aus Italien, der belgische und der spanische König. Und auch der Papst. Besonders die Automatenindustrie stellt das vor immense technische Probleme: Die 2,4 Millionen Automaten in Deutschland müssen sämtliche Euro-Münzen erkennen, auch ausländische. Schon vor Monaten begannen deshalb die Betreiber von Getränke-, Zigaretten- und Spielautomaten, ihre Geräte umzurüsten. Einfach ist dies bei modernen Geräten: Dort musste nur eine zusätzliche Software eingespielt werden, die die Münzen auf Echtheit testet. In der Regel akzeptieren diese Automaten nun Euro und Mark. Aufwendiger ist die Prozedur bei alten mechanischen Geräten. Hier müssen die Firmen oft nicht nur den Münzprüfer austauschen, sondern auch Einwurfschlitze, Röhren und Geldscheineinzüge. Deshalb werden einige Verkehrsbetriebe erst nur die Hälfte der Fahrkartenschalter umrüsten, damit die Kunden in den nächsten Wochen weiter mit der Mark bezahlen können. In Berlin will die BVG zudem 400 Sonderverkäufer mit Bauchladen auf die U-Bahnsteige schicken. Bis Ende Februar gilt noch die Doppelwährungsphase. Im Handel kann mit altem Geld bezahlt werden, er gibt aber mit neuem heraus. In dieser Zeit müssen Geschäfte und Banken etwa sechs- bis achtmal so viel Bargeld wie üblich vorhalten, denn sie können die hereinkommenden Markstücke nicht mehr als Wechselgeld benutzen. Ein Chaos könnte die Folge sein. Das jedenfalls sagt Einzelhandelsspezialist Arnd Huchzermeier voraus, der die Kassenbewegungen der kritischen ersten Tage des Euro im Einzelhandel simuliert hat. Vor allem bei den Noten dürfte zudem die Angst vor Fälschungen für Unruhe sorgen. Fachleute versichern zwar, der Euro sei schwieriger zu kopieren als viele alte Währungen - trotzdem rechnet die Polizei mit einer Flut von Blüten. Pünktlich zum Umtauschtermin hat das Bundeskriminalamt registriert, dass auch deutlich mehr gefälschtes Altgeld in Umlauf ist. Denn die Kassierer in Banken und Geschäften richten ihr Augenmerk mehr auf die neuen Scheine - und weniger auf die scheinbar vertraute Mark, die nun aus den Portemonnaies verschwindet. Es ist, keine Frage, für die Deutschen ein Abschied mit Schwierigkeiten. Auch Theo Waigel, der Mann, der dem Euro später seinen Namen gab, wusste um diese Ängste. Auch er hat deswegen lange gezögert, seinen Landsleuten ihre lieb gewonnene Mark wegzunehmen. Noch lebhaft erinnert sich der CSU-Politiker heute an den 21. April 1989, seinen ersten Arbeitstag als Bundesfinanzminister in Bonn. In seinem Amtszimmer in der Graurheindorfer Straße packte ihm der damalige Staatssekretär und spätere Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer ein dickes Konvolut auf den Schreibtisch: »Lesen Sie mal!« Es war der noch unveröffentlichte Delors-Bericht, in dem eine Expertengruppe unter Vorsitz des damaligen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors detailliert beschrieb, wann und wie Europa eine eigene Währung einführen könnte. Irritiert las Waigel das dicke Werk: »Theodor, habe ich danach zu mir gesagt, das machst du nicht.« Er machte es dann doch. Kohl drängte, weil er auf die Einheit erpicht war, die Franzosen drängten, weil sie die Bundesbank abschaffen wollten, und auch Waigel stellte bald seine ökonomischen Bedenken zurück, weil ihn die Idee eines vereinten Europas überzeugte, die Vorstellung, dass die neue Währung auch ein Stück Frieden schaffen könnte. Wenn Waigel heute seinen Kampf für den Euro erklärt, dann erzählt er meist auch die Geschichte vom »Ochsen-Sepp«, von jenem Josef Müller, der zusammen mit dem evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer im Konzentrationslager Flossenbürg einsaß und später die CSU gründete. Müller hatte schon 1946 erkannt: »Wir brauchen eine gemeinsame Währung, weil Länder mit einer gemeinsamen Währung niemals Krieg gegeneinander führen.« Heute ist es für Theo Waigel gleichwohl »ein kleines Wunder, dass der Euro Realität wird«. Denn aus München schossen seine CSU-Rivalen Edmund Stoiber und Peter Gauweiler quer ("Esperanto-Geld"). Die Medien sparten nicht mit Kritik, die Bevölkerung lehnte das waghalsige Projekt mehrheitlich ab. Hart bis aufs Messer waren zudem die Verhandlungen, die der Finanzminister in Europa durchstehen musste. Selbst das Gezerre um den Namen der Währung auf dem Gipfel 1995 in Madrid ging bis tief in die Nacht. Thaler, Franken, Mark - alles schien denkbar. Bloß nicht Ecu, das hörte sich für Waigel zu technisch an. Am Ende warf er den Vorschlag Euro in die Runde. Klingt nicht sonderlich erotisch, entgegnete Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker. »Nein, aber es klingt eurotisch«, konterte Waigel. Der Euro hatte seine Namen. Tatsächlich war der Weg hin zu dieser gemeinsamen Währung keineswegs geradlinig. Von Anfang an war es eine typisch europäische Geschichte, mit Intrigen und Verschwörungsgerüchten, dramatischen Nachtsitzungen, Rückschlägen und Erfolgen, Egoismus und Enthusiasmus. Geprägt war sie nicht nur von Verheißungen wirtschaftlicher Prosperität, stets ging es auch darum, durch wirtschaftliche Entscheidungen politische Fakten zu schaffen. Erstmals tauchte die konkrete Idee Ende der sechziger Jahre auf, als das globale System fester Wechselkurse, das 1944 im amerikanischen Bretton Woods installiert worden war, in Schwierigkeiten geriet. Damals regte die EU-Kommission an, Europa solle einen eigenen Stabilitätsraum schaffen, der unabhängig ist von Kurskapriolen. 1970 legte eine Expertengruppe unter Führung des luxemburgischen Ministerpräsidenten Pierre Werner einen Reißbrettentwurf vor, der schon alle Elemente des Maastrichter Vertrags enthielt, inklusive eines Stufenmodells: Das Europa-Geld sollte schrittweise bis 1980 Wirklichkeit werden. Die Grundidee, die hinter diesen Plänen steckte, war keineswegs so verrückt, wie sie klang. Und auch nicht so neu: Währungsunionen gab es in der Geschichte des Kontinents immer wieder. Schon Karl der Große schuf für sein Imperium, das von der Nordsee bis nach Rom reichte, eine einheitliche Münze: den karolingischen Denar. Im Mittelalter schlossen sich deutsche Fürstentümer und Städte immer wieder zu Währungsverbunden zusammen, die teils viele Jahrzehnte hielten. Die vorerst letzte große Geldgemeinschaft in Europa entstand 1865, als sich Frankreich, Italien, Belgien und die Schweiz zur Lateinischen Münzunion zusammenschlossen. Der Franc wurde dadurch zeitweise zu einer Weltwährung - bis die Union im Gefolge des ersten Weltkriegs zerfiel. Auch der Werner-Plan versandete, noch ehe er umgesetzt werden konnte. Selbst die kleine Lösung, eine eher lose »Währungsschlange« mit stabilen Wechselkursen, die der französische Präsident Valéry Giscard d'Estaing und Helmut Schmidt daraufhin etablierten, hielt nicht lange. Die Schlange zerbrach 1976 nach der Ölkrise. Nur ein Jahr später unternahm die EU den zweiten Versuch. Zunächst heimlich versuchten Giscard und Schmidt, ein Europäisches Währungssystem (EWS) auszuhandeln, in dem die Kurse sich nur innerhalb geringer Bandbreiten bewegen durften. 1979 wurde es Realität und hielt de facto 13 Jahre. Ständige Auf- und Abwertungen zeugten von der Instabilität des Systems, nahezu alle Währungen verloren an Wert - nur die Mark blieb hart. Und so brach auch das EWS schließlich 1992 unter dem Sturm der Spekulanten zusammen. Die italienische Lira und das britische Pfund stürzten ab. Längst hatte damals der dritte Euro-Anlauf »den Bahnhof verlassen, getrieben von einer Mordsschubkraft«, wie es Helmut Kohl nach dem EU-Gipfel 1988 in Hannover formulierte. Die Staats- und Regierungschefs hatten dort den Delors-Bericht in Auftrag gegeben, das Papier lag dann ein Jahr später schon vor. Den eigentlichen Schub erhielt das Euro-Projekt nach dem Mauerfall. Da sah Kohl plötzlich die Chance, als Kanzler der Einheit in die Geschichtsbücher einzugehen. Dazu brauchte er die Unterstützung seines Freundes François Mitterrand, der wiederum besessen war von der Idee, ein wieder vereinigtes Deutschland nur hinzunehmen, wenn es fest in Europa eingebunden ist - am besten durch die schnelle Aufgabe der Mark, mit der die Bundesbank die Zinsen in ganz Europa diktierte. Doch Helmut Kohl sträubte sich lange gegen jede Eile, stattdessen hielt er an der so genannten Krönungstheorie fest. Erst ganz zum Schluss des europäischen Einigungsprozesses dürfe die Währung eingeführt werden - als letztes Element. Noch kurz vor dem entscheidenden Gipfel 1991 in Maastricht gelobte er, die politische Union Europas sei für ihn die unabdingbare Voraussetzung, ansonsten gebe er die Mark nicht auf. Und wenn die anderen Länder dies nicht wollen? »Dann gibt es Krach. Krach erfrischt«, sagte Kohl. Es kam anders - zur großen Enttäuschung der Bundesbank. Europa werde nun eine »Inflationsgemeinschaft«, schimpften die Notenbanker. Im Sommer 1995 war Hans Tietmeyer sogar bereit, den offenen Affront mit dem Kanzler und dessen Finanzminister zu wagen. Die Bank wollte öffentlich eine Nachbesserung des Maastricht-Vertrages fordern. So kam die Stunde des Jürgen Stark. Der forsche Finanzstaatssekretär, der sich mit der Floskel »Stark, wie die Mark« vorzustellen pflegte, nahm Tietmeyer den Schneid. Gemeinsam mit Waigel zwang er den Europäern den Stabilitätspakt auf. Dieses Regelwerk verpflichtet die Euro-Staaten zu einer soliden Haushaltsführung, es verbietet exzessive Defizite von mehr als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der damalige Kommissionspräsident Jacques Santer bezeichnete die Milliardenbußgelder, die bei Zuwiderhandlungen drohen, als »politische Atombombe«; sie dienten der Abschreckung, dürften aber niemals gezündet werden. Doch ausgerechnet die stabilitätsbeflissenen Deutschen wären beinahe an dieser Hürde gescheitert. 1997, im entscheidenden Jahr für die Auswahl der Euro-Länder, sah es so aus, als könne Waigel ("3,0 ist 3,0 ist 3,0") das Kriterium nicht einhalten. Der Euro ohne Deutschland? Undenkbar. In einem gewagten Coup versuchte Waigel, sich am Goldschatz der Bundesbank zu bereichern - doch ohne Erfolg. Um sich für Maastricht gesundzurechnen, griffen auch andere Staaten mächtig in die Trickkiste. Neue Steuern wurden erfunden, statistische Formeln geändert. Selbst vor dem Handel mit Derivaten, also riskanten Börsengeschäften, schreckten einige Regierungen nicht zurück. Es war die Zeit des eisernen Sparens - und vor allem der kreativen Buchführung. Elf Länder wurden 1998 schließlich in die Währungsunion aufgenommen; Griechenland folgte drei Jahre später. Dass nur drei dieser Staaten alle Maastricht-Kriterien erfüllten, störte die Politiker dabei wenig. Tatsächlich zwangen sie zwölf Volkswirtschaften in einen Verbund, die - rein ökonomisch betrachtet - niemals hätten zusammengeführt werden dürfen. Zu groß sind die Unterschiede zwischen dem erstarrten Deutschland und dem dynamischen Irland, zu sehr differieren die Strukturen im armen Portugal und in den reichen Niederlanden. Vor allem aber fehlt in diesem heterogenen Währungsraum ein Ausgleichsmechanismus, der verhindert, dass ökonomische Krisen von einem Land auf andere Länder übergreifen. Schließlich entfällt künftig der Wechselkurspuffer - und irgendetwas muss an seine Stelle treten. Was genau, das hat der kanadische Nobelpreisträger Robert Mundell, 69, bereits 1961 in einem bahnbrechenden Aufsatz über die »Theorie des optimalen Währungsraums« definiert. Demnach ist vor allem dreierlei erforderlich: * Erstens müssen die Arbeitskräfte in allen Ländern mobil und notfalls bereit sein, in eine andere Region zu ziehen. * Zweitens müssen die Preise und Löhne flexibel sein. * Und drittens muss ein effizientes Transfersystem vorhanden sein, um vorübergehend öffentliche Mittel in die geschwächten Regionen zu pumpen. Keine dieser Bedingungen ist in Europa erfüllt. Und doch zählt Mundell heute zu den glühendsten Verfechtern der gemeinsamen Währung. Bereits im Jahr 2010 rechnet er »mit bis zu 50 Ländern«, die den Euro benutzen. Wie passt das zu seiner Theorie? Ganz einfach, sagt Mundell. Natürlich sei die Euro-Zone kein optimaler Währungsraum. Aber: Der Euro werde erzwingen, dass sie ein solch perfekter Raum werde. Das gemeinsame Geld werde die Regierungen zu tief greifenden Reformen bewegen, zu Deregulierung und Schuldenabbau. Und anfangs schien dieses Konzept ja auch zu funktionieren: Da legten sich vor allem die kleinen Länder mächtig ins Zeug, um die Maastricht-Kriterien zu erreichen. Da sanierten Iren, Niederländer oder Finnen ihre Staatshaushalte, förderten die Teilzeitarbeit oder reformierten die Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Irland wuchs plötzlich mit zehn Prozent. Finnland, die Heimat von Nokia, vermeldete ein Plus von bis zu sechs Prozent. Selbst Deutschland und Frankreich, die beiden Schwergewichte der Währungszone, brachten es im Boomjahr 2000 auf immerhin rund drei Prozent Wachstum. Die Franzosen trennten sich von vielen Staatsbetrieben, auch die Bundesrepublik begann sich unter der schwarz-gelben Koalition bei Post und Telekom zurückzuziehen und senkte unter der rot-grünen die Steuern. Selbst die Mitglieder des »Club Med« zeigten zeitweise einen erstaunlichen Stabilitätswillen. Ausgeglichene Haushalte in Spanien? Vor fünf Jahren undenkbar, heute Realität. Drei Prozent Inflation in Griechenland? Früher unvorstellbar. Und so schien ein neues, wirtschaftspolitisches Denken in Europa Einzug zu halten - weniger Staat, mehr Markt. Es waren vor allem die Banken und Konzerne, die Auto- und Maschinenbauer, die Großchemie und die jungen Hightech-Firmen, die seit 1999 massiv von diesem Gesinnungswandel profitierten. Schon wenige Monate nachdem die EU-Regierungen die Kurse der Währungen fest miteinander verknüpft hatten, verschwanden Mark und Franc, Lira und Pesete aus ihren Büchern. Bereits seit 1999 heißt die Hauswährung bei DaimlerChrysler Euro. Allein der Autokonzern spart, wie Finanzchef Manfred Gentz vorrechnet, rund hundert Millionen Mark im Jahr, die früher für Umtauschgebühren und die Absicherung gegen Währungsschwankungen anfielen. In Vor-Euro-Zeiten litten die Konzerne immer wieder unter den abrupten, ökonomisch meist durch nichts begründeten Bewegungen zwischen den Währungen. Die Unternehmen profitieren zudem vom neuen Finanzmarkt, der im Gefolge des Euro entstand, von den neuen Wachstumsbörsen und vom weltgrößten Emissionsmarkt für Anleihen. Euro-Anleihen sind seit 1999 zu einer bedeutenden Größe im Weltfinanzsystem geworden. Gerade kapitalkräftige Konzerne können sich dadurch weitaus billiger als zuvor mit Fremdkapital eindecken - und so neue Fabriken und riesige Fusionen finanzieren. »Brave New Europe«, titelte vor drei Jahren das US-Magazin »Fortune«, als die Einführung des Euro unmittelbar bevorstand. Tapferes, neues Europa. Auch die Staats- und Regierungschefs ließen sich von der Euphorie anstecken: Europa werde im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zum dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt aufsteigen, noch vor den USA, verkündeten sie auf dem Frühjahrsgipfel 2000 in Lissabon. Die Chance bestand durchaus. Was indes fehlte, war der politische Wille, den hehren Versprechungen auch in schwierigen Zeiten Taten folgen zu lassen. Und so platzten die Träume vom europäischen Wirtschaftswunder ähnlich schnell wie die Börsenblase. Sparen für Europa? Nicht jetzt. Harte Reformen? Später. Vehement stemmt sich Kanzler Schröder gegen eine Lockerung der Arbeitsmarktregeln. Massiv blockieren der französische Premier Lionel Jospin und Präsident Jacques Chirac alle Versuche, den Energiemarkt zu liberalisieren. Und abgesehen von Deutschland trauen sich auch nur wenige Länder an eine Reform der Alterssicherungssysteme heran. In Brüssel herrscht derzeit ebenfalls Stillstand, weil der Nationalismus regiert: Eine EU-weite Zinssteuer ist mit Luxemburg und Österreich nicht zu machen. Gemeinsame Regeln für Firmenfusionen sind an Deutschland gescheitert. Ein einheitliches Patentrecht wurde von Spanien gestoppt. Wo so wenig vorankommt, bleibt nur eines in Bewegung: der Euro selbst. Die Wechselkurskurve zeigt seit Beginn des Jahres 1999 abwärts, ein bedrohliches Bild. Fast ein Viertel ihres Außenwerts hat die neue Währung seit ihrer Einführung vor drei Jahren verloren. Im Zweikampf mit dem großen Bruder, dem »Greenback«, wirkt der Euro wie ein Schwächling. Nur 19 Prozent aller Devisengeschäfte an den Weltfinanzmärkten lauten auf die neue Währung. Der Dollar dominiert mit einem Marktanteil von fast 50 Prozent. Alle beschwörenden Vertrauenserklärungen für den Euro vermochten daran nichts zu ändern. Es sind Leute wie John Ennis, die darüber befinden, was von solchen Erklärungen zu halten ist: nämlich ziemlich wenig. Manchmal genügt dafür ein Tastendruck. Ennis arbeitet als Devisenhändler bei der Citigroup, sein Arbeitsplatz ist eine handtuchbreite Konsole im Handelssaal der New Yorker Zentrale der Großbank. Über 160 Trader sitzen in dem riesigen Raum Stuhl an Stuhl, über Datenleitungen mit allen Börsen der Welt verbunden. Es gibt Spezialisten für den Yen, das Pfund, den Franken. Ennis ist für den Handel mit Euro zuständig. Zehn Stunden verbringt er hier jeden Tag, nicht einmal zu Mittag macht er Pause, und alles, was er über den Euro wissen muss, zeigen ihm ein paar kleine Monitore in Augenhöhe. Genau genommen sind es zwei blinkende Kästchen auf einem der Bildschirme, in denen alle Kursbewegungen kondensieren, das ganze Adrenalin-treibende Devisengeschäft, bei dem innerhalb von Sekunden Milliarden von einem Ende der Welt zum anderen verschoben werden: im linken Kästchen leuchtet schwarz auf gelb der derzeit höchste Kaufpreis eines Euro, im rechten der niedrigste Verkaufswert. Der Einfachheit halber werden nur die dritte und vierte Stelle hinter dem Komma angezeigt. Es ist ein ruhiger Tag. Seit dem Morgen hängt der Euro bei 89,22 Cent, als sei er dort festgeklebt. Gerade hat Ennis von einem seiner Kunden den Auftrag erhalten, für 60 Millionen Dollar zu kaufen. Doch zu dem Preis, den der Fondsmanager vorgegeben hat, lässt sich partout kein Angebot finden. Also lehnt sich Ennis zurück und starrt wieder auf die gelben Kästchen. Natürlich kann er auch das Geschäft auf eigene Rechnung machen und darauf setzen, dass der Euro im Laufe des Tages nach oben zieht, um die Devisen dann wieder mit Gewinn abzustoßen. »Educated gambling«, ein Wettspiel auf hohem Niveau, nennen Händler wie Ennis ihren Job. »Der Mann auf dem Tradingfloor fragt nicht, was der wahre Wert einer Währung ist«, sagt James Kemp, Leiter der Devisenabteilung in der New Yorker Zentrale der Citigroup: »Den Händler bei uns interessiert nur, wie hoch für ihn das Risiko in der nächsten halben Stunde ist.« Kaufen und schnell wieder raus aus der Fremdwährung, das ist das ganze Geschäft, jedenfalls für die Short-Term-Trader, die sehr kurzfristig orientierten Händler. Doch auch wer langfristiger denkt, wer auf die großen Zyklen der Konjunktur setzt, der investiert derzeit besser nicht in Euro. Es sind nüchterne Fakten, die dagegensprechen. Denn für Ökonomen ist der Wechselkurs nichts anderes als der Reflex der Machtverhältnisse zwischen zwei Wirtschaftsblöcken. Er spiegelt die zukünftigen Unterschiede bei den Wachstumsraten wider. Wer besser ist, dessen Währung steigt - und da sprach bis vor kurzem alles für Amerika. Und künftig wohl auch. Schon Ende 2002 könnten die USA die Rezession überwunden haben und wieder mit 2,5 Prozent wachsen. Die Euro-Zone dürfte es wohl nur auf 1,2 Prozent bringen. »Nicht gerade bombastisch« sei das, sagt Thorsten Polleit, der Chefökonom der Investmentbank Barclays Capital. Polleit gehört zu einer Berufsgruppe, die es vor drei Jahren noch nicht gab, den Euro-Watchern, einer Schar von Ökonomen, die am Sitz der EZB in Frankfurt vor allem zweierlei im Auge hat: die neue Währung und die Geldpolitik der Notenbank. Der 34-Jährige beteuert, er sei ein Euro-Fan, und davon zeugen auch seine Manschettenknöpfe mit dem Symbol der neuen Währung. Und doch ist Polleit auch ein Pessimist. Bis hinunter auf 77 Cent zum Dollar werde der Euro-Kurs in den nächsten zwölf Monaten abrutschen, glaubt er. So tief liegt keine andere Euro-Prognose in Frankfurt. Doch Polleit hat in der Vergangenheit meist Recht gehabt. Und so verlassen sich inzwischen immer mehr Konzerne auf seine Analysen. Er berät Autokonzerne, die ihre Exporte gegen Wechselkursrisiken absichern wollen, er hilft Energieversorgern und Fondsverwaltern weiter, die nicht wissen, wohin mit ihrer Kriegskasse. Am besten in die USA. Dem Barclays-Mann bereitet vor allem die anhaltende Schuldenmentalität in Europa Sorge, für ihn ein Ausdruck mangelnden Reformwillens: »Jede Mark Staatsschulden ist eine Mark zu viel.« So heftig die Kritik an den Regierungen ausfällt, so pfleglich gehen Polleit und seine Kollegen in Frankfurt derzeit mit der EZB um. Klar, Wim Duisenberg ist nicht gerade der Liebling der Euro-Watcher. Als »Tölpel« wurde der Niederländer in den Medien verlacht, weil er sich in Interviews gelegentlich verplappert hat und dadurch den Euro ins Trudeln brachte. Und natürlich hätten Duisenberg und seine Kollegen die Zinsen bisweilen etwas schneller senken können. Aber was wäre die Alternative gewesen? Die EZB, so argumentiert Polleit, sei nun mal eine Zentralbank ohne Tradition, ohne Reputation. Anders als US-Notenbankchef Alan Greenspan, dem die Märkte seit 14 Jahren vertrauen, könne sich Duisenberg keine ähnlich lockere Geldpolitik leisten. Ansonsten schüre er, viel eher als Greenspan, neue Inflationsängste. Auch sonst ist es für die EZB-Banker nicht immer leicht, das rechte Maß zu finden. Denn an welchem Land in Europa soll sie ihre Zinspolitik orientieren? Was für Irlands überhitzte Wirtschaft richtig ist, nämlich höhere Zinsen, wäre für Deutschland oder Italien fatal. Im Zweifel allerdings, so haben die EZB-Banker bewiesen, halten sie die Zinsen lieber konstant. Dem Kampf gegen die Inflation hat das gut getan. Spätestens zu Jahresbeginn, wenn die letzten Auswirkungen von BSE-Krise und Ölpreisschock überwunden sind, dürfte die Preissteigerungsrate wieder unter die Zweiprozentmarke fallen. Sie geht so schnell zurück, dass manche Ökonomen, wie die von der Investmentbank Merrill Lynch, ab dem Frühjahr sogar eine Deflation erwarten, also sinkende Preise. So wünschenswert aber ein stabiler Binnenwert des Euro sein mag, der harte EZB-Kurs bremst auch das Wachstum. Und dies verärgert die Regierungen. Immer wieder attackierten die Euro-Staaten in den vergangenen Monaten deshalb die Frankfurter Währungshüter. »Es gibt Spielraum auf der monetären Seite«, schleuderte Belgiens Finanzminister Didier Reynders, der amtierende Chef der Euro-Gruppe, den Frankfurter Währungshütern immer wieder entgegen. Auch Gerhard Schröder forderte wiederholt eine Zinssenkung: Die Vernunft der EZB sei »noch steigerungsfähig«. Doch die Verbalangriffe bewirken eher das Gegenteil des Gewünschten: Notenbanker seien wie Sahne, lautet ein Bonmot Duisenbergs. Wenn sie geschlagen würden, dann würden sie hart. Erst recht, wenn die Regierungen selbst nicht ihren Wachstumsbeitrag leisteten und dadurch eine lockere Strategie der EZB erschwerten. Von einem harmonischen Zusammenspiel der Geld- und Fiskalpolitik, so wie es Alan Greenspan und US-Präsident Bill Clinton über Jahre hinweg erfolgreich vorgemacht haben und wie es nun auch unter Clintons Nachfolger George Bush funktioniert, kann in Europa keine Rede sein. Immer wieder kritisierte Duisenberg in den vergangenen Wochen die exzessiven Haushaltsüberschüsse in »einigen großen Ländern«. Namen nannte er nicht, doch es war klar, wer gemeint war: Frankreich, Italien - und vor allem Deutschland. Denn in atemberaubendem Tempo treibt Deutschlands Defizit in Richtung der magischen Dreiprozentgrenze. Erst meldete Eichel für 2002 die Zielmarge 1,0 nach Brüssel, später 1,5, vor wenigen Wochen 2,5. Inzwischen rechnen einige Forschungsinstitute eher mit 3,0. Längst ist dem Kassenhüter die Kontrolle über das Defizit entglitten. Denn nicht nur das Minus des Bundesetats fließt in die Maastricht-Zählung ein, sondern auch die Etats von Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungen. So treibt allein das jüngste Loch in der Rentenkasse das Defizit um 0,1 Prozentpunkte nach oben. Auch die zusätzlichen Schulden, die das Land Berlin im Jahr 2002 aufnehmen will, erhöhen das gesamtstaatliche Haushaltsloch um ein knappes Zehntel. Und der prognostizierte Einbruch bei den Steuereinnahmen von knapp zehn Milliarden Euro schlägt nochmals mit fünf Zehnteln zu Buche. »Es wird verdammt eng«, wissen die Experten des Finanzministeriums. Wenn es schlecht läuft, dann kann Eichel seinen Haushalt nicht einmal mit der Konjunktur »atmen« lassen, so wie es fast alle Ökonomen empfehlen. Der Minister würde in diesem Fall all jene Löcher, die allein auf den Wachstumseinbruch zurückgehen, etwa die erhöhten Ausgaben für die Arbeitslosenhilfe, einfach hinnehmen - und hoffen, dass diese Etatlücken in besseren Zeiten wieder von selbst verschwinden. Theoretisch lässt dies der Stabilitätspakt zu, doch nur für Euro-Staaten, die ihren Haushalt bereits ausgeglichen haben. Deutschland dagegen muss strikt auf die Einhaltung der Dreiprozentgrenze achten, ansonsten drohen Milliardenbußgelder. Belgier und Österreicher forderten bereits einen Rüffel der EU-Kommission für den einstigen Lehrmeister. Vehement versucht Eichel, dies derzeit beim EU-Kommissar Pedro Solbes zu verhindern. Schon hat ein gefährliches Schwarzer-Peter-Spiel begonnen. Wer ist schuld an Europas Rezession? Wer tut zu wenig für den Aufschwung? Duisenberg? Deutschland? Die anderen? Alle miteinander? Schmerzlich rächt sich nun, dass der EZB keine machtvolle politische Union entgegengestellt wurde. Dass Europa weiterhin in Einzelinteressen zerfällt. Es gibt zwar das gemeinsame Geld und eine europäische Notenbank, aber - mal abgesehen von den Anstrengungen in der Außenpolitik - immer noch keine gemeinsame Politik. Das Parlament hat wenig zu sagen, die Kommission unter Romano Prodi sucht verzweifelt nach ihrer Rolle. Europa fehlt immer noch ein echter Kopf. Auch die Entscheidung des Gipfels in Laeken, einen Verfassungskonvent für die EU zu eröffnen, wird an diesem Schwebezustand vorerst wenig ändern. Denn genauso diffus wie die Meinungen, was denn die richtige Wirtschaftspolitik für Europa sei, sind auch die Vorstellungen über die genaue Gestalt einer politischen Union. Braucht Europa vor allem eine Wirtschaftsregierung, wie es die Franzosen fordern? Ist eher eine Stärkung des Parlaments vonnöten, wie es Gerhard Schröder wünscht? Oder soll die Europäische Union ein föderaler Bundesstaat sein oder ein eher loser Verbund von souveränen Nationalstaaten? Für jemanden wie Milton Friedman, Nobelpreisträger der Ökonomie und Vordenker der Geldpolitik, liegt in diesem Machtvakuum das wohl größte Manko der Währungsunion: »Statt ein Instrument zu mehr politischer Einheit wird der Euro ein Instrument zur Spaltung werden.« Aber nun sei es zu spät für den Ausstieg: »Ihr Europäer habt die Tür zugemacht und den Schlüssel weggeworfen.« Und so werden auch die Deutschen in den nächsten Monaten mühsam lernen müssen, mit dem Euro umzugehen - ob sie es wollen oder nicht. Ganz zum Schluss allerdings werden sie noch ein letztes Mal von ihrer guten alten Mark profitieren. Denn die vergilbten, knittrigen Scheine brennen sehr gut. Ihr Brennwert entspricht dem von Braunkohle. Und so werden die Landeszentralbanken die Zehner, Fünfziger oder Tausender in den nächsten Wochen einsammeln, schreddern und in 61 Müllverbrennungsanlagen karren. Dort werden die Mark-Schnipsel mit Frischmüll vermengt, damit die Kessel der Verbrennungsanlagen nicht schmelzen. Anschließend wandern die Überbleibsel des deutschen Geldes in die Brennöfen. Sicherheitsbeamte der Bundesbank werden durch spezielle Beobachtungsschlitze überprüfen, dass die Reste der Scheine tatsächlich in Rauch und Flammen aufgehen. Vom stolzen Geld der Deutschen bleibt nichts übrig. Außer ein wenig Fernwärme. WINFRIED DIDZOLEIT, JAN FLEISCHHAUER, HEIKO MARTENS, ULRICH SCHÄFER, SYLVIA SCHREIBER Zwölf prominente Deutsche formulierten für den SPIEGEL ihre Meinung zur Euro-Einführung ROLF BREUER, VORSTANDSSPRECHER DEUTSCHE BANK Auch ich freue mich auf den Euro und setze große Erwartungen in ihn. Das emotionale Erlebnis, die neue Währung in den Händen halten zu können, und der zusätzliche Komfort beim Reisen werden ihre Akzeptanz bei den Bürgern schlagartig erhöhen. Wir profitieren in Euroland bereits von einer neu gewonnenen währungspolitischen Stabilität. Darüber hinaus wünsche ich mir, dass die Einführung des Euro als »handgreifliche« Währung nicht nur dazu dient, ihn in die Hände der Bürger zu legen, sondern auch in ihre Herzen zu pflanzen. Dann sollte es uns auch gelingen, die gegenwärtige Stagnation der Europapolitik in Richtung einer gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzpolitik zu überwinden. HEINRICH AUGUST WINKLER, HISTORIKER Dass die Deutschen jetzt auf ihr liebstes Symbol verzichten müssen, ist eine Folge der Wiedervereinigung. Die Mark wäre zwar in jedem Fall durch den Euro abgelöst worden, aber ohne die deutsche Einheit erst später: zeitgleich mit der Schaffung der politischen Union Europas. Die Entkoppelung von Währungs- und politischer Union war der Preis für das französische Ja zur deutschen Einheit. Der Euro wird zu einem europäischen Wir-Gefühl beitragen, aber dieses Gefühl verlangt mehr als eine gemeinsame Währung. Es erfordert ein Bewusstsein dessen, was Europa verbindet: die Einheit in der Vielfalt; die Erinnerung an kulturelle Gemeinsamkeiten und überwundene Konflikte. »Dass es Nationen gibt, ist historisch das Europäische an Europa«, hat der Historiker Hermann Heimpel einmal gesagt. Die EU wird sich also nicht nach dem Vorbild der USA entwickeln. Der Abschied von unhistorischen Vorstellungen von europäischer Einheit ist die Voraussetzung für ein realistisches Bild von der Zukunft Europas. MARKUS LÜPERTZ, MALER Der Euro ist ein kulturelles Unglück. Er vermischt die europäischen Grenzen und schafft letzten Endes eine territoriale Individualität ab. Das hinreißende Erlebnis Europa war deswegen so spannend, weil man nach 50 oder 100 Kilometern in einen anderen Kultur- und Lebensraum verreisen konnte. Diese Spannung, diese Vielfalt auf engstem Gebiet war bislang die Kraft Europas. Hier wird mit dem Schlüssel Geld eine gigantische Gleichmacherei eingeleitet, deren Ende mich schaudern lässt. HEINRICH VON PIERER, VORSTANDSVORSITZENDER DER SIEMENS AG Der Euro ist ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur europäischen Einigung, die wir dringend brauchen. Er ist ein verbindendes Element und gibt Europa ein Gesicht. Das stiftet Identifikation bei den Bürgern in den Teilnehmerländern und macht Eindruck bei allen, die von außen auf den Euro-Raum schauen. Bei Siemens ist der Euro schon seit Jahren unsere Hauswährung. Wir sind längst an ihn gewöhnt. Ich persönlich finde es etwas schade um die Pfennigstücke, die meine Frau und ich schon für die Brautschuhe der Enkeltöchter zusammenhatten. Es waren zwar erst einige tausend Münzen, aber wir hätten ja auch noch Zeit gehabt, denn die Enkelinnen sind erst in der Grundschule. Jetzt müssen wir neu anfangen. Die ersten Centstücke vom 17. Dezember bilden natürlich den Grundstock! HENNING SCHULTE-NOELLE, VORSTANDS- VORSITZENDER DER ALLIANZ AG Ich bin überzeugt: Aus dem Euro kann genauso eine Erfolgsgeschichte werden wie aus der Mark. Wer von uns hätte sich denn vor 15 Jahren träumen lassen, dass es im Europa des Jahres 2002 eine gemeinsame Währung geben wird. Der Euro wird die europäische Landschaft in vielerlei Hinsicht verändern. So wie der Deutsche Zollverein im 19. Jahrhundert Schrittmacher für die Entstehung eines deutschen Nationalstaates war, so wird der Euro den politischen Einigungsprozess in Europa vorantreiben. Als Versicherer eröffnet uns der Euro neue und größere Spielräume beim Anlegen der Gelder unserer Kunden. Gerade mit Blick auf die private Altersvorsorge werden hier unsere Kunden in Zukunft unmittelbar vom Euro profitieren können. USCHI GLAS, SCHAUSPIELERIN Ich freue mich aufs Baby - auch wenn die Wehen schmerzhaft waren. Ursprünglich hatte ich heftige Aversionen gegen den Euro: Schade um die Mark, dachte ich, muss das denn sein? Aber meine Meinung hat sich grundlegend gewandelt: Jetzt warte ich ungeduldig auf die neue Währung, der Mark weine ich fast keine Träne nach. Es ist doch praktisch, wenn man in Italien und Spanien mit derselben Währung zahlen kann. Und wahrscheinlich nimmt man das Geld im Urlaub auch ernster, die Lira erschien uns doch eher als eine Art Spielgeld. Das gemeinsame Geld lässt uns in Europa auch politisch und menschlich näher rücken. Gut so: Sonst wird das doch in 100 Jahren nix mit dem gemeinsamen Europa. WOLFGANG STUMPH, SCHAUSPIELER UND KABARETTIST »Mit Geld, Latein und einem guten Gaul kommt man durch ganz Europa« - will das Sprichwort wissen. Ich bin in meinem ersten Kinofilm nach Wende und Währungsunion mit der neuen D-Mark, einem alten Trabi und breitem Sächsisch bis Neapel gekommen - »Wahnsinn!« Die ersten D-Märker, die ich überhaupt in der Hand hielt, musste ich erst in »Forum-Schecks« umtauschen, damit ich mir im Dresdner Intershop einen Satz Vidia-Bohrer kaufen konnte. Die Bohrer gibt's heute noch, die Intershops machten wenig später dicht. Am 1. Juli 1990 verabschiedeten wir dann Karl Marx auf dem blauen Ost-Hunni und begrüßten Clara Schumann auf dem blauen West-Hunni - »Wahnsinn!« Was es so gab an DDR-Münz- und Scheinwelt - vom Alu-Pfennig bis zum Marx-Porträt - ist bei mir zur Erinnerung hinter Glas gerahmt. Genau diese Art musealer Konservierung wird jetzt auch die gute D-Mark erfahren. So hängt fortan im gesamtdeutschen Geld-Schrein einträchtig beisammen, was kein Umrechnungskurs mehr trennen kann - »Wahnsinn!« Wenn ich die harte D-Mark, die mir ein reichliches Jahrzehnt lang lieb und teuer war, nun schmerzlos umtausche in den Euro, so gefällt mir eines ganz besonders daran: Jetzt machen die Ostdeutschen und die Westdeutschen mal wirklich gemeinsame Erfahrungen: Ihr Geld halbiert sich - »Wahnsinn!« HEINER LAUTERBACH, SCHAUSPIELER Wie Axel Springer, den ich unlängst verkörperte, hatte auch Helmut Kohl Visionen. Neben der Vision der Zusammenführung beider Teile Deutschlands (wie auch Axel Springer), träumte er von einer gesamteuropäischen Währung. Nennen wir sie, man möge mir verzeihen, die »Euro-Vision«. Als bekennender Kohl-Sympathisant stehe ich selbstverständlich hinter dem Euro. Obwohl ich nicht verheimlichen möchte, dass der Abschied von der vertrauten Mark meine alljährliche Weihnachtsmelancholie erheblich verstärkt. Irgendwie ist sie einem schon ans Herz gewachsen, die gute alte Mark. Nicht materiell gesehen natürlich. Aber ich hab die Mark immer mit »made in Germany« verbunden, und »made in Euro« hört sich blöd an. Zumindest ungewohnt. Obwohl ich eigentlich genug Zeit hatte, mich an den Euro zu gewöhnen. Da die Filme, die ich in den letzten Monaten gedreht habe, erst 2002 erscheinen, mussten wir schon mit dem Euro arbeiten. Wenn auch nur mit falschen - aber immerhin. Jedenfalls wird mir die Clara Schumann auf dem »Hunni« fehlen. Im Währungswesen ist es ein bisschen wie in der Liebe. Erst mal freut man sich, die »Alte« los zu sein. Ist die »Neue« doch um vieles aufregender und exotischer. Doch sobald die Exotik der »Neuen« verblasst, stellt man fest, dass die »Alte« eigentlich gar nicht so schlecht war. Bleibt nur zu hoffen, dass uns dieses schmerzliche Erwachen erspart bleibt und unser aller »Euro-Vision« in Erfüllung geht. In diesem Sinne: Tschüs Mark - hello Euro. MAYBRIT ILLNER, ZDF-MODERATORIN Die Deutschen sind Weltmeister im Verreisen, aber auch Weltmeister im Verrechnen, wie wir seit Pisa wissen. Wunderbarerweise müssen wir jetzt nicht mehr Lira, Pesete und Drachme umständlich in Mark umrechnen. Was die deutsche Urangst mildern wird, im Urlaub ständig über den Tisch gezogen zu werden - von Rosstäuschern und Wegelagerern ... Ich sag Ihnen was: Der ganze Coup mit Euro-Einführung und Gemeinsamem-Europa-Tralala diente einzig und allein dazu, die Rechenschwäche der Deutschen zu kaschieren ... P.S.: War die Pizza funghi für 25 000 Lire nun überteuert oder nicht? DIETRICH SCHWANITZ, SCHRIFTSTELLER Der Euro ist die Pisa-Studie der europäischen Wirtschaft. Wieso? Bis jetzt ging es in Europa zu wie im deutschen Bildungssystem: Für die Schulen sind die Bundesländer zuständig. Die Folge: In Hamburg werden die Zensuren in Lire ausgezahlt, in Bayern in Pfund-Sterling. Man hat für die Leistungen nicht die gleichen Maßstäbe. Wie die Zensuren stellt Geld einen Code dar, der alles mit allem vergleichbar macht: Wenn ich nach Mallorca fahre, kann ich mir den Großen Brockhaus nicht mehr leisten. Wenn ich meine Zukunft sichern will, kann ich nicht mein Monatsgehalt wieder und wieder auf dem Kiez verjubeln. Das Medium für den Vergleich ist die künstliche Knappheit: Obwohl jeder Schüler eine gute Note bekommen könnte, können nicht alle Schüler eine bekommen. Genauso muss Geld knapp sein, soll es etwas wert sein - in der Inflation verliert es seine Funktion und wird durch den Schwarzmarkt ersetzt. So wie die Pisa-Studie die Sondermaßstäbe Hamburgs und Bayerns beseitigt hat, wird der Euro jedes Produkt, jede Dienstleistung und jede Einrichtung dem europaweiten Vergleich aussetzen - eine heilsame kalte Dusche für den deutschen Korporatismus. HORST SIEBERT, MITGLIED DES SACHVERSTÄNDIGENRATS ZUR BEGUTACHTUNG DER GESAMTWIRTSCHAFTLICHEN ENTWICKLUNG Der Euro ist ein großes historisches Vorhaben, das die wirtschaftlichen Transaktionen in Europa erleichtern und die Menschen der verschiedenen Länder zusammenbringen wird. Ähnlich wie die 140 Währungen des 19. Jahrhunderts, etwa die Lübische Mark Kurant und das süddeutsche Guldengeld, werden Deutsche Mark und Französischer Franc der Geschichte anheim fallen. Damit der Euro die Integration vorantreibt, muss das neue Geld stabil sein. Dies setzt voraus, dass die Unabhängigkeit der Notenbank und die vergemeinschaftete Geldpolitik von den Nationalstaaten akzeptiert werden. Einen großen Konflikt zwischen der Geldpolitik auf europäischer Ebene und nationalen Interessen hat es bisher noch nicht gegeben. Hier steht die Bewährungsprobe für den Euro noch aus. JÜRGEN STRUBE, VORSTANDSVORSITZENDER DER BASF AG Seit reichlich drei Jahren ist Willem Frederik Duisenberg, genannt Wim, Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), und seither musste er lernen, dass jedes seiner Worte auf die Goldwaage gelegt wird. Sein Amt habe ihn gelehrt, öffentlich immer weniger und weniger zu sagen, thematisiert er sein Problem genüsslich. Ein heimatliches Magazin habe ihn dafür unlängst mit dem Kriegsnamen »Willem der Schweiger« geschmückt. Darauf sei er sehr stolz, verspottet er sein applaudierendes Auditorium während einer Preisverleihung im plüschigen Ballsaal des Brüsseler Hotels Renaissance. Seine Zuhörer hätten nicht viel zu erhoffen. Tatsächlich hält sich der jetzt 66-jährige Kettenraucher an seine Maxime, die Agenturen haben auch nach einer halben Stunde noch kein Wort gefunden, das Euro-Kurs oder Aktienpreise bewegt. Die Bedeutung jedes seiner Wörter penibel abzuschätzen, bekannte er gleich nach seiner Inauguration, falle ihm schwer. Das hätten die Kollegen Alan Greenspan, der Chef der amerikanischen Notenbank, und Hans Tietmeyer, damals Präsident der Deutschen Bundesbank, besser drauf. Die seien, anders als ein kleiner niederländischer Zentralbanker - der Duisenberg vordem war -, seit Jahren darauf getrimmt, dass ein Wort Milliarden bewegen könne. Die »Kommunikation mit den Märkten«, so heißt das hochtrabend in der Geldbranche, sei Duisenbergs Schwäche, an der von ihm bestimmten Geldpolitik der neuen Institution dagegen gebe es wenig zu tadeln. Das ist immerhin besser als umgekehrt. Besonders misslungen war Duisenberg beispielsweise die »Kommunikation«, als er in einem Interview mit der Londoner »Times« die Bemerkung stehen ließ, seine Bank werde zu Gunsten des Euro erst wieder im Falle eines Krieges in Nahost an den Devisenmärkten eingreifen. Rums - rauschte der Kurs des Euro in den Keller. Dabei hatte er nichts als die offensichtliche Wahrheit gesagt. Den Ausrutscher hält Duisenberg aber keineswegs für seinen herbsten Schnitzer in dem einzigartigen Job. Vertrauten gestand er, sein folgenreichstes Versäumnis sei gewesen, nach seiner dramatischen Wahl in der Nacht vom 2. zum 3. Mai 1998 den Geburtsfehler seiner Bestallung nicht beseitigt zu haben. Damals war Duisenberg nach eigener Aussage von den Staats- und Regierungschefs der EU gewählt worden, nachdem er mündlich erklärt hatte, er werde den Job gewiss bis zur Ausgabe der Euro- Münzen und -Scheine in vier Jahren machen, angesichts seines Alters wahrscheinlich aber nicht die gesamte Dienstzeit von acht Jahren durchstehen. Das war gerade noch mit den Bestimmungen des Maastrichter Vertrags vereinbar. Darin ist, um die Unabhängigkeit der Bank von der Politik zu sichern, die Amtszeit auf acht Jahre festgelegt, gleichzeitig Entlassung wie Wiederwahl ausgeschlossen. Die vage Aussage über das Ende seiner Dienstzeit hatte der französische Staatschef Jacques Chirac ihm abgepresst. Chirac wollte als Nachfolger Duisenbergs so rasch wie möglich einen Franzosen als Herrn des Euro sehen. Noch in derselben Maiennacht münzte Chirac diese vage Aussage in die feste Zusage des Niederländers um, seinen Platz nach der Euro-Einführung, also zur Halbzeit, für den Kollegen Jean-Claude Trichet zu räumen. Dieser Unwahrheit - wie Duisenberg es sieht - nicht entschiedener entgegengetreten zu sein, das reut den Friesen noch heute. Seither muss er damit leben, ständig nach einem Rücktrittsdatum gefragt zu werden. Nicht immer kommt ihm eine solche Frage so gelegen wie im Oktober nach einer Sitzung des Gouverneursrats in Wien. Da erklärte er es für »unweise«, die Führung der Bank innerhalb der nächsten zwölf Monate zu wechseln, und machte damit klar, den von Chirac gewollten Rücktrittstermin Mitte des Jahres ungenützt verstreichen lassen zu wollen. Schweigsam gibt sich Mr. Euro auch, wenn es um Auskünfte über sein Privatleben geht. Die, so hatte er bereits 1998 gewarnt, werde er nur so weit erteilen, wie »funktional« erforderlich. Das wäre schnell erzählt. Der Ökonom arbeitete beim Internationalen Währungsfonds, bei einer Privatbank, er war niederländischer Finanzminister und Chef der Zentralbank. In den langen Jahrzehnten im Dienste des Geldes wandelte er sich vom Keynesianer zum gemäßigten Monetaristen. Duisenberg ist seit 1987 in zweiter Ehe mit Gretta Nieuwenhuizen verheiratet, er hat zwei Söhne und eine Tochter und inzwischen auch Enkel, die ihm voller Freude E-Mails auf den Dienstcomputer schicken. Das war's. Nicht ganz. 1996 outete Duisenberg sich in der niederländischen Frauen-Postille »Opzij« als Kenner und Beobachter von Singvögeln und als begeisterter Golfer. Er erzählte, dass er sein Segelboot aufgegeben habe, weil Frau Gretta es mit dem Segeln nicht hat, »und da drück ich mich noch sehr vorsichtig aus«. Bisher hatten deutsche Touristen im berühmten Londoner Kaufhaus Harrods keine Chance, wenn sie mit Mark einkaufen wollten. »Wir akzeptieren den nicht«, sagte eine Verkäuferin pikiert, als ein Kunde kurz vor Weihnachten einen plüschigen Teddybär mit einem braunen 50-Mark-Schein bezahlen wollte. Ab dem 1. Januar wird das Einkaufen für die Kontinentaleuropäer leichter: Bei Harrods können sie mit Euro zahlen. Die europäische Gemeinschaftswährung steigt in dieselbe Klasse wie der US-Dollar auf, der in dem britischen Konsumpalast schon länger zum Einkaufen berechtigt. So wie Harrods halten es viele britische Einzelhändler. In den großen Kaufhäusern Marks & Spencer, Harvey Nichols und John Lewis genauso wie in den Ladenketten von W. H. Smith, Debenhams, Selfridges oder Boots kann mit Euro bezahlt werden. Immer noch lehnt die Mehrheit der Briten die kontinentale Währung ziemlich vehement ab. Doch es sieht ganz danach aus, als ob der Euro die Insel an den Kassen von Supermärkten und in den Pubs erobern wird. »Eurocreep« nennen die Briten das Phänomen, die ungeliebte Währung schleicht sich an. Irgendwie heimtückisch dieser Euro. In den großen Supermärkten von Sainsbury's oder Asda lassen sich mit den Euro-Münzen Einkaufswagen entriegeln. Im London Aquarium wie im Zoo von Chester kann der Eintritt mit Euro beglichen werden. Nicht nur die rund 13 Millionen Touristen aus den Euro-Ländern, die jedes Jahr die wehrhafte Insel besuchen, werden den Service der Einzelhändler zu schätzen wissen. Auch die Briten, die im Jahr 2002 voraussichtlich 40-millionenfach in die Euro-Staaten aufbrechen, brauchen das neue Geld nicht mehr in den Banken zurückzutauschen. »Es gibt kostengünstigere Arten, den Euro loszuwerden«, sagt Peter Willasey, der Sprecher von Harrods. Die britische Regierung ist zuversichtlich, dass der alltägliche Umgang mit dem Euro in den englischen Supermärkten, auf dem Weihnachtsmarkt in Köln oder in den Urlaubsländern am Mittelmeer letztlich dafür sorgen wird, dass die Schwellenängste bei ihrem Wahlvolk langsam abgebaut werden. »Es wird sehr schwer sein, den Euro als eine unbekannte, gefährliche Einheit darzustellen, wenn man damit in seinem lokalen Supermarkt Lebensmittel einkaufen kann«, frohlockt ein Berater von Tony Blair. Offiziell muss der Euro fünf ökonomische Tests bestehen, bevor der Premierminister die Briten in einem Referendum abstimmen lassen will, ob die Briten der Währungsunion beitreten. Doch letztlich ist es die politische Frage, ob die Labour- Regierung ein solches Referendum für gewinnbar hält. Da kommt die kostenlose Werbung für den Euro gerade recht. Der Euro wird sich, davon geht zumindest Peter Stringfellow aus, in London schnell als Zweitwährung etablieren. »Meine Mädchen können auch in Euro bezahlt werden«, sagt der Besitzer von Stringfellow's, einem bekannten Nachtclub im Londoner Westend. SPIEGEL: Herr Eichel, als Finanzminister sind Sie auch Experte für Geldwäsche. Kann man den Euro waschen? Eichel: Ja, bis 40 Grad. SPIEGEL: Ist das besser oder schlechter als bei der Mark? Eichel: Auf jeden Fall besser. Für die Mark wäre das schon etwas zu heiß. SPIEGEL: In der Silvesternacht wird die Mark verschwinden. Werden Sie schon ein wenig sentimental? Eichel: Nein, obwohl wir mit der Mark eine gute Währung hatten. Sie war das Symbol des Wirtschaftswunders in Deutschland nach dem Krieg. Aber als Finanzminister habe ich ein unsentimentales Verhältnis zum Geld. Das wird beim Euro nicht anders sein. SPIEGEL: Die Sparschweine auf Ihrem Schreibtisch sprechen eine andere Sprache. Eichel: Das verstehen Sie falsch. Geld ist immer nur Mittel zum Zweck. Selbst wenn viele Deutsche das anders sehen. Wir hatten eben keinen Nationalstaat, unser Land war geteilt, das einzige deutsche Symbol war die Mark. Diese gute Tradition geht jetzt auf den Euro über; auch die neue Währung wird Wachstum und Wohlstand bringen. SPIEGEL: In vielen Umfragen lehnte bis zuletzt rund die Hälfte der Deutschen den Euro ab. Was haben Sie falsch gemacht? Eichel: Nichts. Die Menschen haben einfach Angst vor dem Neuen. Das ist verständlich. Natürlich hätten wir damals so wie die Dänen und Franzosen eine Volksabstimmung über den Euro abhalten können, aber das haben CDU und FDP nicht gewollt. SPIEGEL: Gerhard Schröder hat den Euro mal als »kränkelnde Frühgeburt« bezeichnet. Auch das erzeugt Skepsis. Eichel: Damals haben viele eine Debatte geführt, die man zu Recht führen kann: Was ist die richtige Reihenfolge bei der europäischen Integration? Welcher Schritt kommt zuerst? Natürlich wäre es wünschenswert gewesen, wenn zuerst die politische Union und dann die Währungsunion gekommen wäre. Aber über diese Frage ist spätestens mit der deutschen Einheit die Geschichte hinweggegangen. Für die Franzosen war die Währungsunion die Voraussetzung der Wiedervereinigung. SPIEGEL: Wirtschaftspsychologen fürchten, viele Bürger könnten den Euro dafür verantwortlich machen, wenn es wirtschaftlich weiter nach unten geht. Eichel: Warum sollten die Menschen das tun? Wir haben den Euro ja schon seit drei Jahren als Buchgeld. Außerdem wird sich zeigen, dass von all den Befürchtungen - steigende Preise, Chaos beim Umtausch - am Ende so gut wie nichts übrig bleibt. Spätestens wenn die Menschen zum ersten Mal in Frankreich oder Italien Urlaub gemacht haben und kein Geld mehr tauschen müssen, werden sie erkennen, dass der Euro ein vernünftiger Schritt war. SPIEGEL: Der Euro kommt aber zu einem extrem ungünstigen Zeitpunkt. Die Wirtschaft ist in der Rezession, die Arbeitslosenzahlen steigen. Eichel: Das haben wir doch mit der Mark auch erlebt. 1993 ist die deutsche Wirtschaft um 1,1 Prozent geschrumpft. Der Euro wird die deutsche Wettbewerbsfähigkeit eher stärken, er bringt mehr Deregulierung und Liberalisierung - und ist insofern ein Wachstumsprogramm. SPIEGEL: CSU-Chef Edmund Stoiber ist nicht so optimistisch. Er sagt: Sie gefährden mit Ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik die Stabilität des Euro. Eichel: Das finde ich nun ganz besonders lustig. Wenn wir die unseriöse Finanzpolitik unserer Vorgängerregierung weitergeführt hätten, würden wir jetzt die Latte des Stabilitätspaktes reißen. Durch unsere Konsolidierungs- politik, durch Einsparungen von 15 Milliarden Euro, haben wir das verhindert. Herr Stoiber ist wirklich der Allerletzte, der uns Vorwürfe machen sollte. SPIEGEL: Auch Wim Duisenberg, der Präsident der Europäischen Zentralbank, kritisiert, dass einige Euro-Länder viel zu hohe Haushaltsdefizite haben. Eichel: Er hat Recht. SPIEGEL: Damit meint er Sie. Eichel: Ja, sicher. Wir haben ja auch erst nach dem Regierungswechsel 1998 mit der Konsolidierung angefangen. Trotzdem hat die CDU bis heute nichts dazugelernt. Alle Vorschläge laufen doch nur darauf hinaus, die Neuverschuldung dramatisch zu erhöhen. Den Vogel hat Rainer Brüderle von der FDP mit seiner Bemerkung abgeschossen, man solle mal für einen Moment die Maastricht-Kriterien vergessen. Das ist abenteuerlich. Wir dagegen sanieren den Bundeshaushalt. SPIEGEL: Sie wollen also allen Ernstes behaupten, Sie würden trotz der Milliardenlöcher im Jahr 2002 die Maastricht-Kriterien einhalten? Eichel: Wir kommen relativ nah an die Maastricht-Grenze für die Neuverschuldung heran. Wir werden bei zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts landen - wenn man, wie die EU-Kommission, ein niedrigeres Wirtschaftswachstum unterstellt, kommt man auf 2,5 Prozent. Auf jeden Fall werden wir unter der Grenze von 3 Prozent bleiben. SPIEGEL: Ihr Vorgänger Theo Waigel hat, als er selbst im Amt war, gesagt: 3,0 ist 3,0 ist 3,0. Dieses Ziel gilt auch für Sie? Eichel: Ja. Wir werden den Stabilitätspakt auf Punkt und Komma einhalten. Da müsste schon der Himmel einstürzen. Aber dann stürzt er nicht nur über Deutschland ein, sondern auch über Europa und der Welt. Wir wollen uns alle nicht wünschen, dass es im Nahen Osten explodiert und Ölpreis und Weltwirtschaft aus den Fugen geraten. SPIEGEL: Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi kämpft ebenfalls mit wachsenden Staatsschulden. Deswegen hat er schon mal vorsorglich den Vorschlag gemacht, den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu überarbeiten, der die Euro-Mitglieder zu niedrigen Defiziten zwingt. Das müsste Ihnen gelegen kommen. Eichel: Nein. Das halte ich für falsch. SPIEGEL: Das verstehen wir nicht. Sie haben sich im vergangenen Sommer doch selbst schon öffentlich Gedanken über einen neuen Stabilitätspakt gemacht. Eichel: Mein Hinweis galt der langfristigen Glaubwürdigkeit des Pakts. Wenn alle Länder ihre Ziele auf Grund konjunktureller Unwägbarkeiten verfehlen, dann darf deswegen doch der Pakt nicht an Glaubwürdigkeit verlieren. Deswegen habe ich gesagt: Das eine sind die jährlichen Defizitziele, die müssen sein. Das andere ist, dass wie in Deutschland alle Länder auch langfristige Ausgabenziele festlegen sollten. Wir machen dies im Finanzplanungsrat für Bund und Länder Jahr für Jahr. Mit einer Aufweichung hat das nichts zu tun. SPIEGEL: Muss es Ihnen nicht peinlich sein, dass ausgerechnet in Deutschland das Defizit höher ist als in allen anderen Ländern Europas? Eichel: Es hat ja auch kein anderes Land die Wiedervereinigung gehabt. Immerhin haben wir zwischen 1998 und 2002 rund 15 Milliarden Euro eingespart. Dazu kommen 13 Milliarden Euro an Steuersenkungen allein auf Bundesebene, ohne dass die Kreditaufnahme stieg - also insgesamt ein Konsolidierungserfolg von 28 Milliarden. Wenn das Maastricht-Defizit steigt, liegt das zumindest nicht an mir als Finanzminister. SPIEGEL: An wem sonst? Eichel: Im Moment vor allem an den sozialen Sicherungssystemen, vor allem an der Krankenversicherung. Und es liegt auch an den Schulden, die die Länder und Gemeinden machen. SPIEGEL: Dagegen können Sie nichts tun? Eichel: Bisher leider nein. Aber seit den Verhandlungen um den Solidarpakt II haben wir zum ersten Mal ein Gesetz, wonach Bund, Länder und Gemeinden die Neuverschuldung zurückführen und einen ausgeglichenen Haushalt anstreben müssen. SPIEGEL: Und so sehen Sie tatenlos zu, wie sich das Defizit in Richtung drei Prozent bewegt? Eichel: Die Konjunktur können wir nicht steuern. Wir können nur gute Rahmenbedingungen für mehr Wachstum schaffen. In diesem Punkt haben vor allem die Kommunen viele Probleme. Sie bremsen jetzt bei den Investitionen, weil sie von der extrem schwankenden Gewerbesteuer abhängig sind. Das ist natürlich Gift bei einem Wirtschaftsabschwung. Deshalb brauchen wir eine Reform der Gewerbesteuer. SPIEGEL: In einigen Ländern der Union wird nicht ohne Schadenfreude registriert, dass nun ausgerechnet Deutschland, das sich immer als Lehrmeister aufgespielt hat, so große Probleme mit dem Sparkurs hat. Die Belgier und Österreicher fordern sogar, die EU-Kommission solle Deutschland abmahnen. Ärgert Sie das? Eichel: Die Belgier sollten bei ihren Staatsschulden ganz vorsichtig sein. Aber wir wollen in Europa auch nicht als Lehrmeister und Rechthaber auftreten. Wenn ich sehe, was die Niederländer, Dänen, Schweden oder Finnen im Bereich Arbeitsmarkt und soziale Sicherungssysteme machen, lohnt es sich, davon zu lernen. Da sollte sich niemand zu fein sein. SPIEGEL: Dennoch herrscht Zank. Jetzt rächt sich, dass Europa zwar eine gemeinsame Währung, aber immer noch keine politische Union hat. Eichel: Ganz so ist es ja nicht. Gerade im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik sind die Instrumente der Koordinierung sehr intensiv. Es gibt den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt mit seinen jährlichen Stabilitätsprogrammen, es gibt die Kontrolle dieser Ziele durch die EU-Finanzminister. Das Problem ist, dass die Öffentlichkeit und die nationalen politischen Eliten die europäische Dimension unserer Politik noch zu wenig begriffen haben. SPIEGEL: Europa muss also noch stärker werden, damit die Öffentlichkeit es wirklich als Macht wahrnimmt? Eichel: Ich will kein starkes Europa im Sinne von mehr Staat, aber ich will mehr Integration. Und dafür reicht die Zusammenarbeit von ansonsten selbständigen Regierungen, wie wir sie bisher haben, nicht aus. SPIEGEL: Also her mit dem EU-Finanzminister, her mit einer eigenen Europa-Steuer? Eichel: Das ist ein schwieriges Kapitel. Auf längere Sicht kann ich mir eine Europa-Steuer vorstellen. Es stärkt die Ausgabendisziplin in Brüssel, wenn die Verantwortung für Ausgaben und Einnahmen zusammenliegen. Aber: Wenn eine Europa-Steuer käme, müssten die nationalen Steuern entsprechend abgesenkt werden. Wir können nicht Verwaltungsebene auf Verwaltungsebene und Steuer auf Steuer türmen. So wird Europa kein Wachstums- und Wohlfahrtsprogramm. SPIEGEL: Wie geht es mit dem Euro weiter? Der kanadische Ökonom Robert Mundell glaubt, dass im Jahr 2010 bis zu 50 Länder die neue europäische Währung als Zahlungsmittel eingeführt haben. Eichel: Wenn er offizielle Euro-Länder damit meint - ausgeschlossen. Aber es wird etwas anderes passieren: Der Euro wird angesichts der enormen wirtschaftlichen Kraft, die hinter ihm steht, vor allem in Europa in vielen Ländern zur Parallelwährung werden oder, je nachdem, in welchem Zustand sich das Land befindet, zur einzigen richtig akzeptierten Währung. SPIEGEL: In welchen Ländern? Eichel: Auf dem Balkan. Auch die Schweiz wird wohl in relativ kurzer Zeit neben dem Franken den Euro als zweite Währung haben. Und ich vermute, dass auch Großbritannien das erleben wird. SPIEGEL: Wann wird der Euro die britischen Inseln erobern? Eichel: Tony Blair denkt sehr intensiv darüber nach. Doch dahinter steht auch die Frage, wie die Briten insgesamt zur europäischen Einigung stehen. Der Euro ist dabei lediglich ein Element in diesem Spiel. Nur eines ist sicher: Es bleibt spannend. SPIEGEL: Herr Eichel, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Der Immobilienskandal der Berlin-Hannoverschen Hypothekenbank (Berlin Hyp), der zum Ende der Großen Koalition in der Hauptstadt führte, beschäftigt inzwischen die Abteilung für Kapitalverbrechen der Berliner Staatsanwaltschaft. Sie ermittelt die Umstände des Todes eines früheren leitenden Mitarbeiters der Immobiliengruppe Aubis, von dem sich die Staatsanwaltschaft Informationen in einem Betrugsverfahren gegen die Aubis-Unternehmer und früheren CDU-Politiker Klaus Wienhold und Christian Neuling erhofft hatte. Diese hatten von der Berlin Hyp für ihr Immobiliengeschäft rund 600 Millionen Mark Kredit erhalten. Der Verbleib von mehreren Millionen Mark ist bislang ungeklärt. »Uneingeschränkte - ich betone das - uneingeschränkte Solidarität.« Zum Verhältnis zu den USA nach dem 11. September »Politik der ruhigen Hand.« Über seinen Regierungsstil »Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft.« Zur Debatte um den Missbrauch von Sozialleistungen »Wegschließen. Und zwar für immer.« »Was macht Ihr Bruder dieser Tage?« Prinz Charles, Ende Februar zu Bakr Bin Laden, dem Halbbruder des schon damals weltweit gesuchten Terroristen Osama Bin Laden »Der 11. September.« Wort des Jahres 2001 der Gesellschaft für deutsche Sprache »Bin Baden.« Fraktionsspott über Verteidigungsminister Rudolf Scharping, der sich in der »Bunten« mit Gespielin beim Planschen abbilden ließ »In unsere Kühe kommt nur Wasser, Getreide und Gras.« Vorschlag von Verbraucherministerin Renate Künast während der BSE-Krise für ein Reinheitsgebot bei Rindfleisch »Ich bin schwul, und das ist auch gut so.« Outing von Klaus Wowereit »Journalisten sind nichts anderes als Fünf-Mark-Nutten.« SPIEGEL: In »Dinner for One« muss Butler James ja laufend trinken. Was war denn in den Gläsern drin? Banuscher: Das hat mich auch interessiert, deshalb habe ich bei der Aufzeichnung aus einem Glas getrunken. Das war nur verdünnter Apfelsaft, in der Blumenvase war richtiges Wasser. Nach Drehschluss trank Freddie Frinton mit Vorliebe Tee. SPIEGEL: Und das Essen? Gab es Fisch? Banuscher: Nein, aber Hühnchen hatte die Requisite schon besorgt. Die beiden Darsteller hatten ansonsten das meiste selbst mitgebracht - einschließlich des Tigerfells. SPIEGEL: Der angetütelte Butler stolpert schließlich so heftig über den Tigerkopf, dass der Teller aus dem Bild fliegt. Wo landete er? Banuscher: Der wurde entweder aufgefangen oder war aus Blech und flog in die Kulissen. Aber die beiden Schauspieler waren Profis, jeder Griff saß. SPIEGEL: Und was passierte, nachdem Miss Sophie mit Butler James - same procedure as last year - über die Treppe entschwand? Banuscher: Einmal sah ich, wie Freddie Frinton seiner Partnerin May Warden zärtlich über den Rücken streichelte. Sie war eine coole, sehr nette Engländerin, keineswegs eine 90-jährige Oma. Sie sagte zu Freddie nur: »Freddie, stop it - I like it.« SPIEGEL: Hatten die beiden im richtigen Leben etwas miteinander? Banuscher: Definitiv. Sie waren ständig zusammen auf Tournee und verhielten sich wie ein Paar. Sie waren beide etwa in den Fünfzigern, und sie war eine sehr attraktive Frau. SPIEGEL: Wie lange wurde damals gedreht? Banuscher: Drei Tage. Abends saßen wir in der Kantine zusammen mit dem Studiopublikum, das aus NDR-Mitarbeitern bestand. Heute erkennen einige noch ihr eigenes Lachen bei den Sendungen. SPIEGEL: Schade nur, dass Sie als Erster Kameramann nicht im Abspann erwähnt werden. Die Post las sich wie eine vorweihnachtliche Werbesendung. Von einer »einmaligen Gelegenheit« war die Rede, die »sich niemand entgehen lassen« solle. »Schnell und bequem übers Internet«, pries der Absender, könnten sich die Angeschriebenen melden - praktischerweise war das entsprechende Formular gleich per Link angehängt. Der Brief, Mitte Dezember per E-Mail an die Mitarbeiter der grünen Bundestagsfraktion verschickt, ist weder Promotion für einen Online-Versand noch Lockangebot für den neuesten Fernseher. Das Schreiben stammt vom Bund-Länder-Koordinator der Grünen, Norbert Schellberg, und ist Teil einer Kampagne, mit der die Realos der Bundespartei den tra- ditionell linken Landesverband der Hauptstadt auf Linie bringen wollen. Angesichts der beschlossenen Verkleinerung des Bundestags gelten nur zwei Berliner Listenplätze als sicher. Verbraucherschutzministerin Renate Künast kandidiert als unumstrittene Nummer eins. Um das aussichtsreiche zweite Mandat rangeln der Altlinke Christian Ströbele, 62, die frühere Gesundheitsministerin Andrea Fischer, 41, und der Ex-Bürgerrechtler Werner Schulz, 51. Ursprünglich sollte die Entscheidung darüber von einer Delegiertenkonferenz getroffen werden. Doch die Realos setzten, erster Erfolg ihrer Strategie, eine Vollversammlung durch. Die Spitze der Bundespartei hätte es gern, wenn die Berliner Grünen am 19. Januar nun in einer Art Grundsatzentscheidung Fischer nominieren - und damit den Wiedereinzug Ströbeles ins Parlament verhindern. Spätestens seitdem Bedenkenträger Ströbele den Widerstand gegen den Kriegseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan organisiert hat, gilt er vielen Spitzengrünen als kaum noch tragbarer »Kronzeuge gegen den eigenen Laden«. Im »Schicksalsjahr 2002« (Berlins grüner Justizsenator Wolfgang Wieland), in dem die Ökopartei um den Wiedereinzug in den Bundestag zittern muss, soll kein notorischer Nörgler den Realos den Wahlkampf vermasseln. Doch die Hauptstadt-Grünen gelten in der Ökopartei als ausgesprochen stur. Schon im Sommer, als die Parteispitze den wendigen Schwaben-Import Cem Özdemir zum Spitzenkandidaten im Berliner Landeswahlkampf machen wollte, verweigerte sich die Basis dem wohlmeinenden Rat der Bundespartei - den Landespolitikern galt die Berlin-Kompetenz des bekennenden Hedonisten Özdemir als zu gering. Das Misstrauen gegenüber den Berliner Alternativen führte nun zur ungewöhnlichen Kandidatenkür durch die Vollversammlung. Seit Wochen trommeln die jeweiligen politischen Lager ihre Anhänger zusammen - unter anderem mit jener E-Mail, mit der Schellberg als Koordinator der »Andrea-Fischer-Support-Group« (Eigenbezeichnung) die Fraktionsmitarbeiter zum Eintritt in den Berliner Landesverband zu animieren versucht. Mit den Stimmen der vorwiegend dem Realo-Flügel zugerechneten Bundestagsmitarbeiter, die in der Vollversammlung schon mitentscheiden dürfen, soll die Bastion Berlin genommen und Fischer gekürt werden. Der »Vorgang Re-Election«, wie intern über den Flügelstreit zwischen Ströbele und Fischer gespottet wird, soll nach dem Willen der Realos zu einer Grundsatzentscheidung über die inhaltliche Ausrichtung der Grünen werden. Das aber mit der Personalfrage zu verknüpfen ist nicht ganz unproblematisch. Der »letzte Mohikaner der Linken« (Wieland über Ströbele) ist zwar in der Afghanistan-Frage unter Druck geraten. Bei innenpolitischen Themen aber gilt Ströbele als ausgewiesener Fachmann, der so profiliert ist, dass der eigentlich zuständige innenpolitische Sprecher der Fraktion, Cem Özdemir, im Vergleich zu ihm zuweilen wie ein Fraktionsassistent wirkt. Punkte machte Ströbele auch im Spenden-Untersuchungsausschuss sowie bei der Aufklärung eines brutalen Polizeieinsatzes in Genua gegen Globalisierungskritiker. Die gelernte Druckerin Fischer will die Ökopartei dagegen mit Themen wie Bio- und Gentechnologie oder der New Economy ins Gespräch bringen. »Beharrende Politik«, stichelt Fischer in Richtung der Linken, könne für die Grünen großen Schaden anrichten. Deshalb müsse Klarheit geschaffen werden: »Die Wahl wird die Partei zwingen, eine Entscheidung mit symbolischer Bedeutung zu treffen.« So viel Bundespolitik geht vielen Berliner Alternativen zu weit. »Die Diskussion um Metropolenprogramm und Modernisierung sollte man im Bundestagswahlkampf tunlichst unterlassen«, droht Wieland. »In Berlin wird gar nichts implantiert.« Und Landeschef Till Heyer-Stuffer kontert vorsichtige Überlegungen der Realos, den Berliner Verband nach Hamburger Vorbild auch organisatorisch zu straffen: »Die Abschaffung der Doppelspitze steht für mich nicht zur Debatte.« Über den dritten prominenten Bewerber um den begehrten zweiten Listenplatz spricht kaum noch einer. Der Mitbegründer von Bündnis 90, Werner Schulz, gilt schon jetzt als großer Verlierer des Duells Fischer-Ströbele. Eigentlich ist Otto Schily, das beweist sein Lebensweg, ein lern- und wandlungsfähiger Mensch. Aus Niederlagen zieht er Schlüsse. Positionen, die nicht zu halten sind, räumt er schon mal. So ist das eben in der Politik. Es gibt freilich auch Punkte, bei denen Schily darauf beharrt, Recht zu behalten. Selbst wenn er nicht Recht hat. Als vor knapp vier Jahren ein Sturm der Entrüstung losbrach, weil Schily ebenso wie die unionsgeführte Vorgängerregierung bei der Einführung des Großen Lauschangriffs nicht darauf verzichten wollte, notfalls auch Redaktionen zu verwanzen, konterte der SPD-Mann kühl: »Für Journalisten steht nichts im Grundgesetz.« (SPIEGEL 6/1998) Am Ende hatten Schily & Co. verloren, der Bundesrat kassierte den offenkundig verfassungswidrigen Angriff auf die Pressefreiheit. Seiner Auffassung ist Schily dennoch bis heute treu geblieben. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit hat die rot-grüne Bundesregierung mit tatkräftiger Hilfe des SPD-Innenministers kurz vor Weihnachten ein Gesetz durch Bundestag und Bundesrat geschleust, das erneut von wenig Problembewusstsein in Bezug auf die Rechte von Medienvertretern zeugt. Der Journalist als Hilfssheriff - diese Rolle soll mit dem »Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung« festgeschrieben werden. Es geht, das klingt ganz harmlos, um die so genannten Telefonverbindungsdaten: Wer telefoniert mit wem? Wer hat wann wohin ein Fax oder eine E-Mail verschickt? Bis zu sechs Monate nach Rechnungsversand dürfen Kommunikationsunternehmen diese Daten speichern, auf die Ermittler dann im Nachhinein zugreifen können. Die Polizei weiß mit dieser Regelung, die jahrelang im Paragrafen 12 des so genannten Fernmeldeanlagengesetzes (FAG) versteckt war, viel anzufangen. Weil die FAG-Regelung von Anfang an befristet war und nun zum Jahresende endgültig ausläuft, drängten die Strafverfolgungsbehörden auf eine Nachfolgeregelung. Denn das Ausspähen der Verbindungsdaten gilt als Wunderwaffe der Kriminalitätsbekämpfung - von der jedoch angeblich niemand sagen kann, wie oft sie angewandt wird. Seit Monaten wird auf diese Weise etwa penibel rekonstruiert, mit wem die Hamburger Todespiloten vom 11. September alles Kontakt hatten. Auch künftig werden zwei neue Paragrafen - 100 g und 100 h -, die nun in der Strafprozessordnung statt im FAG stehen, solche Ermittlungen erlauben. Dabei soll allerdings nur ein Teil der vom Gesetz besonders geschützten »Berufsgeheimnisträger« von den Ausspähungen verschont bleiben: Geistliche, jedenfalls die christlicher Konfessionen, Strafverteidiger - und natürlich Abgeordnete. Wie schon beim Lauschangriff wollen die Parlamentarier Journalisten schlechter stellen als sich selbst. »Unmöglich« findet das der Justiziar des Deutschen Journalisten-Verbandes, Benno Pöppelmann, dessen Verband im Gesetzgebungsverfahren nicht einmal angehört wurde. Dabei hatte die Politik schon Besserung gelobt, als vor Jahren erste Fälle aufgeflogen waren, in denen das Bundeskriminalamt (BKA) Journalisten als unfreiwillige Ermittlungshelfer benutzte. Die »Stern«-Autorin Edith Kohn etwa hatte das BKA 1998 ohne ihr Wissen auf die Spur des in Frankreich untergetauchten Ex-Terroristen Hans-Joachim Klein gebracht. Der einstige Weggefährte des heutigen Außenministers Joschka Fischer hatte immer wieder mit der Reporterin telefoniert. Klein überlegte, sich den Behörden zu stellen, und wollte zuvor seine Sicht der Dinge im »Stern« öffentlich kundtun. Das BKA hatte von dem Kontakt Kleins mit dem Magazin Wind bekommen und besorgte sich die Verbindungsdaten von Kohns privatem Telefonanschluss. Nach 22 Jahren erfolgloser Fahndung war das der Durchbruch: Unter den von Kohn angerufenen Nummern war auch eine im normannischen Dorf Sainte-Honorine-la-Guillaume, wo er sich jahrelang versteckt gehalten hatte. Klein wurde verhaftet. Nicht ganz so erfolgreich war zuvor der Versuch, den untergetauchten Baulöwen Jürgen Schneider mit Hilfe von nichts ahnenden ZDF-Redakteuren aufzuspüren. Es war wieder das BKA, das sich die Verbindungsdaten des Handys von zwei »Frontal«-Redakteuren beschafft hatte, die ebenfalls auf der Suche nach dem Milliardenpleitier waren. Diesmal allerdings führte der Eingriff in das Redaktionsgeheimnis nur zu einem Mittelsmann, den die Polizei schon kannte. Das hessische Justizministerium räumte daraufhin ein, der Fall Schneider lasse »rechtsstaatliche Defizite im Hinblick auf die Pressefreiheit« erkennen. Guido Westerwelle, heute FDP-Chef, kritisierte, der Informantenschutz werde »massiv unterlaufen.« Und der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Joachim Jacob, monierte, der »Schutz des Vertrauensverhältnisses« zwischen Journalisten und ihren Kontaktpersonen müsse »gewahrt bleiben«. So sehen das auch ZDF und »Stern«. Vor dem Bundesverfassungsgericht klagten sie gegen den »rechtswidrigen Eingriff in den Schutzbereich« von Journalisten. Mit wem diese sprechen, sei grundsätzlich ebenso schutzbedürftig wie das, worüber sie reden. Die Praxis der Strafverfolger sei für den »ungestörten und unbeobachten Kontakt zwischen Journalist und Informant auf das höchste Maß« gefährlich, argumentiert ZDF-Anwalt Gernot Lehr. Genau diese »Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit«, so hatte das Verfassungsgericht bereits 1984 befunden, gehöre aber zu »den notwendigen Bedingungen einer freien Presse«. Das Urteil der Karlsruher Richter steht noch aus, obwohl die beiden Verfassungsbeschwerden bereits mehr als drei ("Stern") beziehungsweise fast sechs Jahre (ZDF) dort liegen. Aber schon haben die Abgeordneten im Bundestag entschieden, dass die alten Vorsätze erst mal nicht mehr gelten sollen. Richtig kämpfen für die Rechte der Journalisten wollte im Gesetzgebungsverfahren, das still und leise durchgezogen wurde, niemand. Zwar gab es immer wieder Vorstöße - mal vom Bundesjustizministerium, mal von den Grünen -, aber die waren nur zaghaft vorgebracht. So war an Schily und seinem Ministerium nicht vorbeizukommen. Journalisten werden nun auf 2005 vertröstet. Bis dahin sollen die Erfahrungen ausgewertet und »hinsichtlich der Berücksichtigung von Zeugnisverweigerungsrechten ein den Besonderheiten aller heimlichen Ermittlungsmaßnahmen gerecht werdendes Gesamtkonzept erarbeitet werden«, wie es in der Gesetzesbegründung heißt. Viel Hoffnung darf man da freilich nicht in die Regierung setzen. Dass in Karlsruhe seit Jahren zwei Verfassungsbeschwerden vorliegen, erfuhr Schilys Ministerium erst kurz vor Weihnachten - durch eine Anfrage des SPIEGEL. WOLFGANG KRACH, GEORG MASCOLO Es war der französische Apotheker Émile Coué, der im 19. Jahrhundert die heilsame Wirkung der Autosuggestion entdeckte. Coué stellte fest, dass sich das seelische und körperliche Befinden durch positive, aufbauende Gedanken erheblich steigern lässt. Seine berühmteste Suggestionsformel lautet: »Es geht mir in jeder Hinsicht von Tag zu Tag immer besser.« In Dr. jur. Guido Westerwelle aus 53604 Bad Honnef hat der Apotheker aus dem Städtchen Troyes ein gutes Jahrhundert später einen würdigen Nachfolger gefunden. Dr. Guidos Wohlfühlformel lautet: »Wir haben uns programmatisch erneuert, wir haben uns strategisch erneuert, wir haben uns personell neu aufgestellt.« Die 43 liberalen Abgeordneten im Berliner Reichstag ("eine putzmuntere Opposition") kann Westerwelle, 40, nicht gemeint haben. Bei 54 Jahren liegt das Durchschnittsalter auf den FDP-Bänken - nur die CDU-Abgeordneten bringen es auf noch mehr Jahre. Gleich zwölf der Altkader trauern als Ex-Minister oder Ex-Staatssekretäre der abgewickelten Kohl-Ära nach - immerhin mehr als ein Viertel der Fraktion. Manchem früheren Machtteilhaber fiel es schwer, nach der Wahlniederlage 1998 sich in die Reihen der Opposition zu finden. Frustriert zog sich Ex-Außenminister Klaus Kinkel auf den Posten des »sportpolitischen Sprechers« zurück. Seitdem muss er gelegentlich abends vor leerem Plenum über die Probleme der »Umsatzbesteuerung von Sportanlagen« referieren. Ex-Wirtschaftsminister Helmut Haussmann versuchte, sich 1999 ins Straßburger EU-Parlament abzusetzen. Vergeblich. Inzwischen, spotten die Kollegen, nutzt der Porschefahrer seine Visitenkarte mit dem Bundesadler vor allem, um unter Geschäftsleuten ein wenig Anerkennung zu finden. Zu seinem Bedauern entdeckt der junge Parteichef Westerwelle auch beim Blick auf die hinteren Reihen seiner Fraktion keine Muntermacher. »Wenn die nicht mehr da wären, würde es keiner bemerken«, ätzt ein Spitzenliberaler über die aus dem Osten stammenden Parlamentarier Joachim Günther (Plauen), Klaus Haupt (Hoyerswerda), Karlheinz Guttmacher (Jena) und Jürgen Türk (Kolkwitz). Der Partei mangelt es an Spitzenpersonal. Wehmütig erinnern sich altgediente Liberale an die Helden der Vergangenheit, die angesichts der trüben Gegenwart von Jahr zu Jahr mehr verklärt werden: Männer wie der begnadete linksliberale Programmatiker Karl-Hermann Flach etwa oder der wendige Hans-Dietrich Genscher, der die deutsche Einheit mit aushandelte. Auch der Abgang des kantigen »Marktgrafen« Otto Lambsdorff riss eine große Lücke. Dessen Job als wirtschaftspolitischer Sprecher versucht nun der wackere Rainer Brüderle auszufüllen. Der einstige rheinland-pfälzische Minister für Wirtschaft und Weinbau fühlt sich auf den Berliner Oppositionsbänken für vieles zuständig. Für fast alles eigentlich. Für Weltökonomie beispielsweise. Munter verschickt Brüderle Tag für Tag neue Pressemitteilungen. Allein im vergangenen Jahr waren es 282. Mal ordert er ein »Blitzprogramm gegen stagflatorische Tendenzen«, mal drängt es ihn, »zur Entwicklung salztoleranter Tomaten« Stellung zu nehmen. Für eine gute PR-Pointe pflügt Brüderle allemal den wirtschaftspolitischen Sachverstand unter. »Die Bundesregierung muss T-Aktionären beistehen«, forderte er ausgerechnet am 11. September, als wegen der Terroranschläge in den USA weltweit die Börsen abschmierten. Wegen des »massiv erschütterten Vertrauens«, befand der überzeugte Marktwirtschaftler dabei ohne Scheu, müssten Kleinaktionäre - als wäre die Telekom ein Staatskombinat - »mit einem Bonus beim nächsten Börsengang belohnt werden«. Gut, dass Brüderle seine Forderungen nicht in die Tat umsetzen muss - die Republik hätte wohl Konkurs anmelden müssen. So schlug er vor, jedem Steuerzahler einen Scheck über 1500 Mark auszustellen, um die sieche Konjunktur anzukurbeln. Die Aktion hätte den Staat 45 Milliarden Mark gekostet. Auch der brave Fraktionsspitzenmann Wolfgang Gerhardt gilt den eigenen Leuten - vorsichtig formuliert - nicht als Spitzenbesetzung: Wahlweise wird er als »schnarchender Löwe« (Hans-Dietrich Genscher), »lahme Ente« (Wolfgang Kubicki) oder »kleines Licht« (Jürgen Möllemann) charakterisiert. Dem gelernten Erziehungswissenschaftler ist es nie gelungen, sich im Wahlvolk populär zu machen. Als Gerhardt noch Parteichef war, im Februar 2001, konnten 28 Prozent der repräsentativ für den SPIEGEL befragten Bürger mit seinem Namen nichts anfangen. Zudem haftet Gerhardt der Ruf eines chronischen Verlierers an. Unter seinem Vorsitz - und mit Westerwelle als Generalsekretär - schafften es die Liberalen wieder nicht ins Europaparlament und flogen aus 12 von 16 Landtagen. Aufwärts ging es erst, als die Union abstürzte. Helmut Kohls schwarze Kassen bescherten den Christdemokraten Anfang 2000 die schwerste Krise ihrer Geschichte - und verschafften den Liberalen eine unverhoffte Sonderkonjunktur. Bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein im Februar 2000 legte die FDP zum ersten Mal seit langem zu, von 5,7 Prozent auf 7,6 Prozent. In ihrer Verzweiflung über die Union stimmten viele CDU-Anhänger notgedrungen für die zweite Partei im bürgerlichen Lager. Von »Windfall Profits«, also einem unerwarteten Geschenk, spricht denn auch Ex-Parteichef Gerhardt ehrlicherweise. Besonders üppig war die Gabe im Oktober in Berlin, als der belächelte CDU-Spitzenmann Frank Steffel die FDP unfreiwillig von 2,2 auf 9,9 Prozent katapultierte. Ein Sonderfall, das gibt selbst Westerwelle zu - der ansonsten liberale Krisengewinne konsequent in »eigenständige Stärke« umdeutet. Dabei sind die Wahlanalysen klar: Ob in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen oder Berlin - bei den vergangenen Wahlen profitierten die Liberalen fast ausschließlich von der Schwäche der Union. Der Göttinger Parteienforscher Peter Lösche schätzt, dass sich die Stammwählerschaft der FDP gerade bei 3,5 Prozent bewegt. Westerwelle selbst jedoch räumt höchstens ein, dass sich »etwa ein Drittel« der neu gewonnenen Popularität aus vergrätzten Unionschristen speist. Die Meinungsforscher von NFO Infratest sehen die Liberalen derzeit bei 8 Prozent, die von Allensbach gar bei stolzen 11,5 Prozent. Um sich nun der Zielmarke »18 Prozent« zu nähern, legen die FDP-Chefstrategen in atemraubender Geschwindigkeit immer neue Grundsatzpapiere vor. Binnen weniger Jahre mutierte die »Partei der Besserverdienenden« (Ex-Generalsekretär Werner Hoyer) zur »bürgerlichen Protestpartei« (Ex-Generalsekretär Westerwelle) und schließlich zur selbst ernannten »Partei für das ganze Volk« (FDP-Chef Westerwelle). Selbst alte Liberale sind da manchmal überfordert. »Es fällt uns zunehmend schwer«, stöhnt Ex-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, »den Menschen zu erklären, wofür wir eigentlich stehen.« Pluspunkte könnte die FDP als Hüterin der Bürgerrechte sammeln - doch diese Rolle hat Westerwelle weitgehend abgestreift. Zwar stimmte die FDP im Bundestag gegen die umstrittenen neuen Sicherheitsgesetze, doch spätestens seit die Hamburger Parteifreunde ein Bündnis mit dem Rechtspopulisten Ronald Schill eingingen, hat die FDP als Bürgerrechtspartei ein »Glaubwürdigkeitsproblem«, nörgelte Leutheusser-Schnarrenberger intern. Der Parteichef hüpfte derweil von Kampagne zu Kampagne. Aber keine von ihnen wollte richtig zünden. Die Abschaffung der Wehrpflicht? Niemand ging dafür auf die Straße. Der Aufstand gegen zu hohe Steuern? Ausgeblieben. Die FDP als Partei für »Nächstenliebe und Herzensbildung«, von der Westerwelle im Frühjahr 2000 in einem Grundsatzpapier schwärmte? Ein Fall für Harald Schmidt. Nach einer Forsa-Umfrage sind die FDP-Anhänger nach wie vor »westlicher, männlicher, ,überbildeter'', in höheren sozialen Schichten angesiedelt und reicher als das ,Volk'' insgesamt«. Und vor allem: Sie wollen gar nicht, dass die FDP die Interessen aller vertritt, sondern »erwarten, dass die Partei für ihre Interessen, nämlich die der ,Besserverdienenden'' eintritt und kämpft«. Als lohnenswerte Klientel ortete Westerwelle die »Generation @«, die jungen, schnittigen Internet-Freaks, die in Hinterhöfen und schicken Lofts neue Firmen gründeten, die Karriere machen wollten und Geld, die konsumfreudig und trendy waren, auf den Sozialstaat ebenso pfiffen wie auf die IG Metall, und die vom Staat allenfalls erwarteten, dass er sie in Ruhe ließ. Diese jungen Leute seien »cool, in und unkonventionell«, schwärmt der Parteichef, der die gleichen Adjektive gern auch für sich selbst in Anspruch nimmt. Doch mittlerweile ist die »Generation @« verkatert, die Internet-Blase geplatzt, der Nemax, der Börsenindex der deutschen Wachstumswerte, von 8000 auf 1100 Punkte abgestürzt. Einst trendige Online-Firmen wie Pixelpark feuern einen großen Teil ihrer Mitarbeiter, und plötzlich sind selbst Meetings beim Betriebsrat in. Am FDP-Spitzenpersonal geht die Krise noch vorbei. Schon berauschen sich die Liberalen an der Vorstellung, bald an der Seite Gerhard Schröders in die Regierung einzuziehen. Er komme jederzeit gern wieder »zu einer schönen Zigarre ins Kanzleramt«, diente sich Westerwelle erst kürzlich ungefragt als Koalitionspartner an. »Mancher von uns«, höhnt ein Spitzenliberaler, »wähnt sich längst im Ministersessel.« So übt Wolfgang Gerhardt fleißig für eine Karriere im Außenamt. Durch das aufmerksame Studium der englischsprachigen Ausgabe der »Frankfurter Allgemeinen« bessert er seinen Vokabelschatz auf. Jürgen Möllemann hält sich für »sehr wohl in der Lage«, das Amt eines »Zukunftsministers« unter anderem für Verkehr, Bildung, Kultur und Sport angemessen auszufüllen. Die beiden Weltökonomen Rainer Brüderle und Günter Rexrodt wollen beide denselben Job: das Amt des Wirtschaftsministers. Unter CDU-Kanzler Kohl war Rexrodt, der seinen frisch erworbenen Platz im Berliner Abgeordnetenhaus schon bald zielstrebig verlassen will, damit schon einmal hart gefordert. Westerwelles Versprechen, auch Jüngeren eine Chance zu geben, empfinden die Parteisenioren eher als Drohung. Der Generationswechsel wird deshalb wohl dauern. Liberale Jungtalente wie der Berliner Martin Matz, die baden-württembergische Spitzenkandidatin Birgit Homburger oder Daniel Bahr, der Chef der Jungliberalen, werden warten müssen, bis die Alten in Pension gehen. Und so kann der neue Parteichef vor allem auf eines stolz sein: Noch nie hat es ein FDP-Vorsitzender so oft ins Fernsehen geschafft wie er. Allein im Jahr 2001 fünfzehnmal bei »Sabine Christiansen«, fünfmal in Maybrit Illners »Berlin Mitte«, zweimal bei »Friedman«, zweimal bei »Talk in Berlin«, zweimal »Zu Gast bei Manfred Schell« und jeweils einmal bei »Maischberger« und im »Grünen Salon«. Guido Westerwelles Bilanz: »2001 war ein richtig gutes Jahr!« KONSTANTIN VON HAMMERSTEIN, ALEXANDER NEUBACHER Die Revolution sollte beginnen im feinen Berliner Bordell »Café Pssst!": Bereits im Herbst trommelte Besitzerin Felicitas Weigmann, Vorkämpferin für die Legalisierung der Prostitution, ihre rund 50 Damen zusammen, um ihnen reguläre Arbeitsverträge anzubieten. »Aber die Kolleginnen zaudern noch«, klagt Weigmann, 44, »die wollen sich erst mal anschauen, wie das neue Gesetz in der Praxis umgesetzt wird.« Mit Beginn des neuen Jahres gilt das neue Prostituiertengesetz, es legalisiert das Gewerbe. Nun haben Huren die Möglichkeit, sich sozial abzusichern. Sie dürfen zudem entscheiden, ob sie selbständig oder als Angestellte arbeiten wollen. Außerdem können sie ihren Lohn einklagen, denn sexuelle Dienstleistungen gelten nicht mehr als sittenwidrig. Aber bislang weiß noch kaum eine der schätzungsweise 400 000 Prostituierten in den Bordellen zwischen Flensburg und Konstanz, inwieweit sich ihr Job nun ändern soll. »Da ist noch viel Aufklärungsbedarf«, sagt Andrea Petsch von der Berliner Hurenorganisation Hydra. Kündigungsfristen, Krankengeld oder Urlaub sind den Frauen noch völlig fremd. Und auch Verwaltungsspezialisten in Behörden und Versicherungen grübeln, wie sie mit den neuen Kundinnen umgehen sollen. So weiß die Chefin des Leipziger Gewerbeamtes, Helga Kästner, überhaupt noch nicht, »wie das alles laufen soll«. Müssen Straßenhuren einen Reisegewerbeschein beantragen? Zählen Prostituierte, die in einem Haus ihre Dienste anbieten, zum »stehenden Gewerbe«? Ist also die Gewerbeaufsicht für Bordelle zuständig? »Wir können derzeit noch nicht sagen, welcher Rentenversicherungsträger zuständig ist«, sagt Karin Klopsch von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Die Spitzenverbände wollen sich in den kommenden Wochen darüber verständigen, ob Huren der Angestellten- oder der Arbeiterrentenversicherung zugeordnet werden. Gelassenheit herrscht dagegen bei den Krankenkassen. »Prostituierte werden behandelt wie andere Kunden auch«, sagt Ulrike Zeising von der AOK in Hamburg. Drei Huren sind bereits in der Hansestadt versichert. Zeising hofft, dass es jetzt deutlich mehr werden. Von der Legalisierung der Prostitution will auch der Fiskus profitieren. Zwar waren Einnahmen aus dem ältesten Gewerbe der Welt immer schon steuerpflichtig - aber die wenigsten Huren zahlten. Wenn das Gewerbe nun in jeder Hinsicht legal sei, meint Erwin Küster, Chef der Steuerfahndung Stuttgart, müsse sich auch daran etwas ändern: »Da gibt es eine ganze Berufsgruppe, die bisher jeder Steuerpflicht entronnen ist. Dabei steht das Geld regelrecht auf der Straße.« Die Oberfinanzdirektion (OFD) Stuttgart hat inzwischen ein besonderes Steuermodell entwickelt. Bordelliers und Prostituierte erhielten in den vergangenen Monaten verstärkt Besuch von der Steuerfahndung. Die Ermittler kamen mit dem Angebot, die Wirte sollten künftig einen Pauschbetrag von 50 Mark pro Hure und Arbeitstag an das Finanzamt abführen. Damit seien dann, so heißt es im Konzept, »Ertragssteuern, Solidaritätszuschlag und Umsatzsteuer« abgegolten. Der Leiter der OFD-Abteilung Betriebsprüfung, Günther Borst, ist zuversichtlich, dass sich das durchsetzen lässt. »Wenn bekannt wird, dass die Steuerfahndung häufiger ein Etablissement durchsucht und die Freier ihre Personalien abgeben müssen, ruht da der Verkehr, und das Geschäft bricht zusammen.« Vom Wegfall der Sittenwidrigkeit könnten noch andere profitieren. In der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di seien Huren und Callboys als Mitglieder willkommen, versichert Harald Reutter von der Berliner Zentrale. »Uns schwebt vor, die Beratung der Frauen im Hinblick auf ihre soziale Absicherung in den Mittelpunkt zu stellen.« In den Arbeitsämtern ist der Umgang mit den neuen Kunden bereits geregelt. Es sei aber schon »eine komische Vorstellung, dass Huren Arbeitslosengeld bekommen sollen«, meint Hermann Leistner vom Leipziger Arbeitsamt. Voraussetzung: Sie müssen innerhalb der vergangenen drei Jahre mindestens zwölf Monate beschäftigt gewesen sein und Sozialversicherungsbeiträge gezahlt haben. Als die Haushälter der rot-grünen Koalition bockten, griff Rudolf Scharping zur großen Keule. »Wenn Sie die schwerste Krise in der europäischen Außenpolitik und zugleich die schwerste Krise im deutsch-französischen Verhältnis in den letzten fünf Jahrzehnten produzieren wollen«, blaffte der Wehrminister, »dann müssen Sie das Projekt zerstören.« Im Haushaltsausschuss ging es um das europäische Transportflugzeug - und um mehr als 16 Milliarden Mark, die der Steuerzahler für den geplanten Kauf von 73 Fliegern aufbringen soll. Die Abgeordneten pochten auf ihr verbrieftes Parlamentsrecht: eine ordentliche Beschaffungsvorlage samt Auskunft über die Finanzierung der Airbusse, die von 2008 an betagte Transall-Maschinen aus deutsch-französischer Co-Produktion ersetzen sollen. Doch weil Scharping die Verträge noch vor Jahresende schließen wollte, setzte er einfach Fakten. Kanzler Gerhard Schröder und die Chefs der Koalitionsfraktionen machten mit: Die Geldfrage werde mit dem Bundeshaushalt 2003 gelöst, verwies der Verteidigungsminister die Abgeordneten und unterschrieb - »vorbehaltlich der Zustimmung des Deutschen Bundestags«. Der Vorbehalt ist ohne Wert. Wie soll das Parlament denn ein Projekt wieder stoppen, an dem sich mindestens acht Länder beteiligen wollen und an dem Zehntausende Arbeitsplätze hängen? Wer wollte einen Ausstieg verantworten bei Verträgen, die Ausgleichsleistungen an die anderen Partner verlangen für den Fall, dass ein Land nicht die geplante Anzahl von Maschinen abnimmt - wo das Abbestellen mithin genauso teuer wird wie das Kaufen? Die Regierungs-Dampfwalze rollte wie bei Scharpings Milliardending im Dezember gleich mehrmals über das Parlament. Am letzten planmäßigen Sitzungstag vor dem Jahreswechsel wurden - ruck, zuck - gleich mehrere historische Reformvorhaben und umwälzende Gesetze durch den Bundestag gejagt, etwa Otto Schilys Paket zur Terrorbekämpfung oder das Arznei-Sparpaket der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Unter künstlichen Zeitdruck gesetzt, fühlten sich viele Volksvertreter zur Abstimmungsmaschine degradiert. Besonders bei Schilys Anti-Terror-Gesetz wusste kaum ein Parlamentarier, worüber er eigentlich abstimmte. Dabei ging es um grundlegende Fragen wie die, ob Ermittler künftig leichter in Bankkonten schnüffeln und Telefonate abhören dürfen. Bei der komplizierten Vorlage aus dem Innenressort blickten sogar die meisten SPD-Fachpolitiker nicht durch. »Höchstens 4« von 17 sozialdemokratischen Ausschussmitgliedern hätten die Schlussverhandlungen mit den Ministerialbeamten bestritten, so ein Teilnehmer. Erst wenige Stunden vor der abschließenden Ausschusssitzung sah sich der Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz (SPD) in der Lage, den Kontrahenten von der Opposition das zusammengehudelte, 30 Seiten starke Bündel von Änderungsanträgen auszuhändigen. Entsprechend ahnungslos gingen die meisten der 666 Volksvertreter zur Abstimmung. Erst hinterher klärte Wiefelspütz die willfährigen Genossen darüber auf, wofür sie brav die Hand gehoben hatten: Er schickte ihnen die »wichtigsten Änderungen« per E-Mail ins Büro. Anders als beim Otto-Katalog konnte sich bei Jürgen Trittins Atomausstieg niemand darauf berufen, die Regierenden hätten ihn überfahren. Jeder, der wollte, konnte die Gesetzesnovelle ausgiebig studieren. Sie lag seit Monaten vor. Der Umweltausschuss hatte Fachleute und Verbände gehört, der Bundesrat Änderungen angeregt. Trotzdem blieb den Abgeordneten auch in diesem Fall am Ende nur die Statistenrolle: Regierung und Stromkonzerne hatten die Ausstiegsvereinbarung im Juni 2000 paraphiert - und rund ein Jahr später ein Gesetzeswerk abgesegnet, bei dem nicht nur die Paragrafen, sondern auch die Begründung Wort für Wort abgestimmt waren. Für die Koalition kam dies einer faktisch verbindlichen Vorgabe gleich. Entscheidungen solcher Tragweite müssten »im Parlament und nicht in Kaffeekränzchen am runden Tisch« getroffen werden, erregte sich die FDP-Abgeordnete Birgit Homburger bei der ersten Lesung im September. Zum »reinen Abnickautomaten« würden die Abgeordneten degradiert, wütete Christian Ruck von der CSU. Das Parlament lieferte den Beleg. Gegenüber der ersten Vorlage änderten die Volksvertreter an dem Gesetzesentwurf kein Komma: Ohnmacht pur. Viele Parlamentarier zogen es während der Debatte vor, unweit vom Reichstag über die weihnachtlich beleuchtete Friedrichstraße zu bummeln. Auch der laute Protest der Union gegen Scharpings eigenmächtige Transportflieger-Verträge - CDU-Haushälter Dietrich Austermann drohte mit Verfassungsklage - entpuppte sich als Blendwerk. In Wahrheit will die Union das Projekt nicht stoppen, schon wegen der Freundschaft zu Frankreich. Und so beließ es die CDU/CSU-Fraktionsführung bei einem Schreiben an Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) - mit der artigen Bitte, Scharping auf die »Vorgaben« des Haushaltsrechts und der Verfassung »hinzuweisen«. GERD ROSENKRANZ, ALEXANDER SZANDAR SPIEGEL: Frau Merkel, Alice Schwarzer sieht Sie als Paradebeispiel für die Misere der Frauen in Führungspositionen: trotz demonstrativer Weiblichkeit nur halbe Frau, trotz erkämpfter Männlichkeit nur halber Mann. Merkel: Ich bin da optimistischer. SPIEGEL: Warum? Merkel: Die heutige Generation profitiert schon sehr von der Frauenbewegung der siebziger und achtziger Jahre. Spitzenpositionen werden in Zukunft nicht mehr nur im Wettstreit Frauen gegen Männer besetzt, sondern viel stärker über Interessenstrukturen. Und im Übrigen, was meine Biografie angeht: Ich habe mir meinen Weg immer selbst gewählt. SPIEGEL: Fühlen Sie sich einsam an der Spitze der CDU? Merkel: Nein. An der Spitze der CDU muss ich natürlich bestimmte Entscheidungen allein treffen und sie dann auch verantworten. Das ist aber etwas anderes als Einsamkeit. Es ist meine Aufgabe, Menschen von Dingen zu überzeugen, die ich für rich- tig halte, auch wenn ihnen nicht jeder von vornherein anhängt. Das Gute und manchmal auch Gewagte besteht darin, Mehrheiten für Dinge zu organisieren, bei denen die Mehrheit noch nicht auf der Straße liegt. Das ist oft ein Balanceakt. SPIEGEL: Haben Sie mit Ihren Vorgängern Wolfgang Schäuble und Helmut Kohl einmal über die Art der Führung der Partei gesprochen? Merkel: In einzelnen Fragen schon. Aber man geht ja nicht hin und macht ein theoretisches Seminar. Jeder hat schließlich seinen persönlichen Stil. SPIEGEL: Kann es nicht gerade spannend sein, voneinander zu lernen? Merkel: Ich habe beide lange beobachtet, wie sie die Partei geführt haben. Daraus habe ich viel gelernt. Ich bin ja nicht blind und taub. SPIEGEL: Wie ist denn heute Ihr Verhältnis zu Helmut Kohl? Merkel: Gut. Entspannt. SPIEGEL: Hatten Sie manchmal Angst vor dem Einfluss seiner Seilschaften? Merkel: Ich glaube, mein politischer Weg zeigt, dass ich nicht ängstlich bin. Ich habe heute ein gutes Verhältnis zu ihm und frage ihn auch um Rat. SPIEGEL: Bis vor drei Jahren lautete das gängigste Etikett für die CDU, sie sei ein »Kanzlerwahlverein«. Ist die Partei jetzt aus dem Schatten des Patriarchen Kohl herausgetreten? Merkel: Wenn ich sehe, wie schnell sich die SPD in den letzten drei Jahren in einen Kanzlerwahlverein verwandelt hat, dann waren wir dagegen eine sehr lebendige Partei nach 16 Jahren Regierungszeit. Und das war schon eine gewaltige Leistung, wenn man bedenkt, dass Helmut Kohl 25 Jahre lang CDU-Vorsitzender war. SPIEGEL: Ist Kohl inzwischen das Denkmal, zu dem Sie ihn machen wollten? Merkel: Das ist Ihre Formulierung. Helmut Kohl ist in seinen historischen Leistungen in der Partei anerkannt. Das ist sehr wichtig für die Identität der CDU, denn es gibt Zigtausende von Mitgliedern, die ihre politische Leistung eng in der Bindung an Helmut Kohl betrachten. Es wäre völlig falsch, das nicht zu achten. Wo er Fehler gemacht hat, haben wir sie benannt. Und es ist klar, dass die operative Tagespolitik von einer neuen Generation gestaltet wird. SPIEGEL: An der Schwelle zum Bundestagswahljahr fällt Ihre Partei durch Streit auf - sei es um die Kanzlerkandidatur, sei es um Sachthemen wie die Zuwanderung. Halten Sie die Union für regierungstauglich? Merkel: Auf jeden Fall. Wenn man einmal historisch auf den Abschnitt zwischen 1998 und 2002 zurückblicken wird, wird man feststellen, wie rasch die CDU aus der Wahlniederlage gelernt und sich programmatisch erneuert hat. Der Parteitag in Dresden war Ausdruck einer neuen Etappe im Leben der CDU. Auch unser Erscheinungsbild ist in vielen Fragen zeitgemäßer geworden. SPIEGEL: Das ist auch nötig, wenn Sie wieder stärkste Partei werden wollen. Welche Wähler haben Sie besonders im Auge? Merkel: Beispielsweise die über 60-Jährigen. Die machen mindestens ein Drittel unserer Wähler aus. Unser Bild vom Rentner als Wähler ist an manchen Stellen zu simpel. Man stellt sich da jemanden vor, der sich um seine Rente sorgt und froh ist, dass er zu Hause sitzt. Es gibt aber sehr viele, die mit dem Ruhestand eine ganze neue aktive Lebensphase beginnen. Auch die Frauen zwischen 30 und 50 Jahren haben uns 1998 mehrheitlich nicht gewählt. Das hatte mit manchen Punkten unserer Familienpolitik und des Frauenbildes zu tun, das die CDU vermittelt hat. Wir haben zwar zu Recht über die Rolle der Mutter, der Hausfrau, der ehrenamtlich tätigen Frau gesprochen. Die berufstätige Mutter muss uns andererseits auch viel wert sein. Die hat man bei der CDU aber eher nicht vermutet. SPIEGEL: Wer eine berufstätige Frau hat, ist also noch kein Linker? Merkel: Richtig, und wer die Rolle der Hausfrau ehrt, ist dennoch ein Politiker der Mitte. SPIEGEL: Wie würden Sie denn die politische Mitte in Deutschland definieren? Merkel: Die politische Mitte ist eine variable Größe, sie verschiebt sich immer wieder. Ich stelle mir die Mitte als einen Punkt vor: Wenn man die Skala rechts und links von diesem Punkt in drei Abschnitte einteilt, müssen wir von dem mittleren Drittel der Wähler den größeren Teil bekommen. Das ist unser Anspruch als Volkspartei der Mitte. SPIEGEL: Da spricht die Naturwissenschaftlerin. Steht Roland Koch auch für die politische Mitte? Merkel: Ja, definitiv. SPIEGEL: Und Edmund Stoiber? Merkel: Wenn Sie in einem Land wie Bayern über 50 Prozent der Menschen gewinnen, müssen Sie in der Mitte fast alle Wähler überzeugt haben. SPIEGEL: Aber die politische Mitte Bayerns liegt möglicherweise woanders als im Rest der Republik. Merkel: Genauso wie die politische Mitte von Schleswig-Holstein oder Nordrhein-Westfalen woanders liegt als die der gesamten Bundesrepublik. Das hängt von den unterschiedlichen Prägungen und Erwartungen ab. Die politische Mitte definieren nicht wir, sondern die Menschen. SPIEGEL: Hat sie sich seit dem 11. September nach rechts verschoben? Merkel: Sie hat sich in eine Richtung verschoben, die dem Staat eine höhere Bedeutung beimisst und das Sicherheitsbedürfnis gegenüber der individuellen Freiheit betont. Warum sollte das ein Ruck nach rechts sein? Wir reiben uns jedenfalls die Augen, wie Otto Schily inzwischen unsere Konzepte zur inneren Sicherheit abschreibt. Genauso wird durch die Ergebnisse des Schülertests Pisa plötzlich das Thema Leistung wieder ganz modern. Das hätten viele doch kaum für möglich gehalten. SPIEGEL: Beim CDU-Parteitag in Dresden war der Beifall der Delegierten immer dann besonders laut, als es um konservative Werte ging. Merkel: Was ist denn für Sie ein konservativer Wert? SPIEGEL: Wir meinen etwa den Jubel für die Geschichte, die Edmund Stoiber in Dresden den Delegierten erzählte: dass Gerhard Schröder angeblich einer Gruppe von Christen ein Holzkruzifix zurückgeschickt hat, weil er dafür keinen Platz hatte im Kanzleramt. Stoibers theatralische Empörung bekam den längsten Zwischenapplaus auf dem ganzen Parteitag. Merkel: Das stimmt, weil er den Finger in eine Wunde gelegt hat. Keine Gesellschaft kann ohne Bezug auf ein kulturelles oder religiöses Fundament auskommen. SPIEGEL: Dabei stimmte Stoibers Geschichte noch nicht einmal. Aber auch als Sie sich in Ihrer Rede gegen mehr Zuwanderung aussprachen, erhielten Sie mehr Applaus als an der Stelle, wo Sie sagten, ein gewisses Maß an Zuwanderung könne auch sinnvoll sein. Merkel: Bestimmte Aussagen schaffen Identifikation und sind wichtig für die Seele der Partei. Und doch darf sich die CDU niemals darauf beschränken. Ich habe in meiner Rede auch den Wert von Ehe und Familie betont und trotzdem gesagt: Auch Menschen mit einer gescheiterten Beziehung müssen eine Chance haben. Eine Parteivorsitzende hat nicht die Aufgabe, lediglich eine Rede zu halten, bei der die größten Beifallsstürme zu erwarteten sind. Politische Führung ist mehr. Als Parteivorsitzende kann ich auch ab und an eine Zumutung, die ich für notwendig halte, oder eine Weiterentwicklung verlangen. Interessanterweise ist die Partei dazu bereit - nicht immer enthusiastisch, aber aus Klugheit. SPIEGEL: Unser Schluss lautet: Die CDU ist konservativer als ihre Vorsitzende. Merkel: Nein. Es werden oft Bilder gemalt, die meiner Persönlichkeit nur sehr bedingt entsprechen. Viele haben sich nicht vorstellen können, dass ich für die friedliche Nutzung der Kernenergie bin oder dass ich zum Patriotismus und zum Vaterland eine sehr emotionale Beziehung habe - vielleicht aus der Zeit der DDR, als man nicht sagen durfte, dass man Deutscher ist. Da bekomme ich oft zu hören: Das hätten wir bei Ihnen aber nicht erwartet. SPIEGEL: Wie erklären Sie sich denn Ihr Bild in den Medien? Wenn Schröder müde ist, heißt es, er sei erschöpft. Bei Ihnen heißt es, Sie seien schrecklich müde oder gar überfordert. Roland Koch wird als »Steher« bei politischem Gegenwind gelobt, über Sie heißt es, Sie seien machtversessen. Merkel: Na ja, das ist ein wenig überzogen. Ich habe aber neulich beispielsweise in der Marinetechnikschule in meinem Wahlkreis in Stralsund mit Soldatinnen und deren Vorgesetzten gesprochen. Die Offiziere sagten, ihre Soldatinnen seien so unglaublich tapfer. Da musste ich schmunzeln, weil das Wort »tapfer« auch in Artikeln über mich auftaucht. Dass Roland Koch »tapfer« sei, habe ich noch nicht gelesen - obwohl er es ist. SPIEGEL: Frauen an der Macht sind eher eine Ausnahme - überall auf der Welt, auch in Deutschland. Ist die Gesellschaft schon reif für eine Kanzlerin? Merkel: Im Grundsatz ja. Ähnlichkeiten und Bezüge zu lebenden Personen wären jetzt aber rein zufällig. SPIEGEL: In nur zwölf Jahren haben Sie rasant Karriere gemacht. Was sagen Sie jemandem, der Ihnen zuruft: »Hör auf zu rennen. Du bist jetzt am Ziel«? Merkel: Das sagt ja keiner. Ich bin ja kein Hamster im Laufrad. SPIEGEL: Wir haben gehofft, Sie sagen jetzt, ich bin doch noch gar nicht am Ziel. Merkel: Na klar, ich lebe doch, und im Übrigen möchte ich am Ende des Jahres 2001 nicht am Ende meines politischen Weges sein. SPIEGEL: Warum sagen Sie nicht ganz einfach: »Ich will Kanzlerkandidatin werden«? Sie dementieren das ja nicht einmal mehr. Merkel: Sie hören von mir immer wieder dasselbe: Edmund Stoiber und ich machen Anfang nächsten Jahres einen Vorschlag. Das ist eine Absprache, die den Parteivorsitzenden eine relativ große Verantwortung in die Hand gibt. Ich bin mir dieser Verantwortung durchaus bewusst. SPIEGEL: Mit welchen Attributen würden Sie das derzeitige Klima in der CDU-Spitze beschreiben? Merkel: Verantwortungsvolle Gespanntheit. Ich finde, dass seit meinem Amtsantritt als Parteivorsitzende das Gefühl für die Gesamtverantwortung mit der Nähe zum Wahltermin zunimmt - und das Gefühl, wir können gewinnen. SPIEGEL: Kürzlich sprach sich der saarländische Ministerpräsident Peter Müller in einem Hintergrundgespräch für Stoiber aus. Sie haben ihn gerüffelt, er hat Besserung gelobt. Ist damit ein Ende der Machtkämpfe und Intrigen erreicht? Merkel: Ich gebe Ihnen eine ganz ernsthafte Antwort: Es hat etwas Zerstörerisches, dass man in der Politik fast nichts mehr sagen kann, ohne dass es öffentlich wird. Bei einem Gespräch zwischen mehr als zwei Personen ist das nahezu ausgeschlossen, und selbst bei einem Vier-Augen-Treffen ist es schon mit Gefahren verbunden. Es zeigt, dass sich viele nicht zutrauen, Weichenstellungen ohne Rückkoppelung mit der Öffentlichkeit zu treffen. Darin besteht - bei allen Schwächen - eine Stärke der Bundesregierung. Bei ihr liest man über ganze Entscheidungsprozesse nichts, bis sie einen gewissen Punkt erreicht haben. SPIEGEL: Warum schleichen die Mächtigen - gleichgültig in welcher Partei - eigentlich immer so lange umeinander herum, statt sich offen die Meinung zu sagen? Warum sind die Leitwölfe in der direkten Konfrontation oft so konfliktunfähig? Merkel: Ich glaube nicht, dass die Frage ausgerechnet an mich besonders treffend ist. Mächtige, die nicht über die Fähigkeit zur direkten Auseinandersetzung verfügen, sind keine wirklich Mächtigen. SPIEGEL: Frau Merkel, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Angela Merkels Karriere 1954 Geburt in Hamburg. Weil der Vater eine Pfarrei im Brandenburgischen übernimmt, siedelt die Familie in die DDR über. 1973 bis 1978 Studium der Physik in Leipzig. Anschließend wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Institut der Ost-Berliner Akademie der Wissenschaften. 1986 Promotion zum Dr. rer. nat. 1990 Stellvertretende Sprecherin der letzten DDR-Regierung. Eintritt in die CDU. Ab Dezember CDU-Bundestagsabge- ordnete in Bonn. 1991 Ministerin für Frauen und Jugend in der Regierung von Helmut Kohl. 1994 Umweltministerin. 1998 CDU-Generalsekretärin unter dem neuen Parteichef Wolfgang Schäuble. 2000 Im April Wahl zur CDU-Vorsitzenden. Es trifft schon zu, was der Volksmund sagt: zwei Juristen, zwei Meinungen, mindestens. Als der Hamburger Vorsitzende Richter Wolfgang Göhlich am 13. Oktober 2000 das Urteil der Großen Strafkammer 3 des Landgerichts gegen den damaligen Amtsrichter Ronald Schill verkündete - 12 000 Mark Geldstrafe wegen Rechtsbeugung -, wies er Gerüchte, die Anklage sei auf ein Komplott der Staatsanwaltschaft oder dunkler Mächte zurückzuführen, entschieden zurück. »Nur einer ist ursächlich geworden für den Anklagevorwurf - und das sind Sie, Herr Schill!«, sagte Göhlich. »Ihr Verhalten, Herr Schill, war ein bewusster, vorsätzlicher Verstoß gegen das Verfahrensrecht und damit gegen das Grundgesetz.« Und, als hätte er es geahnt, fügte er hinzu: »Wir wissen nicht, was der Bundesgerichtshof dazu sagen wird. Wir haben uns jedenfalls intensiv bemüht, eine Entscheidung zu treffen, die Recht und Gesetz entspricht, und meinen, dass der festgestellte Sachverhalt und unsere Schlussfolgerungen letztlich nicht angreifbar sind.« Worum es geht: Schill hatte am 19. Mai 1999 einen Mann aus der Autonomenszene der Roten Flora, des umstrittenen »Stadtteil-Kulturzentrums« im Hamburger Schanzenviertel, wegen Nötigung der Polizei zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten ohne Bewährung verdonnert (der Staatsanwalt hatte sechs Monate auf Bewährung für angemessen gehalten, das Landgericht reduzierte das Strafmaß später auf 1800 Mark Geldstrafe). Viele von Schills drakonischen Urteilen hielten der nächsten Instanz nicht stand. Doch nicht das war es, was ihm den Vorwurf der Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung eintrug, sondern, verglichen mit seinen Urteilen, fast eine Lappalie: Er hatte gegen zwei Zuschauer, die sich in jener tumultuarischen Sitzung im Mai ungebührlich verhielten, je drei Tage Ordnungshaft verhängt und den sofortigen Vollzug angeordnet. Dagegen legten die Festgenommenen sofortige Beschwerde ein. Doch Schill ließ sich Zeit. Er bearbeitete die Sache nicht am selben Tag, sondern erst am nächsten und ließ sie dann noch einmal liegen bis zum Nachmittag des übernächsten Tages. Nun erst brachte er sie zum Hanseatischen Oberlandesgericht, der Rechtsmittelinstanz. Nach einer Stunde Beratung hob ein Senat Schills Beschluss wegen Mängel in der Sachdarstellung auf. Da hatten die Festgenommenen die drei Tage Ordnungshaft schon fast verbüßt. Schill waren die Beschwerden damals unverzüglich in die Sitzung gebracht worden. Er habe dies, sagte er später, »nicht wahrgenommen«. Richter Göhlich glaubte ihm das nicht: »Wir sind doch nicht Greenhorns in diesem Geschäft! Wenn während der Hauptverhandlung jemand reinkommt und ein Schriftstück bringt, das merkt man doch! Da stand groß und deutlich ,Beschwerde' drauf!« Ein Richter könne nicht einfach den Griffel fallen und die Arbeit liegen lassen, sagte Göhlich: »Haftsachen sind immer eilbedürftig. Hier musste man sich nicht in Akten einlesen, Herr Schill. Sie kannten die Situation, es waren keine Ermittlungen mehr nötig. Sie waren auch erfahren genug, um die Eilbedürftigkeit zu erkennen. Ich war selbst 15 Jahre lang Amtsrichter für Strafsachen. Dreimal habe ich Beschwerden bekommen. Die blieben nie länger als zwei, drei Stunden bei mir!« Der stellenweise schroffe Ton des Richters gegenüber dem Angeklagten war nur zu verständlich. Man erinnere sich an Schills unsägliche Auftritte im Fernsehen, als er Urteile seiner Kollegen diffamierte, seinen höhnischen Spott über das »Kartell strafunwilliger Richter in Hamburg« und die Kritik des Richterbundes an seinem Verhalten, die er an sich abprallen ließ. Ungeachtet dessen sah die damalige Kammer den Fall als einen »sehr grundsätzlichen« an. Wie müssen Richter arbeiten? Welchen Leitlinien haben sie zu folgen? »Wir schließen uns da nicht aus«, fügte der redliche Vorsitzende hinzu. Schill legte Revision gegen das Urteil ein, weil er freigesprochen werden wollte. Auch die Staatsanwaltschaft, die eine Freiheitsstrafe von sieben Monaten beantragt hatte, ging in Revision, da sie zusätzlich zur Rechtsbeugung eine Verurteilung wegen Freiheitsberaubung anstrebte. Zuständige Revisionsinstanz war der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) in Leipzig mit der Vorsitzenden Richterin Monika Harms, früher Jugendrichterin in Hamburg. Unerwartet schlug sich in Leipzig die Bundesanwaltschaft auf die Seite Schills. Denn ein anderes Ergebnis als ein Freispruch, so Bundesanwalt Winfried Heiduschka, »hätte unabsehbare Folgen für die richterliche Unabhängigkeit«. Was ist das, diese empfindliche Unabhängigkeit, die im Fall Schill nach Freispruch schrie? Wie ist sie zu definieren? Da wird von Recht und Gesetz geredet und Wissen und Gewissen und so fort. Man unterstellt dem Richter einfach, dass er um seine Pflichten schon weiß und sich strenger als der Normalmensch daran hält. Und wenn einer es nicht so genau nimmt? Dann kann er sich beim Vorwurf der Rechtsbeugung auf die traditionelle Rechtsprechung des BGH berufen und damit auf eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte dieses Gerichts. Die obersten deutschen Strafrichter, die durchaus nicht zimperlich sind, packten in der Vergangenheit nur bei Kollegen zu, die in der DDR das Recht gebeugt hatten. Als es um Nazi-Richter ging, hatten sie die Messlatte so hoch gehängt, dass es zu keiner einzigen Verurteilung kam. So ist es denn verwunderlich, dass Schill in Leipzig nicht gleich freigesprochen wurde. Doch der 5. Strafsenat wand sich etwas, hob dann das Urteil auf und verwies die Sache an eine andere Hamburger Kammer zurück. Rechtsbeugung, so hieß es aus Leipzig, liege nur dann vor, wenn ein Richter »aus sachfremden Erwägungen gezielt zum Vorteil oder Nachteil einer Partei handelt«. Zuständig war jetzt die Große Strafkammer 12 mit dem Vorsitzenden Claus Rabe, einem Mann von äußerster Verbindlichkeit. Er begann am 14. Dezember das neue Verfahren - der Angeklagte ist nun nicht mehr kleiner Amtsrichter, sondern Innensenator der Hansestadt mit einem Gehalt von 25 000 Mark brutto, und insofern war auch der restaurierte Plenarsaal des Gerichts ein standesgemäßer Verhandlungsort - mit einer Verbeugung gen Leipzig: »Das Urteil des BGH hat für uns als Tatrichter wegweisende Bedeutung.« Dann zitierte Rabe die Oberrichter: dass es einem Richter grundsätzlich überlassen bleibe, welchem seiner vielfältigen Dienstgeschäfte er den Vorrang einräume und so fort. Unabhängigkeit, wohin man schaut. Allerdings nur so weit offenbar, als der BGH es gestattet. Leipzig monierte zwar, dass im Fall Schill eine zügigere Bearbeitung der Akte »wünschenswert und auch zumutbar« gewesen wäre. Doch der Angeklagte habe gleichwohl die »äußeren Grenzen« des ihm einzuräumenden Ermessens »nicht in schwerwiegender Weise« missachtet. Falls er aber doch gezielt aus sachfremden Erwägungen gehandelt haben sollte, läge »ein Ermessensmissbrauch durch Überschreitung der inneren Schranken des Ermessens vor«. Diese »inneren Schranken des Ermessens« waren nun zu prüfen. Wie macht man das? Am besten im Schnelldurchlauf, dachten sich die Hamburger - vier Verhandlungstage, es hätten auch zwei gereicht, mit strikter Begrenzung aufs Allernötigste, ohne viele Fragen und noch weniger Nachfragen. Mit Blick aufs Ziel. Dann der Beginn, ein Schelm, wer sich dabei nichts dachte: Richter Rabe verlas die Einlassung Schills zur Sache, die eigentlich sein Verteidiger Walter Wellinghausen, inzwischen von seinem Mandanten zum Staatsrat ernannt, vortragen wollte, höchstselbst. Hielte man Rabe vor, er hätte sich damit gleichsam die Sache des Angeklagten zu Eigen gemacht, er würde es wohl bestreiten. Doch angekommen ist es so. Im Kammerton ging es weiter. Der Staatsanwalt schwieg. Nicht einmal dem Journalisten stellte er eine Frage, den Schill damals angerufen und zu dem Prozess eingeladen hatte, weil es Randale geben werde, und zu dem er später sagte: »Ich werde doch nicht springen, wenn Anwälte einen Antrag stellen. Ich muss erst sorgfältig und in Ruhe prüfen.« Von den anderen Zeugen, Richterkollegen Schills, wollte der Staatsanwalt nur eines wissen: »Hat Herr Schill zu Ihnen oder zu einem anderen gesagt, er habe mutwillig verzögert?« Niemand erinnerte sich. Natürlich hat Schill zu keinem gesagt: Ich gehe jetzt Recht beugen, weil es mir Spaß macht, und nächste Woche werde ich es wieder tun. Nur einmal stellte der Staatsanwalt unerwartet eine Frage. »Haben Sie eine Erklärung dafür«, fragte er eine promovierte, 53-jährige Amtsrichterin, die Schill in der Gerichtskantine auf den Kopf zu sagte, er wolle die Beschwerden doch absichtlich verschleppen, »dass Sie ausgerechnet an Herrn Schills Antworten keine Erinnerung haben? Woran liegt das?« Ja, woran das wohl liegt. Der Freispruch Schills ist dem Ansehen der Richterschaft nicht dienlich. Die Raben haben die Krähen geschont. Der Vorsitzende: »Die Kammer hat den Sachverhalt etwas abweichend vom vorigen Gericht festgestellt.« Wie das? Was hat sich geändert? Ach so: Weniger Zeugen, weniger Fragen, keine Aufklärung. Nicht zur Sprache kam etwa, dass Schill selbst gehörigen Anteil hatte an den Tumulten im Gerichtssaal. Dass er die Randale nicht zu verhindern suchte, sondern provozierte, wie seinerzeit die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft als Zeugin aussagte. Was soll also das Gerede, die Sorge um seine Sicherheit habe Schill möglicherweise veranlasst, die Bearbeitung der Haftbeschwerden hintanzustellen? Bei jedem anderen Angeklagten würden solche Ausreden strafschärfend gewertet. Nur beim Richter nicht, dessen Privatangelegenheiten eigentlich hinter seinem Amt zurückzustehen haben. Zwar fiel die Kritik an Schills richterlicher Tätigkeit bei Rabe nicht weniger harsch aus als seinerzeit bei Göhlich: schlampig, unprofessionell, und: »Herr Schill hat gelogen.« Aber ganz ohne böse Absicht, versteht sich. Das Gericht, so der Staatsanwalt nach der Urteilsverkündung, habe vom BGH eben eine andere Beweiswürdigung vorgegeben bekommen. So viel zur richterlichen Unabhängigkeit. SPIEGEL: Schulden, Bankenaffäre, Skandale, Ampel-Gehampel - wo ist denn bei all den Horrormeldungen für die Berliner die gute Nachricht? Wowereit: Sie haben eine neue Regierung. Und die Lähmung, welche die Stadt blockierte, ist beseitigt worden. SPIEGEL: Aber die Krise der Stadt ist nicht überwunden. Wie brutal werden denn die nächsten zwei Jahre für die Bewohner der Hauptstadt? Wowereit: Für diejenigen Berliner, die Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes sind, wird es hart. Personalkosten in Höhe von zwei Milliarden Mark in dieser Legislaturperiode einzusparen wird nicht ohne Tränen gehen. SPIEGEL: Und womöglich nicht ohne Streik, die Gewerkschaften drohen schon. Wowereit: Es gab während der Koalitionsverhandlungen Proteste. Aber wesentlich weniger als früher. Über die Einsparung von einer Milliarde im Öffentlichen Dienst gibt es nicht mal Dissens mit den Gewerkschaften. Das ist doch schon ein Fortschritt. SPIEGEL: Was die zweite Milliarde betrifft - bleibt die neue Koalition da wirklich standhaft? Wowereit: Diejenigen, die für SPD und PDS den Koalitionsvertrag verhandelt haben, sind sich bewusst, dass wir nicht nur Beifall bekommen werden. Das Bewusstsein, im Notfall auch einmal freiwillig auf Geld zu verzichten, gibt es im Öffentlichen Dienst leider noch nicht. Jeder weiß, dass er einen sicheren Arbeitsplatz hat. Warum soll er sich dann bewegen? Nur: Bleibt man innerhalb des bestehenden Systems, kann man eben nur frei werdende Stellen ziellos wegsparen. Dazu gibt es dann keine Alternative. SPIEGEL: SPD und PDS wollen das System gemeinsam überwinden? Wowereit: Es ist doch intelligenter zu sagen: Ich biete Arbeitszeitverkürzung unter Lohnverzicht an. SPIEGEL: Ganz so weit ist es mit dem neuen Denken aber nicht. Sie verlangen Hilfe vom Bund wie alle Bürgermeister zuvor. Wowereit: Der Bundesfinanzminister hat sich dazu sehr differenziert geäußert ... SPIEGEL: ... er hat Ihre Forderungen brüsk zurückgewiesen. Wowereit: Herr Eichel könnte eine Ergänzungszuweisung oder eine Berlin-Hilfe zahlen, also Milliarden via Blankoscheck geben. Dazu ist er nicht bereit. Das weiß ich, weil ich mit ihm darüber gesprochen habe. Er ist aber bereit, über einzelne Projekte zu verhandeln. SPIEGEL: Nennen Sie Beispiele. Wowereit: Wir sind nicht mehr in der Lage, die zugesagten Investitionskosten für den beschleunigten Ausbau der Museumsinsel zu bezahlen. Das habe ich auch gegenüber Herrn Eichel angekündigt. Ohne Hilfen des Bundes wird sich der Ausbau der Museumsinsel drastisch verzögern. SPIEGEL: Wie weit sind denn die Verhandlungen? Wowereit: Verhandlungen werden wir aufnehmen, wenn der Senat im Januar gewählt ist. Aber natürlich suche ich schon jetzt nach Lösungen. Dabei kann ja helfen, dass nicht nur wir etwas vom Bund wollen, sondern der Bund auch von Berlin. SPIEGEL: Was haben Sie denn zu bieten? Wowereit: Der Bund benötigt beispielsweise Grundstücke. Und wie wir helfen, hängt natürlich auch davon ab, wie uns geholfen wird. Aus der Bundesbaufinanzierung der siebziger/achtziger Jahre haben wir Milliardendefizite, die mit der Insellage West-Berlins zu tun hatten. Wir setzen darauf, dass der Bund dies als Sonderlasten anerkennt und dafür aufkommt. SPIEGEL: Noch dominiert die Ansicht, Berlin solle sich erst einmal selbst helfen. Wowereit: Ich werde nachweisen, dass im Berliner Haushalt kein Schlendrian mehr herrscht und dass es im Vergleich zu anderen Ländern keine Überausstattung mehr gibt. SPIEGEL: Und wenn der Bund dennoch hart bleibt? Wowereit: Führen die Verhandlungen mit dem Bund zu keinem Ergebnis, werden wir prüfen lassen, ob eine extreme Haushaltsnotlage vorherrscht. Lautet die Antwort »ja«, klagen wir, rufen das Bundesverfassungsgericht an. SPIEGEL: Die aktuelle Haushaltssituation würde ein positives Urteil aber nur unwesentlich verbessern. Wowereit: Bekämen wir mehrere Milliarden wie etwa das Saarland und auch Bremen, würde uns das selbstverständlich helfen. Das Geld stünde zwar nicht für den konsumptiven Bereich zur Verfügung, ginge aber in die Schuldentilgung. SPIEGEL: Nutzt Ihnen Ihr Koalitionspartner PDS, wenn Sie mit Eichel verhandeln? Wowereit: Ich denke nicht, dass er nutzt. SPIEGEL: Schadet er? Wowereit: Das auch nicht. SPIEGEL: Der Bundeskanzler hat versucht, diese Koalition zu verhindern. Wowereit: Er wird sie nun akzeptieren. SPIEGEL: Schröder hatte verlangt, dass die PDS keinen Einfluss auf Bundesratsentscheidungen bekommt. Nun hat sie ihn doch. Wowereit: Für Abstimmungen im Bundesrat gibt es Klauseln, die überall gelten. Bei der Ampel wäre eine Zustimmung zu Gesetzen viel schwerer geworden, weil mal die FDP, mal die Grünen auf Enthaltungen des Landes Berlin bestanden hätten. Auch der Bundeskanzler wird sehen: Mit der Regierung von SPD und PDS wird es im Bundesrat sehr viel mehr Zustimmung geben, als es mit Grünen und FDP möglich gewesen wäre. SPIEGEL: Wie reagieren denn westdeutsche Ministerpräsidenten auf die Mitregenten von der PDS, beispielsweise Edmund Stoiber ? Wowereit: Bei Herrn Stoiber frage ich gar nicht nach. Ich kenne seine Meinung, die zählt aber in Berlin nicht. SPIEGEL: Auch Ihr Parteikollege Wolfgang Clement ist PDS-Gegner. Wowereit: Inzwischen sehen alle ein, dass die Ampel nicht funktionieren konnte. SPIEGEL: Erschwert es Ihre Verhandlungsposition gegenüber dem Bund, wenn die PDS das Finanzressort übernimmt? Wowereit: Die SPD beansprucht das Amt des Regierenden Bürgermeisters, da gibt es auch schon einen Namen. Über alle anderen Ressorts wird verhandelt. SPIEGEL: Trauen Sie dem PDS-Fraktionschef Harald Wolf zu, das Finanzressort zu führen? Wowereit: Ich kenne ihn aus nächtelangen Haushaltsberatungen des Berliner Abgeordnetenhauses. Wir vertrauen einander. Und Herr Wolf ist zweifellos ein fachkompetenter Finanzpolitiker - über Parteigrenzen hinweg anerkannt. SPIEGEL: Wer muss denn Gregor Gysi, der schon als Monsieur le Schwadroneur verspottet wird, disziplinieren? Wowereit: Gysi hat den feinen Unterschied zwischen Oppositions- und Regierungsarbeit bei den Koalitionsverhandlungen kennen gelernt. Seine Arbeitsbelastung ist eine ganz andere, die Verantwortung ebenfalls, wenn er Senator wird. SPIEGEL: Das klingt, als seien Sie schon neugierig darauf, ob und wie Gysi Akten liest. Wowereit: Wie er Akten und Zahlen studiert, wie er im Ausschuss Entscheidungen erklärt - klar bin ich da gespannt. Gregor Gysi wird demnächst nicht nur an Worten gemessen, sondern an Taten. Vor dieser Situation steht er erstmalig in seiner politischen Karriere. Ich bin neugierig, wie er seine Rolle ausfüllt. SPIEGEL: Gelingt es Ihnen in der Koalition, Gysi und seine PDS zu entzaubern? Wowereit: Dazu müsste die PDS einen Zauber haben; den sehe ich nicht. Wir wollen zusammen vernünftige Regierungsarbeit leisten. SPIEGEL: Und, Pardon, SPD und PDS haben sich nun für immer lieb? Wowereit: Überhaupt nicht. Es wird die Aufgabe der SPD sein, in den Hochburgen der PDS präsent zu sein. Wir werden den Osten nicht der PDS überlassen. Obwohl wir uns in einer Koalition befinden, müssen wir deutlich machen, wo die Unterschiede zwischen uns liegen und wo wir einfach besser sind als die PDS. SPIEGEL: Was halten Sie von der Behauptung der PDS, das rot-rote Bündnis sei ein Beitrag zur inneren Einheit? Wowereit: Es gibt keinen Automatismus nach dem Motto: Nur mit der PDS kann man gute Politik für den Osten machen. Die PDS hat keinen Alleinvertretungsanspruch für die Menschen, die in der DDR gelebt haben. SPIEGEL: Fürchten Sie die besondere Beobachtung, unter der Ihre Regierung stehen wird? Wowereit: Nein. In dieser Konstellation muss Politik noch sensibler sein, als sie ohnehin sein sollte. Es gibt immer noch Ressentiments: unter den Opfern der SED beispielsweise, unter früheren DDR-Bürgern, in Teilen des alten West-Berlins. Ich hoffe, dass wir es in dieser Legislaturperiode schaffen können, ein paar der Urteile und Vorurteile zu widerlegen. Das wäre dann unser Beitrag zur inneren Einheit des gesamten Landes. INTERVIEW: STEFAN BERG, HOLGER STARK Kernpunkte des Koalitionsvertrags * HIER SIEGTE DIE SPD 2,1 Milliarden Mark Einsparungen beim Personal des Öffentlichen Dienstes, Ausbau des Flughafens Berlin-Schönefeld, Schließung von zwölf Hallenbädern, Privatisierung von Kindertagesstätten, Fusion der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) mit der S-Bahn * HIER SIEGTE DIE PDS Verzicht auf Olympia-Bewerbung 2012, keine Erhöhung der Kita-Gebühren, weiterer Ausbau der Straßenbahnlinien, geringerer Abbau bei Lehrerstellen, Prüfauftrag für Privatisierung von 400 Landesbeteiligungen, Überprüfung der Baupläne für Hochhäuser am Alexanderplatz * DAS WOLLTEN BEIDE Die Bauern wussten es schon immer: »Ist der Oktober warm und fein, kommt scharfer Winter hinterdrein.« Im Schnitt alle vier Jahre ist der Oktober so lauschig, wie er es diesmal war - und fast immer läuft es dann nach der alten Regel, das wissen die Meteorologen heute. Diesmal war es das Tiefdruckgebiet »Laurin«, das Bauernweisheit und Statistik bestätigte, recht pünktlich zum Winteranfang. Kurz vor dem Weihnachtswochenende schickte es vom Baltikum her einen Ausläufer Richtung Deutschland. Er kam über Brandenburg, zog dann erst mal nach Sachsen und weiter Richtung Westen. Zur selben Zeit machten sich am Boden Hunderttausende Autofahrer auf den Weg nach Süden in den Skiurlaub oder zur Familie unter den Tannenbaum - und direkt hinein in die schlimmste Bescherung seit Jahren. Denn Laurins Ausläufer brachte vor allem in die Mittelgebirge und nach Bayern Massen von Schnee - wie es die Meteorologen angekündigt hatten. Auf Hunderten Kilometern deutscher Autobahnen ging am Wochenende vor Heiligabend deshalb gar nichts mehr. Zu Zehntausenden saßen Autofahrer frierend in Mega-Staus, stundenlang oder auch die Nacht hindurch, allenfalls mit dem Nötigsten versorgt von Lebensrettern, die stellenweise nur noch mit dem Snowmobil vorankamen. Die Bundeswehr griff ein, in Bayern gaben Landkreise Katastrophenalarm, im Berchtesgadener Land wurde die Rekordtemperatur von minus 45,9 Grad gemessen - ein Hauch von Alaska. Aber auch in den Niederungen der norddeutschen Tiefebene, rund um Hannover etwa, krachte es nun fast im Minutentakt, und in Berlin zählten Polizisten Freitag und Samstag vor Weihnachten 640 Unfälle. An den Autobahnen mussten unterkühlte Kleinkinder in Krankenhäuser gebracht werden, mehrere Menschen starben bei der »schlimmsten Schneekatastrophe, die wir je hatten«, so Bayerns Innenminister Günther Beckstein. Schon Tage vorher hatte es ähnlich im Süden Europas ausgesehen: Im griechischen Thessaloniki etwa musste der Flughafen im wilden Schneetreiben geschlossen werden, Hunderte Dörfer waren abgeschnitten, auf den Autobahnen stellten sich die Lastwagen quer. Selbst in Vororten von Athen schneite es - ebenso wie im Süden Italiens oder auf dem spanischen Festland. In Deutschland litten nicht nur die Autofahrer, auch viele Fernzüge hatten Verspätung, und der Luftverkehr geriet ebenfalls heftig durcheinander. In Frankfurt mussten über 230 Starts und Landungen gestrichen werden. In Nordrhein-Westfalens Oberbergischem Kreis knickten Bäume unter der Schneelast weg und rissen Überlandleitungen mit sich, mehr als 100 000 Menschen saßen im Dunkeln. General Winter versuchte gar, die Parlamentsentscheidung für den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr zu torpedieren: Bei der Abstimmung am Samstag vor Weihnachten fehlten 85 der 666 Abgeordneten, einige davon steckten im Schneetreiben auf den Autobahnen fest. Auf der Sauerland-Linie A 45 etwa gab es zwischen Gießen und Siegen mehr als zwölf Stunden lang kein Vor und kein Zurück mehr. Erst kam der Schnee, dann taute es zeitweilig, schließlich panzerte erneuter Frost die Fahrbahn mit blankem Eis. Auch auf der A 3 von Köln Richtung Frankfurt standen Autos und Lastwagen, Stoßstange an Stoßstange, auf 50 Kilometern. Besonders schlimm traf es die Autofahrer auf der A 9 zwischen Thüringen und Nürnberg. Dort standen sie, rund 20 Stunden lang, auf über 100 Kilometern: der perfekte Stau. Helfer von Rotem Kreuz und Technischem Hilfswerk brachten den Eingeschlossenen Decken, heißen Tee, Müsliriegel. Über 1000 Menschen mussten sich in Notunterkünfte retten. Andere hatten genug Diesel oder Benzin im Tank, um den Motor und somit die Heizung laufen lassen zu können, sie richteten sich häuslich ein: »Meine Kollegen haben sich zu Fuß auf den Weg zum Bäcker gemacht«, so Christian Kiebak, Handwerker auf dem Heimweg ins thüringische Saalfeld. Seine Truppe war in der Nähe von Bayreuth stecken geblieben, am Freitag vor Weihnachten. Und am Samstagmittag kam der Wagen der Männer immer noch nicht recht voran. Was sollten die Ostler also anderes tun? Helfer drangen nicht bis zu ihnen vor, Räumfahrzeuge kapitulierten vor Schneeverwehungen, die der stramme Wind immer wieder flott auftürmte - oder sie wurden von quer stehenden Lastwagen und Autos mit leerem Tank blockiert. Über dem Chaos auf der A 9 kreiste Minister Beckstein im Hubschrauber und konnte von oben auch flugs die - neben dem Tiefausläufer - Hauptschuldigen des Desasters ausmachen: Dummköpfe am Lenkrad, und zwar massenhaft. Der Christsoziale sah »mit großem Zorn« Lastwagenfahrer, die mit ihren Brummern zu viert nebeneinander die Autobahn sperrten, statt auf dem Rastplatz zu schlafen. Und die Pkw-Piloten seien mit ihrer »Disziplinlosigkeit« auch nicht besser, hatten sich doch viele tolldreist ins Chaos gestürzt, den Tank nur viertel voll, die Sommerreifen dafür ganz abgefahren. Fassungslos beobachteten Polizisten, wie sich Autofahrer sogar noch vor blockierten Auffahrten anstellten, als locke es sie unwiderstehlich zu all ihren Artgenossen - die sich derweil kein Stück intelligenter benahmen: Überall klagten die Arbeiter der Räumdienste über ungeduldige Rüpel, die sich vermeintlich clever direkt hinter die Schneepflüge hängten, während deren Fahrer mühsam versuchten, eine Gasse für Rettungsdienste freizuräumen. Sobald die Drängler dann auf der natürlich noch immer glatten Fahrbahn erneut festlagen, war die Schneise schon wieder dicht. Andere Reisende gingen einfach zu Fuß ins nächste Dorf - und ließen ihre abgeschlossenen Autos als Barrikaden auf der Spur stehen. Bei der Arnsberger Autobahnpolizei etwa riefen 200 Leidtragende an, um zu klagen. Entspanntere Charaktere setzten unterdessen erst mal Schneemänner auf die Böschung. Nach seinem Hubschrauber-Flug sann der Christsoziale Beckstein umgehend auf Abhilfe. Bei solchem Wetter könne man durchaus mal über ein Fahrverbot für Lastwagen nachdenken, so der Minister. Und die Räumdienste sollten bei derartiger Lage doch schon vorbeugend Salz streuen. Die Experten konterten, prophylaktisch gestreut werde schon längst - nur gegen Schneeverwehungen dieses Kalibers, so sprang ihnen ein ADAC-Mann bei, könne man nichts machen. »Die Globalisierung mit ihrer kulturellen Power, mit Fernsehen, Sex, Internet, das ist für die meisten Muslime wie ein permanenter Terroranschlag.« Said al-Sadi, irakischer Muslim und Manager bei der internationalen Baufirma CBF Engineering »Der Markt hat auch dann Recht, wenn es wehtut.« Stephan Schambach, Vorstandsvorsitzender der Intershop AG »Machen wir Werbung, solange es noch welche gibt.« Der Aufstand begann in der Provinz. Vor Supermärkten tobten aufgebrachte Horden und stürmten die Geschäfte. Der Präsident, ein aufrechter Demokrat der Mittelschichtpartei »Radikale Bürgerunion« (UCR), rief den Ausnahmezustand aus und schickte die Armee auf die Straße. Damit hatte er im Volk verspielt. Fast sechs Monate vor Ende seiner Amtszeit trat er zurück. Das war 1989, das Staatsoberhaupt hieß Raúl Alfonsín. Argentiniens erster demokratischer Staatschef nach der Diktatur wurde ein spätes Opfer der Militärherrschaft: Die Junta hatte das Land zu Grunde gewirtschaftet, Schulden angehäuft und Milliarden im Falkland-Krieg verpulvert. Alfonsín bescherte dem Land Inflationsraten von über 7000 Prozent pro Jahr. Ladenbesitzer mussten ihre Preise mehrmals am Tag erhöhen. Verzweifelte Menschen übernachteten in den Eingängen der Wechselstuben, um Dollar zu kaufen. Heute, zwölf Jahre später, scheint sich die Geschichte - in Teilen zumindest - zu wiederholen. Wieder hat mit Fernando de la Rúa ein Politiker der Bürgerunion in der Casa Rosada regiert; erneut musste der Präsident den Ausnahmezustand ausrufen - und bald danach zurücktreten. Zuvor hatten sich in Buenos Aires Szenen abgespielt, die an die blutigste Vergangenheit des Landes erinnerten. Zehntausende Demonstranten lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Etliche starben im Kugelhagel, andere warfen die Fenster von Bankfilialen ein oder stürmten die Supermärkte. »Wir haben Hunger, Herr Präsident!«, rief eine ausgemergelte Hausfrau, während sie tiefgefrorene Steaks aus der Kühltruhe klaubte. Was für eine Schande für ein Land, das sich gern als Speisekammer Südamerikas präsentiert hat. Welche Niederlage für Millionen Einwanderer, die hier ihren Traum von einem besseren Leben verwirklichen wollten. Heute drängen sich ihre Kinder, Enkel und Urenkel an den Ausreiseschaltern der Flughäfen: Sie suchen ihre Zukunft woanders, nicht in einem Land, das offenkundig direkt in Katastrophe und Staatsbankrott schlittert. Argentinien hat rund 136 Milliarden Dollar Schulden - das Land kann die Pleite kaum noch abwenden. Keine Volkswirtschaft der Welt steckt so tief in der Schuldenfalle. Was seine Kreditwürdigkeit angeht, rangiert der Pampa-Staat noch hinter Ländern wie Kuba, Pakistan oder Ecuador. Prompt kündigte der neue Übergangspräsident, Adolfo Rodríguez Saá, nach seiner Wahl am vergangenen Sonntag an, zuallererst den Auslandsschuldendienst einstellen zu wollen. Mit den frei werdenden Mitteln könnten »eine Million neuer Arbeitsplätze« entstehen. Löhne, Pensionen und Sozialprogramme sollen mit einer neuen, »dritten Währung«, bezahlt werden: dem »Argentino«. Wollen. Könnten. Sollen Seit fast vier Jahren schrumpft die Wirtschaft. Die Rezession hat die Arbeitslosigkeit auf 18 Prozent schnellen lassen. Die einst so wohlhabende und breite Mittelschicht ist weithin verelendet: Etwa 40 Prozent der 37 Millionen Argentinier leben mittlerweile in Armut. »Das Land ist ausgelutscht«, stellt der Unternehmer Wolfgang Golla lapidar fest. Voller Sorge beobachten Politiker, Banker und Ökonomen das dramatische Geschehen und fragen sich: Was passiert nach dem Crash? Fallen dann - wie vor gut vier Jahren in der Asienkrise - auch andere Länder wie Dominosteine? Und wie konnte es überhaupt zu diesem Absturz kommen? Der Niedergang begann bereits unter Präsident Carlos Menem, dem Vorgänger de la Rúas. Menem hinterließ zwei Probleme, an denen der Staat letztlich zu Grunde gehen musste: einerseits ein gigantisches Loch im Haushalt, andererseits vor allem die gesetzlich festgeschriebene Kopplung des Peso an den Dollar. Mit dieser Maßnahme hatte es Menem 1991 in seiner ersten Amtszeit tatsächlich geschafft, die damalige Hyperinflation zu stoppen. Das Konzept stammte von seinem Wirtschaftsminister Domingo Cavallo, einem Ökonomen, der ehrfurchtsvoll »Zauberer« oder »Hexer« genannt wurde. Cavallos Trick mit der Dollar-Bindung funktionierte zunächst glänzend: Die Inflation war gebannt, die Preise blieben stabil, Kapital aus dem Ausland strömte ins Land. Argentinien erreichte anfangs Wachstumsraten von über zwölf Prozent und wurde als Vorbild gepriesen für alle aufstrebenden Staaten - nicht nur in Südamerika. Fortan nährte Präsident Menem die Illusion, dass Argentinien nunmehr in die Erste Welt aufgestiegen sei. Er spielte Tennis mit George Bush Sr., protzte mit einem geschenkten Ferrari und tanzte Tango mit Claudia Schiffer. Dutzende Staatsbetriebe wurden in jener Zeit verkauft, doch der Erlös verschwand in dunklen Kanälen. Die Argentinier genossen die »plata dulce«, das »süße Geld«, und fast jeder lebte über seine Verhältnisse. Vor allem die Politiker, die den Staat seit jeher als Selbstbedienungsladen betrachteten und ihre Anhänger mit öffentlichen Jobs versorgten. Der Gouverneur der bettelarmen Provinz Formosa gönnte sich ein Monatsgehalt von 50 000 Dollar, auch Wirtschaftsminister Cavallo zeigte sich großzügig in eigener Sache: Mit einem Salär von unter 10 000 Dollar pro Monat, erklärte er, sei für ihn privat schlicht kein Auskommen. Kritiker des Hexers warnten davor, dass die feste Bindung des Peso an den Dollar nur bei strenger Haushaltsdisziplin durchzuhalten sei - vergebens. Stattdessen finanzierte die Regierung die Löcher im Etat stets mit neuen Krediten, die sie in den Neunzigern auch anstandslos bekam. Der Schuldenberg wuchs in atemraubende Dimensionen. Gleichzeitig wurde der starre Wechselkurs zu einer immer größeren Belastung. Mangels einer eigenen nationalen Geldpolitik war Argentinien den Entscheidungen der US-Notenbank ausgeliefert - und die berücksichtigt zuallererst die Interessen der Vereinigten Staaten. Die argentinische Wirtschaft dagegen litt zunehmend unter dem starken Dollar. Grund: Er verteuerte ihre Ausfuhren immens. Argentinien war mit seinen Produkten schon bald nicht mehr wettbewerbsfähig. Mindestens ein Viertel der 1,5 Millionen Kleinbetriebe musste seit 1994 aufgeben. Umgekehrt wurde das Land überschwemmt von Billigimporten aus Asien und vor allem aus dem Nachbarland Brasilien, dem Haupthandelspartner, der von der Abwertung seiner eigenen Währung, dem Real, prächtig profitierte. Das Korsett der strikten Währungsparitäten, das die Wirtschaft zunächst so fabelhaft stützen konnte, raubte dem Unternehmen zum Ende des Jahrzehnts die Luft. Deshalb rief Präsident de la Rúa wieder nach dem Zauberer. Er stattete Cavallo sogar mit Sondervollmachten aus und machte ihn zu einer Art Premierminister. Alle Hoffnungen ruhten nun auf ihm. Cavallo wollte das System der Dollar-Kopplung, das er selbst aufgebaut hatte, auf jeden Fall retten. Koste es, was es wolle. Schließlich haben Millionen Argentinier im Vertrauen auf eine stabile Währung Haus, Wohnung und Auto auf Dollar-Kredit erworben. Eine Abwertung würde für sie lebenslange Schulden bedeuten, nicht selten den totalen Ruin. Also verordnete der Minister dem Land einen eisernen Sparkurs, um endlich einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen - und zog damit schnell den Zorn der Bürger auf sich. So wurden den öffentlich Bediensteten 15 Prozent vom Gehalt gestri- chen. Prompt protestierten 20 000 von ihnen in der Hauptstadt. Der Sparzwang nahm zuweilen groteske Züge an: Ausgerechnet im Außenministerium mussten sich die Bediensteten Telefonate ins Ausland vorher vom Minister genehmigen lassen. Cavallos Sparwut trieb das Land in einen Teufelskreis: Der verschuldete Staat kürzte seine Ausgaben immer stärker. Darunter litt die Konjunktur. Dadurch wiederum sanken die Steuereinnahmen - eine schier ausweglose Situation. Gleichzeitig schmolzen die Devisenreserven dahin. Am Ende sahen sich die Zentralbank und die Provinzen sogar gezwungen, Schuldscheine auszustellen. »Wir nehmen Patacones und Lecops«, steht inzwischen an vielen Geschäften in Buenos Aires. In Hinterhöfen blüht die Tauschwirtschaft, weil die Menschen kein Geld mehr besitzen. Anfang Dezember folgte der vorerst letzte Akt im Drama: Cavallo verfügte, dass jeder Bürger nur 1000 Dollar im Monat von seinen Konten abheben darf. Damit wollte er die grassierende Kapitalflucht eindämmen, denn seit März haben die Bürger mehr als 18 Milliarden Dollar verschwinden lassen. Mit der Verzweiflungstat jedoch verspielte die Regierung den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit. »Cavallo ist ein Räuber«, rief eine Rentnerin, als die Polizei das Gebäude in der feinen Avenida Libertador umstellte, wo der Minister wohnt. Demonstranten hatten gedroht, das Apartment zu plündern. Vergebens hatte der einstige Hexer darauf vertraut, dass ihm der Internationale Währungsfonds (IWF) im Dezember mit einer weiteren Geldspritze von 1,3 Milliarden Dollar beistehen würde. In einer Blitzaktion war er nach Washington gejettet, um das Geld loszueisen. Doch IWF-Direktor Horst Köhler ließ ihn abblitzen: Er verlangt einen dauerhaften Wirtschaftsplan, der das Land ohne die Last neuer Schulden wieder auf die Beine bringen soll. Köhler hat die Geduld mit den Südamerikanern verloren. Immer wieder ist der Währungsfonds eingesprungen, um Argentinien aus einer akuten Notlage zu befreien - auch auf die Gefahr hin, dass er damit das Phänomen auslöst, das Ökonomen mit »moral hazard« beschreiben: Wenn Regierungen und Zentralbanken sich darauf verlassen können, dass IWF oder Weltbank sie aus der Schuldenfalle befreien, dann werden sie in Zukunft kaum vorsichtiger mit dem Geld umgehen. So erkaufte sich der Währungsfonds jedes Mal lediglich eine Atempause. Waren die Kredite aufgebraucht, blieb dem IWF nichts anderes übrig, als erneut Geld nachzuschießen. Damit soll jetzt Schluss sein. Ohne ausgeglichenen Haushalt gebe es keine neuen Hilfen, beschied US-Finanzminister Paul O''Neill den Argentiniern. Der IWF will in Buenos Aires ein Exempel statuieren. Das Risiko scheint halbwegs überschaubar. Der Staatsbankrott am Río de la Plata sendet bislang nur schwache Schockwellen in die anderen Schwellenländer aus. Eine Kettenreaktion wie bei Asien- oder Russland-Krise gilt den Experten als unwahrscheinlich. »Die Gefahr eines Dominoeffekts ist gering«, sagt Martín Redrado, Chefökonom von Fundación Capital, einem angesehenen Institut für Wirtschaftsforschung. Selbst Brasilien, das am stärksten von dem Crash im Nachbarland betroffen ist, konnte sich von der Entwicklung in Argentinien abkoppeln. »Im Notfall würde der IWF Brasilien beispringen«, sagt Redrado. Viele Gläubiger haben ihre Argentinien-Bonds ohnehin längst abgeschrieben. Die Zahlungsschwierigkeiten sind seit Monaten bekannt - spätestens seitdem Rating-Agenturen wie Standard & Poor''s oder Moody''s die wirtschaftliche Lage für so desolat hielten, dass sie das Land auf die unterste Bonitätsstufe zu setzen drohten: auf »D« wie »Default«, was Zahlungsausfall bedeutet. Als der einstige Hexer Cavallo im November von den Gläubigern eine »freiwillige« Umschuldung verlangte, hatte er de facto bereits die Zahlungsunfähigkeit eingestanden. Politiker und Wirtschaftsfachleute sind ratlos, wie Argentinien jetzt wieder auf die Beine kommen soll. Mit der Dollar-Bindung ist das Land offensichtlich gescheitert. Wertet die künftige Regierung aber den Peso ab, verliert sie auf Jahre das Vertrauen der Anleger und löst eine Pleitewelle im ganzen Land aus. Ökonom Redrado jedenfalls kann keinen Ausweg erkennen: »Argentinien hat die Wahl zwischen Abgrund und Wüste.« JENS GLÜSING Wenn es um den Ruf der Arbeitslosen geht, legt sich Bernhard Jagoda sogar mit dem Bundeskanzler an. »Alles Vorurteile«, schimpfte der Chef der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit, als Gerhard Schröder im Frühsommer über die Faulenzer unter Deutschlands Stempelgängern herzog. Völliger Blödsinn, befand damals der Behördenboss. Die Zahl der Unwilligen sei »eher gering«. Jetzt muss Jagoda wohl selbst sein Bild der Wirklichkeit korrigieren. Auf seinem Schreibtisch liegt eine brisante Studie des Bonner Meinungsforschungsinstituts Infas, die genau das belegt, was Jagoda vehement bestreitet: Ein erheblicher Teil der Arbeitslosen, so die Kernbotschaft des Papiers, sucht in Wahrheit keine neue Stelle. Grund der Job-Unlust ist jedoch weder notorische Faulheit noch Drückebergerei, sondern vor allem die Folge widersinniger Sozialgesetze. Viele Stempelgänger, so ermittelten die Infas-Experten, melden sich nur deshalb erwerbslos, weil sie Sozial-Ansprüche wahren oder die Zeit bis zur Rente überbrücken wollen. Die Studie bringt Jagoda in die Klemme. Würde er tun, was die Forscher empfehlen, müsste er die umstrittenen Gruppen eigentlich aus seiner Statistik streichen. Doch in den Verdacht, er wolle ausgerechnet im Wahljahr die Arbeitslosenzahl schönen, mag der langjährige Anstaltschef auf keinen Fall geraten. So hält Jagoda die Studie, die bereits seit diesem Frühjahr vorliegt, noch immer unter Verschluss. Dafür hat er das tabellengespickte Papier an seine Gremien überwiesen, damit die das brisante Werk schon mal in aller Stille kleinraspeln können. Als »untauglich« verwarf etwa der mächtige Verwaltungsrat der Behörde kurz vor Weihnachten die Forscher-Empfehlungen. »Keinen Handlungsbedarf« erkennt auch die stellvertretende Anstalts-Vorsitzende und DGB-Vizechefin Ursula Engelen-Kefer. Dabei weisen die Infas-Forscher nach, wie sehr die Jagoda-Behörde bislang an der Wirklichkeit vorbei vermittelt hat. Von den fast 10 000 Arbeitslosen, die das Institut im Frühling des vergangenen Jahres befragt hat, suchen viele bestenfalls sporadisch einen Job: * 15 Prozent wurden mit Abfindungen ihrer Betriebe in den Vorruhestand entlassen und gehen demnächst in Rente; * 5 Prozent haben bereits einen neuen Arbeitsvertrag in der Tasche und wollen lediglich die Zeit bis zum nächsten Job überbrücken; * 2 Prozent suchen nach meist langer Arbeitslosigkeit nur noch »mit geringer Aktivität« eine Stelle; * 7 Prozent erziehen Kinder, pflegen Angehörige oder wollen ihren Familien Sozialansprüche sichern. Dazu zählen etwa Jugendliche über 18, die sich vor dem Start von Wehrdienst oder Studium arbeitslos melden, damit ihre Eltern weiter Kindergeld bekommen. Insgesamt, so ermittelten die Forscher, wollen somit fast 30 Prozent aller Erwerbslosen gar nicht ernsthaft vermittelt werden. Kein Wunder: Vielen der knapp 1,1 Millionen Schein-Arbeitslosen geht es glänzend. Wer die Zeit bis zum nächsten Job überbrückt, kann im Durchschnitt auf einen monatlichen Nettoverdienst von über 3400 Mark zählen, ermittelte Infas. Wer auf die Rente wartet, wohnt zumeist in den eigenen vier Wänden und hat häufig zusätzliche Kapitaleinkünfte. Handlungsbedarf sehen die Infas-Experten aber auch bei der großen Mehrheit der Erwerbslosen, die tatsächlich einen Job suchen. Vor allem um jene 20 Prozent, die nur noch mit »mittlerer Aktivität« nach einer Stelle fahnden, müssten sich die Ämter verstärkt kümmern. So geht aus der Studie hervor: Wer mit Hochdruck sucht und sich ständig bewirbt, hat fünf- bis neunmal so gute Chancen auf einen Job wie jemand, der nur einmal alle zwei Monate ein Vorstellungsgespräch führt. In der Praxis jedoch widmet sich Jagodas Behörde häufig gerade jener Klientel, bei der das erwiesenermaßen wenig fruchtet. So versuchen derzeit viele Ämter, unter dem Motto »50 plus - die können es« ihre Seniorenreserve zu reaktivieren. Damit soll der Fachkräftemangel in manchen Branchen und Regionen bekämpft werden. Die Betroffenen jedoch erleben die amtlichen Bemühungen oft als sinnfreien Arbeitszwang. Der arbeitslose Maschinenbau-Ingenieur Jan Bräuniger, 60, aus Kolberg bei Berlin zum Beispiel muss sich von seinem örtlichen Arbeitsamt seit Jahren von einer Fortbildungs- zur nächsten Beschäftigungsmaßnahme schicken lassen. Mal sollte er in einem Bauamt sinnlos Tausende von Akten in den Computer scannen, mal ließ ihn die Behörde aufwendig zum Sanitärtechniker umschulen. Christian Guss, 35, ist Geschäftsführer eines Straßenbaubetriebs in Berlin, doch inzwischen kommt er sich eher vor wie der Chef einer Inkassofirma. Statt Baustellen zu inspizieren und Angebote zu schreiben, verbringt er einen Großteil seiner Zeit damit, Geld hinterherzulaufen, das ihm seine Hauptkunden noch schuldig sind: Behörden aller Art. Guss schreibt Mahnbriefe, telefoniert hinter Bauleitern her und bekniet sie, endlich ihren Stempel »rechnerisch richtig« auf die Rechnung zu drücken. Wenn das alles nicht hilft, stattet er dem Sachbearbeiter im Amt schon mal einen Besuch ab. »Die Moral des preußischen Beamten ist völlig verloren gegangen«, sagt Guss. So musste er sich allein vier Monate gedulden, bis die Berliner Wasserbetriebe ihm für eine neue Fahrbahndecke gut 30 000 Mark überwiesen haben. Das halbstaatliche Unternehmen hatte die Rechnung erst ans Tiefbauamt geschickt, dort wurde sie geprüft, ging dann wieder zurück an die Wasserbetriebe, wo sie wochenlang im Rechnungswesen liegen blieb. Begründung: eine Software-Umstellung. »Den Leuten in den Ämtern ist gar nicht klar, was sie damit auslösen«, schimpft der Berliner Unternehmer. Wenn Handwerker wie Guss einen Auftrag annehmen, müssen sie Mitarbeiter und Material so lange aus eigener Tasche bezahlen, bis ihnen die erste Abschlagszahlung etwas Luft verschafft. Trifft schon diese nicht pünktlich ein, gerät der Betrieb schnell in die Bredouille. »Katastrophale Folgen« habe die schlechte Zahlungsmoral, klagt Dieter Philipp, Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH): »Viele Betriebe sehen sich aus diesem Grund in ihrem Fortbestand bedroht.« Dass gerade der Staat die Mittelständler hängen lässt, sei »ein besonderer Skandal«, schimpft der Präsident - zumal die öffentliche Hand noch schleppender zahlt als private oder gewerbliche Kunden. Im Schnitt lässt sich der Bund 95 Tage Zeit, bis er offene Rechnungen begleicht. Die Länder brauchen 90 Tage, die Kommunen 73 Tage, ergaben Studien des Betriebswirtschaftlichen Instituts der Bauindustrie. Von privaten Schuldnern fließt das Geld dagegen vergleichsweise zügig: Nach durchschnittlich 56 Tagen haben sie die Summe überwiesen. »Ausgerechnet der Staat«, sagt Institutsleiter Bruno Refisch, »geht mit schlechtem Beispiel voran.« Dabei legt die so genannte Verdingungsordnung für Bauleistungen (VOB) alle Fristen bis ins Detail fest. Abschlagszahlungen sind »binnen 18 Werktagen« zu leisten. Die Schlusszahlung muss »spätestens innerhalb von zwei Monaten« nach Zugang der Rechnung erfolgen. »Alle Zahlungen sind aufs Äußerste zu beschleunigen«, werden die Auftraggeber gemahnt. Doch kaum eine Behörde schert sich um das Regelwerk. Damit gewähren Straßenbauer, Lackierer, Maurer und Klempner dem Staat unfreiwillig ein Darlehen: Jährlich müssen Handwerker nach Berechnungen des Verbandes der Vereine Creditreform 540 Millionen Mark zusätzlich aufbringen, weil Bund, Länder und Gemeinden lästige Zahlungen gern verschieben. Insgesamt 20 Mahnungen musste der Handwerker Manfred Kämpf schreiben, weil das Staatshochbauamt Stendal in Sachsen-Anhalt ein Dutzend Abschlagszahlungen sowie die Schlussrechnung nicht pünktlich bezahlte. Die Behörde hatte Kämpf im vergangenen Jahr beauftragt, Türen und Stahlzargen im Landeskrankenhaus Uchtspringe einzubauen. Rund 1,1 Millionen Mark hat Kämpf dem Amt in Rechnung gestellt. »175 000 Mark fehlen mir bis heute«, ärgert sich der Unternehmer. »Das ist eine unglückliche Zusammenarbeit«, entgegnet das sachsenanhaltinische Finanzministerium. Die Beleglage sei unklar, ein Rechtsverfahren solle die Angelegenheit klären. Mit solchem Verhalten offenbaren Behörden eine fragwürdige Doppelmoral: Zwar verfolgen Ordnungsämter gnadenlos jeden Falschparker. Zwar jagen Finanzämter unerbittlich jeder Steuermark hinterher. Aber wenn die Ämter selbst zu Schuldnern werden, überfällt sie plötzlich bleierne Lethargie. Eine Creditreform-Umfrage lässt ahnen, wie weit sich der Schlendrian ausgebreitet hat. Gut 42 Prozent der Betriebe des Baugewerbes berichten von Rechnungen, die der Staat erst nach mehr als 30 Tagen beglichen hat. Dagegen hat nur ein Viertel mit privaten Kunden derart schlechte Erfahrungen gemacht. Das Elend beginnt schon damit, dass die Behörden die Ausschreibungen schlampig vorbereiten, dass nachträgliche Veränderungen fast zur Regel geworden sind. Derlei verteuert das Projekt und ist oft Auslöser für langwierige Auseinandersetzungen zwischen Auftraggeber und Baubetrieb. Manchmal geht es nur um Schludrigkeiten. Da fehlen in den Unterlagen zum Beispiel Angaben zum Materialaufwand. Häufig aber offenbaren sich die Schwachstellen erst im Lauf der Bauarbeiten. Dann stellt sich plötzlich heraus, dass ein ungeeignetes Verfahren gewählt wurde oder dass die Berechnungen schlicht falsch waren. »Ich habe bald gemerkt, dass etwas mit den Plänen nicht stimmen konnte«, erzählt der Handwerksmeister Heinz Grigo. Das Land Hessen hatte ihn vor gut zwei Jahren mit den Dämmarbeiten im Neubau der Landesvertretung in Berlin beauftragt. Auftragswert: 217 799,28 Mark. Dabei stieß Grigo auf unerwartete Probleme: »An viele Rohre, die wir isolieren sollten, kamen wir gar nicht heran, weil die Abstände nicht stimmten.« Grigo benötigte weitaus mehr Material und Personal als ursprünglich kalkuliert. Er stellte Nachforderungen - sie sind bis heute strittig. »An die 250 000 Mark« sei ihm das Bundesland noch schuldig, sagt er und bereitet derzeit eine Klage vor. Im Sommer habe er seine Monteure wochenlang nicht bezahlen können. Sein Haus sei sogar zur Versteigerung angeboten worden. Das Land Hessen sieht den Fall ganz anders. Grigo habe »eine aufwandsentsprechende Vergütung« bekommen, sagt Finanzstaatssekretär Bernd Abeln, gibt aber zu: »Die unterschiedliche Beurteilung des Sachverhalts bedarf der Klärung.« Solche Prozesse können sich über viele Jahre hinziehen. Den langen Atem dafür haben freilich die wenigsten Baubetriebe. Ohnehin müssen sie um jeden Auftrag kämpfen, seit die öffentliche Hand bei der Vergabe von Bauleistungen knausert. »Bei der Knappheit der Aufträge«, sagt Carsten Woll vom Baugewerbe-Verband Niedersachsen, »traut sich der Mittelstand nicht mal mehr zu mahnen.« Zudem bauen die Behörden seit Jahren kontinuierlich Personal ab. Die älteren Mitarbeiter aus den Fachabteilungen werden in den Ruhestand verabschiedet, die jüngeren sind frustriert, weil sie keine Aussicht auf Beförderung haben; also wechseln die Besten von ihnen in die Wirtschaft. »Der Staat baut genau die Leute ab«, kritisiert Michael Seitz, Hauptgeschäftsführer der Hamburger Bau-Innung, »die Sachverstand haben.« Früher verfügte noch fast jedes Klinikum oder jede Schulbehörde über eine eigene Abteilung mit Architekten, Planern und Bauzeichnern. Heute ist selbst der Bauleiter nur noch selten auf der Baustelle anzutreffen. Die verschlankten Behörden geben ihre Projekte immer öfter in die Hand eines Generalunternehmers oder Ingenieurbüros. Diese wiederum engagieren kleine Baubetriebe als Subunternehmer. Als Letzte in der Vertragskette erleben diese Handwerker zuweilen böse Überraschungen. Der Stahlbauer Peter Mandler wartet noch heute auf 42 000 Mark aus einem scheinbar sicheren Geschäft: Im Sommer 1998 lieferte und montierte er Stahl für den Neubau des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) in Erfurt. Die öffentlich-rechtliche Anstalt hatte nicht ihn direkt damit beauftragt, sondern einen Generalunternehmer, die Dickenbrok GmbH. Als diese Firma zahlungsunfähig wurde, saß Mandler auf einem Haufen unbeglichener Rechnungen. »Wir hatten zur gleichen Zeit mehrere solcher großen Aufträge, und keiner wollte richtig zahlen«, erinnert er sich. Mandler musste Insolvenz anmelden und 28 Mitarbeiter entlassen. Auf seinem Firmengelände grasen heute Schafe. Ähnlich schlechte Erfahrungen mit Generalunternehmern, die im Auftrag des Staates arbeiten, hat der Handwerker Andreas Frank beim Bau des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt gemacht. Dort sollte er Kunststoffbänder an der Außenfassade montieren, ein 90 000-Mark-Auftrag. Als der Rohbau zur Hälfte fertig war, ging der Generalunternehmer, die hessische Fröhlich AG, Pleite. Frank hatte bereits 15 000 Mark verbaut, im Konkursverfahren stand der Handwerker abgeschlagen auf Rang 86. »Ich habe keine müde Mark gesehen.« Also bewarb er sich beim neuen Generalunternehmer und durfte weiterbauen - bis auch dieser wirtschaftlich am Ende war: Es war die Dickenbrok-Bau GmbH, deren Schwesterfirma sich schon am MDR-Neubau verhoben hatte. »Ich bin letztlich auf 50 000 Mark sitzen geblieben«, klagt Frank. In ihrem Kampf mit säumigen Schuldnern sollte eigentlich das »Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen« die Baubetriebe stärken. Seit anderthalb Jahren darf ein Handwerker einen Strafzins berechnen, derzeit 8,62 Prozent, wenn eine Rechnung nach 30 Tagen noch nicht beglichen ist. Das hilft den Handwerkern allerdings wenig, wenn sie selbst bei ihrer Bank zehn oder gar zwölf Prozent Überziehungszinsen zahlen müssen. Zudem kann ihnen auch das Gesetz nicht die Angst davor nehmen, ihre Auftraggeber mit solchen Sanktionen womöglich zu verprellen - für viele Kleinbetriebe ist das Bauamt der bedeutendste Kunde. »Wer das Spiel nicht mitspielt«, weiß der Berliner Bauingenieur Hellmut Bartsch, »hat bald keine Kundschaft mehr.« In einer ZDH-Umfrage antworteten auf die Frage, ob sich durch das Gesetz die Zahlungsmoral verbessert habe, rund 80 Prozent von 1100 befragten Handwerkern klar mit »Nein«. Bislang habe das Gesetz »kaum Wirkung gezeigt«, moniert Handwerkspräsident Philipp und fordert Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin auf, es zu überarbeiten. Philipp schlägt vor, Baukammern an den Landgerichten einzurichten, die Zahlungskonflikte zügiger schlichten sollen. Einige Politiker hat der Handwerkspräsident schon auf seiner Seite. Thüringens Justizminister Andreas Birkmann startete eine Bundesratsinitiative für die Gewerbetreibenden. »Wir sind es unseren Handwerkern, die gute Arbeit leisten, schuldig«, so Birkmann, »dass wir ihnen helfen, ihre berechtigten Ansprüche zu sichern.« Da kennt sich der Minister aus. Als er vor drei Jahren sein eigenes Privathaus in der Erfurter Glockengasse bauen ließ, hatte er die Firma Sobanski mit Putzarbeiten beauftragt. Sie stellte 22 000 Mark in Rechnung, angekommen ist nur gut die Hälfte. Wegen angeblicher Mängel hatte Birkmann die Summe kurzerhand um 9800 Mark gekürzt. »Ich habe von meinen Rechten, die mir wegen mangelhafter Bauleistung zustehen, Gebrauch gemacht«, verteidigt Birkmann sein Verhalten. Weiteren Streit um den Betrag braucht der Minister nicht zu fürchten. Die Handwerksfirma ging inzwischen Pleite. ALMUT HIELSCHER, ALEXANDER JUNG, STEFFEN WINTER Dieter Becker, 45, ist verzweifelt: Vor einem Jahr starb seine Frau. Dann scheiterte sein Sohn in der Schule. Und nun der Bescheid vom Finanzamt: Ab Januar muss er in die Steuerklasse I, den teuren Club der Singles. Denn Steuerklasse II, die bisher allein Erziehenden das Wirtschaften erleichterte, wird abgeschafft. »Gerade blüht mein Sohn wieder auf«, sagt Becker, »jetzt weiß ich nicht, wie ich seine Betreuung finanzieren soll.« Vater und Sohn leben in Dinslaken auf dem Land: Ganztagsschule, Hort, Tagesmutter? Gibt es alles nicht. Die Privatschule, die der Autoverkäufer für seinen zwölfjährigen Sohn gefunden hat, liegt 45 Kilometer entfernt, Kosten: 700 Euro im Monat. Ab Januar werden Becker von seinen 2450 Euro brutto im Monat nur noch 1480 Euro bleiben. Damit wird es für ihn deutlich schwieriger, Schule und Lebensunterhalt zu bestreiten. Mit Steuerklasse II hätte Becker 80 Euro mehr. So wie ihm geht es Tausenden. Der Verband allein erziehender Mütter und Väter (VAMV) will deshalb mit 100 000 Protestkarten ("Ich bin kein Single!") an Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) die rote Karte schicken. Der Gang zum Bundesverfassungsgericht wird vorbereitet. Das ärgert die SPD-Finanzpolitiker. Schließlich sei die Abschaffung der Steuerklasse II mit ihrem ausschließlich allein Erziehenden zustehenden Haushaltsfreibetrag Folge eines früheren Verfassungsgerichtsurteils. Väter oder Mütter, die ihren Nachwuchs schon länger solo betreuen, verlören die Vergünstigung auch nicht sofort, sondern nur stufenweise bis 2005. Durch das höhere Kindergeld ab 2002 und die Steuersenkungen in den Jahren 2003 und 2005 würden die Verluste bis dahin abgefedert, sagt SPD-Fraktionsvize Joachim Poß. »Verfassungsrechtlich zulässig« wäre auch der »worst case« gewesen - nämlich dass Steuerklasse II schon 2002 für alle ganz wegfalle. Für Neuzugänge bei den Single-Eltern wie Becker tritt der »worst case« schon jetzt ein. Wie ihm wird es auch Unverheirateten gehen, die bald ein Kind erwarten, getrennt lebenden Eltern, die in diesem Jahr mit der Betreuung abwechselten, sowie frisch Geschiedenen mit Nachwuchs. »2002 wird es zwei Klassen von allein Erziehenden geben«, schimpft Hans-Joachim Vanscheidt vom Bund der Steuerzahler. Und das, weil die Regierungskoalition geknausert habe. »Die Bundesregierung hat 1999 vorgerechnet, dass es mindestens elf Milliarden Euro kosten würde, Familien mit Trauschein den allein Erziehenden gleichzustellen«, wundert sich auch Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof. »Nun gibt sie nicht mal die Hälfte dafür aus.« Kirchhof muss es wissen. Sein Urteil war Auslöser für die jetzige Neuregelung. Beschlossen wurde es am 10. November 1998, ausgerechnet an jenem Tag, als der neue Bundeskanzler Gerhard Schröder seine Regierungserklärung verlas. Was die Richter in den roten Roben dekretierten, war ein deutlicher Kontrapunkt zu einem der politischen Ziele, auf das sich Rot-Grün just verständigt hatte: die Gleichstellung außerehelicher Lebensgemeinschaften. Verheiratete Eltern, so die Richter, würden benachteiligt. Geklagt hatten ein ehemals allein erziehender Vater und eine Mutter, die zunächst ohne Trauschein zusammengelebt hatten und nach dem Gang zum Standesamt plötzlich mehr Steuern zahlen mussten, erinnert sich Kirchhof. Die Kläger forderten gleiches Recht für alle - und bekamen es. Die gleichen steuerlichen Entlastungen bekamen sie hingegen nicht. In Zeiten knapper Kassen entschloss sich Finanzminister Eichel für die Nivellierung nach unten statt oben: Die Steuerförderungen der Familien wurden aufgestockt, die Privilegien der allein Erziehenden abgebaut. Das Kindergeld wurde seitdem um 26 Euro auf 154 Euro erhöht, ein Freibetrag eingeführt, der den Betreuungs- und Ausbildungsbedarf eines Kindes in Höhe von 2160 Euro steuerlich freistellt und der Kinderfreibetrag von 3564 Euro auf 3648 Euro erhöht, so dass künftig 5808 Euro je Kind steuerfrei bleiben. Millionen Familien werden so besser gestellt als vorher, die Kehrseite: Einige zehntausend allein Erziehende sind schlechter dran. Das hatten die Verfassungsrichter so nicht gewollt. Dass die Regierung nun den Schwächsten ihren Steuervorteil wegnimmt, statt diesen auch verheirateten Erziehenden zu gewähren, hält Kirchhof für »verkehrt«. Verfassungsgemäß gleich gestellt wären nur dann alle Familien, wenn es eine »kraftvolle steuerliche Entlastung für Kinder« gebe. Das Ziel der Grünen, Steuerprivilegien für Eheleute abzuschaffen und stattdessen eine Kindergrundsicherung einzuführen, scheint mit der neuen Regelung in noch weitere Ferne zu rücken. Obwohl Kanzler Schröder noch im April sagte, »Familie ist da, wo Kinder sind«, egal, »ob da ein Trauschein ist oder nicht«. Als der Nato-Generalsekretär Lord George Robertson Anfang des Jahres vor der kniffligen Aufgabe stand, die Brüsseler Behörde neu zu ordnen, drückte er seinen Beratern erst einmal ein kleines Büchlein in die Hand: Das sollten sie sich doch bitte mal gründlich durchlesen, empfahl er ihnen. Die »einfache, kleine Botschaft« würde sie bestens auf ihre Arbeit vorbereiten. Auch Dick Grasso, Chef der New Yorker Börse, schwört auf den schmalen Band mit dem seltsamen Titel: »Who moved my cheese?« - zu Deutsch: »Wer bewegte meinen Käse?« Grasso bestellte für seinen gesamten Führungsstab einen Stapel. Andernorts nimmt die Verehrung fast sektiererische Züge an: Colleen Barrett, Präsidentin von Southwest Airlines, war derart hingerissen, dass sie gleich jedem Mitarbeiter ein Exemplar schenkte - insgesamt 27 000 Stück. Das also ist der Stoff, der das Denken der Top-Entscheider aus Politik und Wirtschaft bestimmt und ihr Handeln leitet. Nicht etwa die messerscharfe Studie eines McKinsey-Eierkopfs, sondern eine schlichte Fabel. Bequem in einer Dreiviertelstunde zu lesen. Aufgeschrieben von einem 63-jährigen Ex-Chirurgen ohne jegliche Management-Expertise namens Spencer Johnson. Reduziert auf das notwendigste Personal. Zwei Mäuse und zwei Zwerge leben in einem Labyrinth und ernähren sich von Käse. Als der Vorrat zur Neige geht, machen sich die beiden Mäuse auf den Weg, neuen Käse zu suchen. Die Zwerge dagegen zögern: Der eine harrt der Dinge und hofft, dass von selbst neuer Käse kommt - vergebens. Der andere überwindet seine Angst und geht auf die Suche - mit Erfolg. Das ist die ganze Geschichte, mehr nicht. Wäre sie eine der klassischen Fabeln des Griechen Äsop, die aus der Antike überliefert sind, wäre sie auf höchstens einer Seite erschöpfend erzählt. US-Fabulierer Johnson aber schafft es, das Gleichnis so breitzuwalzen, dass er mit Ach und Krach hundert Seiten füllt. Dabei hilft ihm die Wahl einer äußerst seniorenfreundlichen Großdruck-Typografie ebenso wie der Trick, auf im Schnitt jeder siebten Seite einen Lehrsatz aus dem Text plakativ zu wiederholen, zum Beispiel: »Je schneller du den alten Käse sausen lässt, desto eher findest du neuen.« Denn damit auch wirklich jeder die Geschichte kapiert, hat der Zeilenschinder die Moral gleich mitgeliefert: Man dürfe nicht verzagen, sondern solle mutig immer Neues wagen, predigt er; nur dann werde man seine Wünsche und Ziele erreichen, oder in Johnsons Worten: den Käse finden, denn »wer Käse hat, ist glücklich«. Auf die Idee zum Buch sei er gekommen, weil er einmal gehört habe, dass Mäuse angeblich niemals zweimal am gleichen Ort nach Käse suchten. »Leider«, so der Autor, »verhalten sich die Menschen anders.« Zum Glück für ihn. Denn sonst würden sich wohl kaum so viele von der mäßig verblüffenden Botschaft derart angesprochen fühlen. Mehr als zehn Millionen Exemplare hat Johnson seit dem Erscheinen vor drei Jahren verkauft. Das Buch, in elf Sprachen übersetzt, ist eines der erfolgreichsten Managementbücher überhaupt und gehört teilweise schon zum Büroalltag. Inzwischen halten einige Firmen regelmäßig »Cheese Meetings« ab. Dabei lesen sich die Mitarbeiter den Text laut vor und diskutieren, welchem Charakter sie wohl am ähnlichsten sind. An vielen Arbeitsplätzen hängen Plakate mit Sinnsprüchen, die motivierend wirken sollen, etwa: »Folge dem Käse!« Dieser Aufforderung wollten die großen deutschen Verlagshäuser allerdings nicht nachkommen. Sie gaben dem Buch für den hiesigen Markt keine Chance, erzählt die Hugendubel-Verlegerin Monika Roell: »Die fanden es zu amerikanisch.« Weit gefehlt: Uneingeschränkt solidarisch mit den USA haben auch die deutschen Leser das Buch auf Bestsellerrang katapultiert, nachdem Roell die Rechte »richtig günstig« erworben hat. Mehr als 120 000 Exemplare der »Mäuse-Strategie für Manager"*, so der deutsche Titel, hat sie inzwischen verkauft. Wirtschaftlich sei es, untertreibt Roell, »ein hochinteressantes Produkt«. Autor Johnson hat es sich derweil auf Hawaii bequem gemacht. Von dort kontrolliert der Mediziner, der vor fast 20 Jahren schon als Co-Autor von »Der Minuten-Manager« seinen ersten Bestseller landete, eine Firma, die aus seiner Käsegeschichte ein noch größeres Geschäft macht: Sie verkauft den Kaffeebecher mit Aufdruck der vier Fabelfiguren für 9,95 Dollar, das Jeans-Hemd samt aufgestickter Mäuse für 41,95 Dollar und 50 zweifarbige Karten mit allen Sinnsprüchen für 75 Dollar. Wem das noch nicht genügt, der kann auch gleich das Komplettpaket »The Cheese Experience« inklusive Trickfilm und Hörkassette bestellen. Preis: 995 Dollar. Käse bringt Mäuse. ALEXANDER JUNG SPIEGEL: Bisher haben Sie nur mit dem Recycling von »Der große Preis« von sich reden gemacht. Der geht im Januar, acht Jahre nach Auslaufen der Ursprungsversion, wieder auf Sendung. Wie wollen Sie damit das Programm aufmöbeln? Brinkmann: Recycling gehört schon deshalb zu unseren Aufgaben, weil wir damit die Suche nach neuen Formaten systematisieren. Bevor wir Geld ausgeben für fremde Lizenzen, wühlen wir erst mal unsere eigenen Bestände durch. SPIEGEL: Haben Sie überhaupt schon irgend etwas Neues entwickelt? Brinkmann: Bisher war ich damit beschäftigt, eine Denkabteilung aufzubauen. Witz kann man nicht aus dem Hut zaubern. Man braucht kreative Köpfe, die zusammen rumspinnen. SPIEGEL: Wer entscheidet beim ZDF, was witzig ist? Brinkmann: Beim ZDF niemand. Wir lassen den Zuschauer entscheiden. SPIEGEL: Bei einem Fachkongress zum Thema »Humor« haben Sie angekündigt, der neueste Comedy-Trend sei der Geschlechterkampf. Was finden Sie daran lustig? Brinkmann: Im Zusammenleben von Mann und Frau liegt eine Alltagskomik, die jeder versteht. Auf dem amerikanischen Markt gibt es viele Sendungen, die damit spielen - das werden wir für uns abwandeln. SPIEGEL: Das klingt nach einer deutschen Provinz-Variante des ProSieben-Renners »Sex and the City«. Brinkmann: Genau. Etwas bodenständiger und für eine breitere Altersgruppe als das Original. SPIEGEL: Und das wird so lange gesendet, bis es gefällt? Verrückt nach Mary Dienstag, 20.15 Uhr, RTL Zum Jahreswechsel soll's schon ein Programm-Feuerwerk sein: Das ZDF will mit Dieter Wedels Sechsteiler »Die Affäre Semmeling« (siehe Seite 82) funkeln, Arte lässt mal wieder den »Blauen Engel« schillern, und RTL böllert mit einem in Hollywood eingekauften Kino-Knüller des Jahres 1998: In der charmant überdrehten Komödie der Regie-Brüder Peter und Bobby Farrelly ist Ben Stiller auch Jahre nach seinem peinlichsten High-School-Date noch verrückt nach Mary (Cameron Diaz). Über den grandios schlechten Geschmack des Films, der in einer längst legendären Sperma-Haargel-Szene gipfelt, lässt sich streiten - ein Ablach-Donnerschlag ist er allemal. Liebe, Lügen, Leidenschaften Donnerstag, Freitag, Samstag, jeweils 20.15 Uhr, ARD Strapse, Büstenhalter, String-Tangas und Negligés - bei »Aphrodite« dreht sich alles nur um Damenwäsche. Das Edel-Label gehört dem Wiener Clan der Steiningers. Familienoberhaupt Franz (Maximilian Schell) hat sein ganzes Leben dem Konzern gewidmet. Als er erfährt, dass er bald sterben wird, steigt er Hals über Kopf - und ausgerechnet am Tag des Firmenjubiläums - mit seiner Geliebten (Barbara Sukowa) in den Flieger nach Capri. Zurück bleiben die vernachlässigte Ehefrau, die führungslose »Aphrodite« und eine finstere Intrige: Der Amerikaner Robert Fox (Philipp Brenninkmeyer) von der Billigwäschekette »F&F« will »Aphrodite« ruinieren. Mit Hilfe des Luders Karin (Julia Thurnau), die als Assistentin der Geschäftsleitung alle zehn Filmminuten mit einem anderen Mann in die Wäschekiste hüpft, kommt er seinem Ziel bedrohlich nahe. Der Regisseur Marco Serafini macht aus der Vorlage der Drehbuchautorin Christiane Sadlo dreimal 90 Minuten wüste Seifenoper - und lässt Stars wie Barbara Sukowa und den Oscar-gekrönten Maximilian Schell einen großen Haufen schmutzige Wäsche waschen. Gotteszell Donnerstag, 23.00 Uhr, ARD Mauern, Gitter, Türen und Schlösser prägen den Alltag im Frauengefängnis Gotteszell. Die Dokumentarfilmerin Helga Reidemeister hat mehr als ein halbes Jahr dort gedreht. Sie zeigt ein Bild des Gefängnisalltags, das mit der Fiktion der RTL-Knastreihe »Hinter Gittern« nichts gemein hat. Einfühlsam porträtiert Reidemeister die Vollzugsbeamtinnen und sechs Gefangene: Sie lässt die Frauen ausgiebig über sich und ihr Leben in Gefangenschaft sprechen; erst spät erfährt der Zuschauer, welche Straftaten sie begangen haben. Zum Beispiel Petra, die wegen Mordes an ihrem Ehemann zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. »Meine Tat wird mich immer begleiten«, sagt sie, während die Kamera ihre Hand zeigt, an der immer noch der Ehering steckt. Faust I und II Samstag, Sonntag, jeweils 20.15 Uhr, 3sat Habe nun, ächz, 12 000 getreulich aufgesagte Goethe-Verse am eigenen Leib erlitten: Deutschlands Theaterkritiker fanden für Peter Steins »Faust«-Marathon, das zentrale Kulturspektakel der Expo 2000 in Hannover, kaum ein gutes Wort, doch das Publikum bejubelte auch die späteren »Faust«-Aufführungsserien in Berlin und Wien. Für ihre 13-stündige Fernsehadaption bekamen die Regisseure Peter Schönhofer und Thomas Grimm den diesjährigen Bayerischen Fernsehpreis. Das Werk, das wohl jedem Vers einen neuen Schnitt widmet, erinnert bisweilen eher an einen Videoclip denn an ein Theaterstück. Wie spricht Gretchen in dieser Reise »vom Himmel durch die Welt zur Hölle« am Spinnrad? »Mein armer Kopf ist mir verrückt / mein armer Sinn ist mir zerstückt.« Tatort: Schrott und Totschlag Sonntag, 20.15 Uhr, ARD Eine Sechsjährige hat Magenschmerzen, der Freund ihrer Mutter massiert ihr den kranken Bauch - und für SPIEGEL: Von 1988 bis 1997 waren Sie für die SPD Erster Bürgermeister von Hamburg. Wie hat Ihnen Robert Atzorn in dieser Rolle gefallen? Voscherau: Sehr gut. Die Hektik, der Zeitdruck und der psychische Druck, die Atzorn ausstrahlt, kamen mir sehr bekannt vor. Allerdings habe ich bisher nur Teile der ersten zwei Folgen gesehen. SPIEGEL: Sie haben sich in Dieter Wedels »Affäre Semmeling« wiedererkannt? Voscherau: Nein, das kann ich nicht behaupten. SPIEGEL: Immerhin heißt der TV-Bürgermeister Klaus Hennig und sieht Ihnen erstaunlich ähnlich. Voscherau: Gut, darauf hat man möglicherweise bei der Besetzung geachtet. Mein Déjà-vu-Erlebnis im Film war aber eher der Wahlkampfbus. Mit so einem Ding bin ich 1997 im Wahlkampf sieben Wochen ohne Pause, 14 Stunden pro Tag, durch Hamburger Arbeiterviertel gefahren. SPIEGEL: Dass Wedel das Hamburger Rathaus als einen ziemlich korrupten Sumpf zeigt, weckt keine Erinnerungen bei Ihnen? Voscherau: Nein, weil es im Rathaus keinen korrupten Sumpf gab und gibt. Dort ging's eigentlich recht trocken zu. Was ich bisher von der Serie gesehen habe, hat mit den realen Verhältnissen nur sehr begrenzt zu tun. SPIEGEL: Ein Beispiel, bitte! Voscherau: Gleich in der ersten Folge wird jemand durch Zufall Zeuge, wie ein Investor im Büro des Bürgermeisters einen Haufen Bargeld über den Tisch schiebt, weil er eine S-Bahn bauen will. Eine Parteispende an die SPD im Hamburger Rathaus: So was gibt es nicht. SPIEGEL: Immerhin sollen Sie eine der wichtigsten Informationsquellen für Wedel gewesen sein. Voscherau: Er hat bei Politikern recherchiert, auch bei mir. Ich habe ihm einige Dinge erzählt über die Form der Austragung politischer Meinungsverschiedenheiten im Sinne des alten Spruchs: Herr, schütze mich vor meinen Freunden, vor meinen Feinden schütze ich mich schon selbst. SPIEGEL: Damit haben Sie offensichtlich Eindruck gemacht: Glaubt man Wedels Film, schmieden SPD-Mitglieder selbst an einem Opernabend Ränke gegen die eigenen Leute. Voscherau: Sozialdemokratische Intrigen in der Oper sind gar nicht möglich, weil da nicht genug SPD-Mitglieder zusammenkommen. Wir treffen uns nicht mit dem Champagnerglas in der Hand und in Oberschicht-Robe. Intrigen gedeihen eher in Hinterzimmern. Hans-Ulrich Klose, mein Vorvorgänger als Bürgermeister, hat mal gesagt: In Hamburg kostet eine Intrige nur eine Telefoneinheit. SPIEGEL: Ein Satz, den Wedel prompt in sein Drehbuch einarbeitete. Aber auch andere Ähnlichkeiten mit realen Personen sind frappierend: Mario Adorf spielt einen Senator mit dem Spitznamen Beton-Walter, weil der echte ewige Hamburger Bausenator Wagner als Beton-Eugen bekannt war. Voscherau: Wenn man davon ausgeht, dass Wedel versucht hat, meinen Freund Eugen abzubilden, sind die Szenen mit Adorf weit weg von der Realität. Adorf atmet ja gerade nicht den sozialdemokratischen Stallgeruch. SPIEGEL: Hätten Sie Wedel erlaubt, im Hamburger Rathaus zu drehen? Voscherau: Ich musste diese Frage nicht entscheiden. Ich weiß aber, dass eine Mitarbeiterin der Rathaus-Pressestelle vor Scheinauthentizität gewarnt hat: Die Zuschauer könnten ja denken, so gehe es im Rathaus tatsächlich zu. Auf anderer Ebene hat man das lockerer gesehen. SPIEGEL: Die andere Ebene war Ihr Nachfolger Ortwin Runde. Voscherau: Auch die Wirtschaftsbehörde war der Auffassung, die in Deutschland einmalige Kulisse des Rathauses sei gut als Standortwerbung. Das mag sein. Ich fürchte nur, die Zuschauer werden denken: Das ist das Hamburger Rathaus, wie es liebt und lacht. SPIEGEL: Ihr Alter Ego Robert Atzorn wird im Laufe der »Affäre Semmeling« Bundesgesundheitsminister. Ein gutes Omen für Ihre weitere Karriere? Voscherau: Ein ehemaliger Hamburger Bürgermeister muss nicht Karriere machen. INTERVIEW: MARCEL ROSENBACH, Wahrscheinlich würde das Frühstücksfernsehen »Morgenappell« heißen und die Nachrichtensendung »Rapport aus Wien«. Und abends, zur Erbauung, könnte es dann eine Reality-Show aus der Kaserne geben: »Boyscamp«, harte Jungs beim Stubenfegen. So ähnlich könnte das Programm aussehen, wenn Österreich im Jahr 2002 neben den zwei landesweiten Kanälen des Österreichischen Rundfunks (ORF) endlich sein eigenes Privatfernsehen bekommt - als letztes Land in Europa, 18 Jahre nach Deutschland und 6 Jahre nach Albanien. Denn einer der Bewerber, die sich in diesen Tagen um die ersten Privatfernseh-Lizenzen bemühen, ist ausgerechnet das österreichische Verteidigungsministerium. Das Bewerbungsfax traf allerdings präzise zwei Minuten zu spät bei der neuen Medienbehörde »KommAustria« ein. Sie will Ende Januar über die Lizenzvergabe entscheiden und kennt in Sachen Einsendeschluss, Ministerium hin oder her, keinen Schmäh: Ob der freiheitliche Verteidigungsminister Herbert Scheibner den Großraum Wien also tatsächlich wie geplant täglich mit rund fünf Stunden Armeefernsehen beglücken kann, hängt nun von der Uhrzeit auf einem Fax ab. Der geplante Kommiss-Kanal ist nicht die einzige Kuriosität bei dem Versuch des Alpenlandes, medial an internationale Standards anzuschließen. Plötzlich herrscht höchste Aufregung auf dem bislang so beschaulichen österreichischen Fernsehmarkt. Dabei hatten sich seit Jahren alle so schön arrangiert: ORF 1 kommt mit seinen Spielfilmen und Serien sowieso längst wie ein gebührenfinanziertes RTL daher, ORF 2 ist regionaler ausgerichtet und mit Sendungen wie »Willkommen Österreich« mehr was fürs Gemüt. Über Kabel und Satellit können rund 80 Prozent aller Haushalte zudem praktisch alle deutschen Privatsender empfangen. Gemeinsam kommen ProSieben, RTL und Co. beim südöstlichen Nachbarn immerhin auf rund 36 Prozent Marktanteil. Doch seit der Regierungswechsel im vergangenen Jahr eine Koalition aus ÖVP und der FPÖ von Jörg Haider an die Macht brachte, ist es vorbei mit dem lauschigen ORF-Monopol für Fernsehen made in Austria. In Rekordzeit peitschte die neue Regierung ein Gesetz durchs Parlament, das den öffentlich-rechtlich organisierten ORF zum Jahresende in eine Stiftung verwandelt und so vermeintlich »entpolitisieren« soll. Gleichzeitig wurde ein Privatfernsehgesetz verabschiedet, das erstmals landesweite Kommerzkanäle möglich macht. Seither herrscht Chaos zwischen Vorarlberg und Burgenland. Die Wahl des neuen ORF-Generaldirektors am vorvergangenen Freitag war mit Kandidaten wie Max Schautzer ("Pleiten, Pech & Pannen") ähnlich unterhaltsam wie die kuriose Intendantenkür beim ZDF - wobei es beim ORF nach zehnstündigem Sitzungsmarathon immerhin ein Ergebnis gab: Neue ORF-Chefin wird vom 1. Januar an Monika Lindner, bisher Landesintendantin in Niederösterreich. Beim Privatfernsehen dagegen herrschen alles andere als klare Verhältnisse. Die Ausschreibung der begehrten landesweiten Antennenfrequenz geriet zur Posse. So hieß es in einer E-Mail an die »KommAustria«, die italienische Firma Stream bekunde Interesse. Doch das Unternehmen dementierte prompt. Die E-Mail, berichtet ein Insider, kam pikanterweise von einem FPÖ-Mann, der selbst im Rundfunkbeirat der »KommAustria« sitzt. Offenbar war da jemand im fälschlichen Glauben, Stream gehöre zum Medienimperium des italienischen FPÖ-Spezis Silvio Berlusconi. Interessant auch die Pläne eines Gebildes namens »Ganymedia«. Das will nachmittags eine Austro-Version der NBC-Europe-Show »Giga TV« senden und ansonsten mit der kanadischen Chum-Gruppe zusammenarbeiten, die in Toronto erfolgreich ein Stadtfernsehen betreibt. Wo da der notwendige Österreich-Bezug herkommen soll, scheint nicht ganz klar - andererseits ist Kanada ja auch recht bergig. Nicht weniger suspekt ist die Bewerbung einer Gruppe namens »Kanal 1«. Sie will mit einer Belgrader Produktionsfirma kooperieren, die dort den Sender »Kosava« betreibt - aufgebaut hat den Kanal die Tochter von Ex-Diktator Milosevic. Ohnehin vermuten Beobachter wie Armin Thurnher, Chefredakteur des Wiener Magazins »Falter«, hinter »Kanal 1« das Presseimperium des »Kronenzeitungs«-Verlegers Hans Dichand. Dessen Sohn ist geschäftlich eng mit den »Kanal 1«-Verantwortlichen verbandelt. Die Geburtswehen des österrei-chischen Privatfernsehens erinnern schwer an den medialen Urknall in Deutschland von 1984, als die damalige Kohl-Regierung dem angeblichen öffentlich-rechtlichen »Rotfunk« ein konservativ-kommerzielles Pendant entgegensetzen wollte. Auch Leo Kirch schickte bei ProSieben einst seinen Sohn Thomas vor, um nicht mit den Kartellwächtern ins Gehege zu kommen. Bei solchen Parallelen verwundert es nicht, dass viele Exil-Österreicher, die im deutschen Privatfernsehen Karriere machten, jetzt auf ihrem Heimatmarkt Entwicklungshelfer spielen wollen. Der bisherige ORF-Generalintendant Gerhard Weis befürchtet schon einen deutschen »Medienkolonialismus«- auch wenn es sich in den meisten Fällen um Re-Importe handelt. * Der Münchner Filmhändler und gebürtige Wiener Herbert Kloiber etwa hält ein Viertel der Anteile des Lizenzbewerbers ATV. Der erste private Kabelkanal Österreichs hat bislang minimale Reichweiten, aber immerhin schon so etwas wie ein Programm und gilt deshalb als heißester Anwärter für die austriaweite Antennenfrequenz. * N-tv-Chef Helmut Brandstätter, auch er Österreicher, konkurriert mit seinen »City-TV«-Plänen mit dem Verteidigungsministerium und dem Saarbrücker Regionalsender »Saar TV« um eine der drei regionalen Frequenzen. * Gottfried Zmeck, einst Kirchs Mann fürs Digitalfernsehen, der in München mittlerweile den Schlagerkanal »Goldstar« betreibt, hat seine Pläne für ein »TV Austria 3« gerade wieder aufgeben müssen. In letzter Minute waren ihm zuerst zwei österreichische Investoren und schließlich auch sein Goldstar-Gesellschafter Kirch wieder abgesprungen. Zmeck kann die Skepsis der Investoren fast verstehen: »Sehr, sehr risikoreich« sei der Einstieg in den österreichischen TV-Markt, sagt der ehemalige ORF-Mann. Im Jahr 2000 floss mit 715 Millionen Mark das Gros der Werbeerlöse an den ORF, die österreichischen »Werbefenster« von RTL, Sat.1 und Co. erwirtschafteten zusammen mit dem Kabelkanal ATV gerade mal rund 140 Millionen Mark. »Niemals« werde sich ein Privatkanal in seinem Heimatland rentieren, sagt RTL-Chefredakteur Hans Mahr, ein weiterer deutscher TV-Import aus dem Alpenland. Auch das neue ORF-Gesetz, das die Werbemöglichkeiten des Platzhirsches zu Gunsten der Neulinge einschränken soll, sei, so Mahr, »nicht Fisch, nicht Fleisch«. RTL hat sich erst gar nicht um die Austro-Lizenz beworben. Dabei könnte der hochkonzentrierte österreichische Medienmarkt neue Stimmen gut vertragen. Was die neue blauschwarze Regierung unter »entpolisiertem« Rundfunk versteht, zeigte sich nämlich nicht nur bei den Armee-TV-Plänen des FPÖ-Verteidigungsministers und bei der Wahl der neuen ORF-Generalin. Als bei einem New-York-Besuch von Jörg Haider kürzlich kein ORF-Team zugegen war und auch auf telefonische Nachfrage keines anrückte, griff er flugs zur Selbsthilfe: Ein privates Produktionsteam schoss die Bilder, Haiders Sprecher stellte die Fragen und gab das Band schließlich beim ORF in Kärnten ab. Unkommentiert ging »Haiders Homevideo« ("Format") über den Sender. »Eigentlich unglaublich«, so »Falter«-Chef Thurnher, »aber das ist eben Österreich.« MONTAG SPIEGEL TV REPORTAGE Die Sendung entfällt wegen des Feiertagssonderprogramms auf Sat.1 DONNERSTAG 22.20 - 23.15 UHR VOX SPIEGEL TV EXTRA Staatsbesuche, Dinnerpartys und Bankette - das Diplomatische Corps in Berlin In Berlin sind 120 Staaten mit einer eigenen Botschaft vertreten - vom Statthalter der Queen bis zum Gesandten der Republik Namibia. Auf dem diplomatischen Parkett werden mit Freund und Feind Kontakte geknüpft, Informationen gestreut und Interessen vertreten. Eine Reportage über das Leben der ausländischen Diplomaten in Berlin. SAMSTAG 22.10 - 24.00 UHR VOX SPIEGEL TV SPECIAL Giganten unter Wasser - unheimliche Begegnung mit den letzten Urzeitfischen Zum ersten Mal ist es dem Taucher Matthias Kopfmüller und seinem Team gelungen, Riesenstöre in ihrer Unterwasserwelt zu filmen. Sie fanden die Tiere in einem Gebiet, das Jacques Cousteau einst für unbetauchbar erklärt hatte: das Donaudelta in Rumänien. Außerdem: eine Dokumentation über die urzeitliche Jagd der Tschuktschen nach Walen in der Beringstraße. SONNTAG 22.00 - 22.50 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Massenmord nach Anleitung - die Geschichte der Terroranschläge des 11. September Die Mission unterlag strengster Geheimhaltung. Acht Wissenschaftler - Spezialisten für Biomechanik, Aerodynamik und Messplatztechnik - reisten wochenlang dem Tross der Skispringer-Elite hinterher. Unauffällig mischten sie sich, mit acht Videokameras bewaffnet, an den verschiedenen Schanzen dieser Welt unters Publikum. Es galt, die Technik eines Mannes auszukundschaften, der seinen Konkurrenten ein Rätsel war. Auf den Meter genau verteilten sich die Späher einer traditionsreichen Ski-Nation über den Hang, um von jeder Flugphase Aufnahmen aus rechtem Winkel zu erhalten. Das ist nach den Regeln des internationalen Verbandes zwar verboten, aber man muss halt was riskieren, wenn man einem Phänomen auf die Spur kommen will: dem Phänomen Adam Malysz. Wie aus dem Nichts hatte sich der zerbrechlich wirkende Pole im vergangenen Winter an die Weltspitze katapultiert. Die Dominanz, mit der er die Vierschanzentournee gewann, zermürbte seine Gegner. Locker holte er sich den Gesamt-Weltcup, dazu Gold bei den Weltmeisterschaften von der Normalschanze. Und auch in der laufenden Saison besitzt Malysz, 24, die Lufthoheit: Von den ersten neun Springen hat er sechs gewonnen, und für die Vierschanzentournee, die am Sonntag in Oberstdorf beginnt, ist er Favorit Nummer eins. Deutsche, jahrelang vom Erfolg verwöhnt, Österreicher, Finnen und Norweger, sie alle haben sich inzwischen mit der Führungsrolle des schmächtigen Überfliegers abgefunden. Denn das Puzzle, das die Sportwissenschaftler im Frühjahr aus den Videobändern und den daraus abgeleiteten Computeranalysen zusammengefügt haben, zeigt ein für die Rivalen ernüchterndes Bild: Malysz steht für die Perfektion einer Sportart. Der Trumpf des gelernten Dachdeckers liegt im Absprung. Keiner wuchtet sich so kraftvoll vom Schanzentisch wie er. Weil Malysz den Oberkörper dabei kaum aufrichtet und extrem schnell in die Vorlage kippt, wird er vom Luftstrom getragen, als stütze ihn eine unsichtbare Hand. Einmal in Position, segelt der 1,69 Meter große und 52 Kilogramm leichte Athlet wie eine Feder ins Tal. Nach gut der Hälfte eines Sprungs steht er noch bis zu anderthalb Meter höher in der Luft als etwa Martin Schmitt, der länger ist und schwerer. Für den deutschen Cheftrainer Reinhard Heß bewegt sich der Beste der Branche jenseits der Grenze des menschlich Machbaren: Er sei »wirklich außerirdisch«. Sobald der Flugartist Boden unter den Füßen spürt, ist jedoch nichts mehr an ihm übernatürlich oder geheimnisvoll. Unter Kollegen gilt er als nervtötender Langweiler. Eher aus Verlegenheit platzierte ihn der Skisprung-Sender RTL in einer Anzeigenkampagne neben Mädchenschwarm Schmitt. Dass der dröge Pole dem populären Schwarzwälder den Rang abgelaufen hat, kommt den Marketingmanagern des Kommerzkanals so gelegen wie Sturm oder dichter Nebel. Doch da ist nichts zu machen. Malysz ist sämtliche Aufregung um seine Person peinlich. »Ich will kein Star sein«, sagt er, »will mich nicht verändern.« Sondern immer der bescheidene Junge ohne Schulabschluss bleiben. All die Leute, die ihm wie jüngst beim Weltcup in Titisee-Neustadt gierig Stifte an den Hals hielten und ein Autogramm verlangten, bediente er zwar geduldig. Gleichwohl versteht er sie nicht: »Andere springen doch auch sehr gut.« Knalleffekte, die im Showgeschäft Sport zuweilen mit Charisma verwechselt werden, sind dem Mann mit dem Oberlippenbart völlig fremd. Wegen der hohen Telefonkosten schickt er seiner Frau aus dem Ausland nur SMS. Er hört Volksmusik und geht oft mit »Karat« spazieren, seinem Boxer. Zum Frühstück isst er ein mit Banane belegtes Brötchen. Abends schlappt er gemütlich durchs Hotel, schnappt sich Lederschürze, Schmelzeisen, Bürste und pflegt seine Ski. Ein Habitus, der Malysz in seiner Heimat beinahe in den Stand eines Heiligen versetzt hat. Gerade wegen seiner Einfachheit ist er in Polen eine Identifikationsfigur: endlich ein Ostler, der es den arroganten Westlern zeigt. Denn zum ersten Mal seit dem dritten Platz bei der Fußball-WM 1982 hat das Land einen Sporthelden, der international für Schlagzeilen sorgt. Sein Bekanntheitsgrad beträgt sagenhafte 92 Prozent. Das Volk belohnt seinen Erlöser mit ihm gewidmeten Liedern, Sonderbriefmarken und einer 330 Kilo schweren Statue aus Schokolade. Als Malysz im Januar, umnebelt vom Freudenfeuer mitgereister Fans, beim Skifliegen im tschechischen Harrachov zum Sieg sprang, saßen 15 Millionen Polen vor dem Fernsehgerät. Das Parlament in Warschau legte schon mal eine »technische Unterbrechung ein«, damit die Abgeordneten dem Champ bei der Arbeit zugucken konnten. Und Staatspräsident Aleksander Kwasniewski drängt es bei jeder Gelegenheit in seine Nähe. Besonders bizarre Blüten treibt die Verehrung in Wisla, einem Städtchen in den Schlesischen Beskiden, dem toten Winkel Polens. Vor dem Haus in der Kopydlo-Straße 15, wo Malysz im schlichten Dachgeschoss wohnt, spucken Busse pausenlos Schaulustige aus. Sie klauben Steine aus der Auffahrt und fotografieren seine Frau Izabela. Groupies schicken ihm Unterhöschen aus Spitze: »To Adam, Skijumper, Poland.« Der Mann, der aus dieser Hysterie Kapital schlägt, sitzt betont locker in seinem Bürosessel und zieht genüsslich an einer Marlboro. Jacek Kisielewski, 44, verkauft hauptberuflich Autopolitur, ist Vorsitzender des Stadtrats, und wenn er über Malysz redet, bekommt er leuchtende Augen. »Adam ist eine Marke, so wie Coca-Cola oder Mercedes«, sagt er und bläst Rauch aus der Nase. Kisielewski leitet jene Offensive, die auch in Polen »Merchandising« heißt. 20 Produkte werden seit Anfang Dezember in den 8000 Filialen der polnischen Post verkauft: Kaffeetassen, Mützen, T-Shirts. Bis nach Kanada werden die Devotionalien verschickt. »Der Bursche weiß gar nicht, wie viel er für sein Land tut«, sagt Kisielewski. Einer der Profiteure heißt Jan Poloczek. Seit drei Jahren ist er Bürgermeister. In seinem Wohnzimmer hängt am Kamin ein Malysz-Porträt. »Dank Adam geht es bei uns aufwärts«, sagt er. Ewig hat Wisla auf eine direkte Zugverbindung in die Hauptstadt gewartet - seit Juni gibt es sie täglich. »Wir müssen seine Erfolge ausnutzen«, sagt Poloczek. Wisla ist vom Skisprung-Boom erfasst. Fast alle Kinder wollen beim Sportclub das Fliegen lernen, mehr als 100 üben schon. Nächstes Jahr möchte der Bürgermeister eine neue Schanze bauen, um mit einem international besetzten Springen mehr Touristen in die strukturschwache Stadt zu locken. Spürt Malysz schon die Bürde der Verantwortung? »Ich tue nur mein Bestes«, sagt er. Das muss als Statement reichen. Malysz verschränkt die Arme vor der Brust. Edi Federer, sein österreichischer Manager, findet diese Bodenständigkeit »suppa liab«. Federer, 48, ist einer jener grob geschnitzten Geschäftemacher mit offenem Hemdkragen und Dreitagebart, deren Lässigkeit anstrengt. Seit fünf Jahren vermarktet der ehemalige Skispringer das polnische Team, und zwei Tage vor der letzten Vierschanzentournee besorgte er Malysz den ersten Einzelvertrag. Er knallte ihm zwei Helme mit dem Logo des Softdrinks »Red Bull« auf den Tisch und rief: »Da, jetzt hast du einen Sponsor!« Heute wirbt Malysz für Heizkessel, Fenster, Handys. In Fernsehspots preist er Tütensuppe an. Seine Ausrüstung ist verziert mit fünf Meter Werbung, die ihm viel Geld aufs Konto spült. Allerdings soll Federer kräftig mitkassieren. Es heißt, er streiche über die Hälfte der Einnahmen ein. Federer findet den Vorwurf »primitiv«. Aber äußern darf ihn jeder: »Das macht uns interessant.« Den Mann plagt viel mehr, dass er auf seinen Schützling aufpassen muss wie auf einen Pflegefall. Noch immer vergisst Malysz ab und zu, seine Sponsor-Kappe aufzusetzen, wenn er zur Siegerehrung gerufen wird. Zu Interviews muss Federer seinen Mandanten geradezu zwingen: »Geh halt hin und sag zwei lustige Sätze. Ist gleich vorbei und tut auch gar nicht weh.« Bei der Pressekonferenz im Kursaal des »Neustädter Hofs« wirkt Malysz seltsam deplatziert. Während die deutsche Nachwuchshoffnung Stephan Hocke, 18, nach seinem dritten Platz munter in die Runde grinst, sieht der Schanzenkönig aus wie ein Eiszapfen: kalt und glatt. Am liebsten würde er sich hinter seinem Dolmetscher verstecken. Kaum vorstellbar, dass Malysz diesen Winter noch einen Medientermin auf Deutsch abhält, wie Federer sich es wünscht. Zwar hat er im Sommer zwei Monate Unterricht genommen, aber »total Angst, etwas falsch zu machen«, sagt sein Lehrer, der Radioreporter Sebastian Szczesny. Es ist ein Bollwerk aus Vorsicht, das Malysz aufgebaut hat, um nicht wieder so ein Desaster zu erleben wie vor vier Jahren. Damals, auf einem ersten, kurzen Höhepunkt der Karriere, stürzte er böse ab. Malysz war sechs, als er anfing mit dem Skispringen. Trainiert wurde er von Jan Szturc, seinem Onkel. Der sah schnell, dass der Junge besondere Fähigkeiten besaß: »Sein Fluggefühl war außergewöhnlich.« Beim ersten Sprung rutschte er zwar noch aus den zu großen Schuhen, aber als Zehnjähriger schaffte er schon 60 Meter. Mit 16 wurde er Jugendmeister in der Nordischen Kombination, und weil Skisprung-Olympiasieger Jens Weißflog sein Vorbild war, nannten seine Freunde ihn »Jens«. Mit 19 hatte Malysz drei Weltcup-Springen gewonnen und gehörte zu den Top Ten. Im Juni 1997 heiratete er, alles schien perfekt. Aber als vier Monate später seine Tochter Karolina geboren wurde, brach er unter der Last zusammen: »Plötzlich war ich für einen kleinen Menschen verantwortlich, dabei fühlte ich mich selber noch als Kind.« Auf der Schanze funktionierte nichts mehr. Im Weltcup rutschte er auf Rang 75 ab. Er stand vor den Trümmern seines Sportlerlebens, wollte aufhören. Seine Frau hielt ihn davon ab. Zum Baumeister seines Comebacks wurde ein Psychologe der Sporthochschule Krakau: Jan Blecharz, ein Herr mit Brille, der Sportschützen und Volleyballer betreut, diagnostizierte Konzentrationsschwächen und mangelndes Selbstbewusstsein: »Adam war total verunsichert.« Fortan feilten unterschiedliche Fachkräfte an mentaler und körperlicher Stärke. Blecharz nahm Malysz die Angst vor Niederlagen: »Er hat dafür gesorgt, dass ich beim Springen nicht an Dummheiten denke.« Gelungen ist ihm das mit den »Sieben Regeln für Malysz«. Die erste lautet: »Konzentriere dich auf deine eigenen Stärken.« Und die sechste: »Lerne, die Symptome von Druck zu erkennen, und wisse sie zu verhindern.« Ist Malysz nervös, legt er darum eine Kassette mit Meeresrauschen oder Blätterrascheln in den Walkman. Auf dem Weg zur Schanze summt er Weihnachtslieder, um sich abzulenken. Ein Ritual, von dem sich inzwischen auch japanische Springer Erfolg versprechen: Sie ließen sich die Melodien von Journalisten auf Band singen. Um die Fitness kümmerte sich Jerzy Zoladz, ein Professor für Physiologie von der Krakauer Sporthochschule. Der Muskelspezialist erstellte einen Trainingsplan, der sich an Größe, Gewicht und Muskelbau orientiert. Es komme darauf an, sagt er, die Kraft »bei verschiedenen Geschwindigkeiten und in verschiedenen Phasen richtig einzusetzen«. Früher war Malysz am Schanzentisch hektisch. Jetzt bleibt er selbst bei wechselnden Winden cool. Eher durch einen Zufall als mit wissenschaftlicher Hilfe geriet Malysz an seine weichen Ski, die ihn seit einem Jahr so weit tragen und lange als Erfolgsfaktor gehandelt wurden: Das für ihn hergerichtete Paar entsprach nicht den Regeln, es war zu lang - was dem Polen im finnischen Kuopio prompt eine Disqualifikation einbrachte. Weil Malysz bis zum nächsten Wettbewerb keine Zeit zum Testen hatte, nahm er in seiner Not jene Bretter, die am schnellsten verfügbar waren. Ein Glücksgriff, denn sie kommen seinem Sprungstil entgegen. Da sie extrem elastisch sind, kommt schneller Druck unter die Latten, der Auftrieb wird größer. Die Konkurrenten, allen voran Martin Schmitt, zogen rasch nach, kamen aber mit den Schwingungen der Ski nicht zurecht und brachen ihre Versuche mit den flatternden Brettern wieder ab. »Bei Malysz passt eben alles: Psyche, Kraft, Technik und Material«, urteilt Dieter Thoma, Olympiasieger und früherer Weltmeister. Und daher wird der Weitenjäger mit Erwartungen überfrachtet. Olympisches Gold in Salt Lake City ist quasi Pflicht. Ewa Malysz betet bereits für ihren Sohn: »Ich wünsche ihm die Medaille von Herzen.« Ob er dann endgültig der Größte sein wird? »Groß ist unter den Polen Papst Johannes Paul II.«, sagt der Protestant Adam Malysz. »Ich kann nur gut im Wind liegen.« MAIK GROSSEKATHÖFER Für gewöhnlich ist der Gastwirt und Hotelier Dieter Kehl aus dem hessischen 500-Einwohner-Nest Tann-Lahrbach mit seinem Beruf und seinen Ämtern ausgelastet. Intensiv widmet sich der Inhaber des »Landhauses Kehl«, einer Herberge mit 80 Gästebetten, etwa der regionalen Wirtschaftsförderung. Als Chef der Gast- und Landwirtevereinigung »Rhöner Charme« hat sich Kehl dabei insbesondere der heimischen Küche verpflichtet - zu seinen Spezialitäten gehört Lammkeule mit Krautwickel und Schnippelbohnen. Im Frühjahr jedoch trieb Kehl die Sorge um den zweitältesten Sohn aus seiner Welt der Wickel und Würstchen hinaus auf unbekanntes Terrain. Der Gastronom begab sich in Verhandlungen mit Kapazitäten der Fußballbranche. Auf der Gegenseite saßen Bayern Münchens Manager Uli Hoeneß und dessen Kompagnon Karl-Heinz Rummenigge, Sportchef des Weltpokalsiegers und Sprecher der europäischen Großclub-Vereinigung »G 14«. Zu beraten war die Zukunft des Defensivspielers Sebastian Kehl, 21. Ein erstaunlich ehrgeiziges Unterfangen. Weil Vater Kehl offenbar glaubte, mit den Bayern-Bossen auf Augenhöhe um Handgelder und Klauseln feilschen zu können, entwickelte sich ein eigentlich branchenüblicher Vorgang zum öffentlichen Spektakel: Der Transferfall geriet zum »Transfer-Krieg« ("Bild"). Das Gezerre um den Jungnationalspieler vom SC Freiburg, der erst mit dem Meister aus München handelseinig war und dann »aus sportlichen Gründen« doch dessen Rivalen Borussia Dortmund vorgezogen hat, wäre fast eskaliert: Hoeneß schaltete den Rechtsanwalt Christoph Schickhardt ein. Der beharrte auf der Feststellung, es bestehe ein rechtsgültiger Arbeitsvertrag zwischen Kehl und dem FC Bayern, und kam zu der verblüffenden Erkenntnis: Die These, wonach jeder Spielerberater per se der Branche schade, sei spätestens nach diesem Fall »zu überprüfen«. Denn die Causa Kehl ist ein Sonderfall im Wettbieten der Bundesligaclubs um die letzten Kostbarkeiten des deutschen Fußballs. Der selbstbewusste Hesse mit Abitur, der mit 17 Jahren von Borussia Fulda zu Hannover 96 wechselte, ging den wohl entscheidenden Karriereschritt im Stil der siebziger Jahre an. Außer seinem Papa, einst sein Trainer beim SV Lahrbach, nahm der Abwehrmann nur den Vater seines Freundes und Mannschaftskollegen Fabian Gerber zu den Vertragsgesprächen mit. Franz Gerber, 48, Sportdirektor bei Kehls früherem Club in Hannover, spielte vor 30 Jahren eine Saison mit Hoeneß bei Bayern München. Das allein scheint als Befähigung indes nicht ausgereicht zu haben, denn offenkundig fehlte Gerber das nötige Insiderwissen. So habe der Kicker, wie Dortmunds Manager Michael Meier glaubt, bei den Verhandlungen mit dem FC Bayern vom Münchner Bemühen um den Leverkusener Profi Michael Ballack, einen potenziellen Stammplatz-Konkurrenten, nichts geahnt. Für Branchenkenner war Ballacks Flirt mit dem Rekordmeister jedoch schon im Frühjahr kein Geheimnis mehr. Zu Weihnachten ließ der Mann aus Görlitz Vollzug melden: Von Juli an spielt er für die Münchner. Vollends irritiert soll die Kehl-Partei Anfang Oktober gewesen sein, als sie in der Zeitung einen Überweisungsbeleg abgedruckt sah - demnach hatte der Berliner Sebastian Deisler einen als Darlehen getarnten Vorschuss über 20 Millionen Mark für seinen bevorstehenden Wechsel nach München kassiert. Auch Vater Kehl war mit einem Scheck von seinen Verhandlungen mit den Bayern zurückgekehrt - doch bei ihm war nur ein Betrag von 1,5 Millionen Mark eingetragen. Ende November überwiesen die Kehls das Geld nebst 19 000 Mark Zinsen zurück. Sie hätten für den Poker besser präpariert sein können. Während sich Deislers Agent Jörg Neubauer und Ballack-Manager Michael Becker Ende April erstmals trafen, um vor den Runden mit Hoeneß die zu fordernden Summen abzusprechen, hatten sich die Kehls jeder externen Beratung versagt. Ein von Becker angebotenes Gespräch ließ der Vater nie zu Stande kommen. Ein anderer Spielerberater, der seine Dienste anbot, blitzte ebenfalls ab. Vermutlich wusste der Jungprofi alles besser. Kollegen nennen Sebastian Kehl altklug. Nach einer allenfalls mittelprächtigen Leistung bei seinem Länderspieldebüt im Mai gegen die Slowakei bat er die staunenden Reporter, ihn jetzt »nicht so hoch zu schreiben« - als ob er dazu einen Anlass geboten hätte. Inzwischen wurde sein Charakter Gegenstand öffentlicher Debatten. Verhandlungspartner Rummenigge will sich »nicht vergackeiern lassen« und kann »nicht verstehen, warum man nicht mal zum Telefonhörer greift, bevor man einfach eine Presseerklärung herausgibt«. Der FC Bayern, »sehr enttäuscht von Vater Kehl und dem Berater«, werde noch zeigen, dass »wir nicht alles mit uns aufführen lassen«. Hoeneß, der Kehls Sinneswandel als Niederlage seiner Scheckbuch-Personalpolitik werten musste, verlor mal wieder - etwas pharisäisch - den »Glauben an die Menschheit« und beschimpfte den vermeintlich Wortbrüchigen als »Schnösel«. Für Vater Kehl sind das »alles Absurditäten«. Als bekennender Anhänger seines Sebastian scheint er allerdings manchmal selbst nicht die Richtung zu kennen. Im Frühjahr, noch während der Verhandlungen mit dem FC Bayern, gründete Dieter Kehl den Verein »Rhönpower« - einen Fanclub des SC Freiburg. Fotoshooting im Schlosspark Sacrow bei Potsdam: Ein Model mit blonder Mähne in edler Pelzrobe vor der Linse einer »Vogue«-Fotografin. Zu Füßen der Frau räkelt sich ein junger Mann mit nacktem Oberkörper. Das Model heißt Liselotte Schilf, Jahrgang 1916, der Mann am Boden ist von Beruf Altenpfleger. Die beiden posierten für ein außergewöhnliches Projekt: Patienten der Berliner Pflegestation »Jahnke« lassen sich von Vivienne Westwoods Meisterklasse einkleiden. Herausgekommen ist ein fotografisch edel gestalteter Kalender mit Lebensresümees der Abgebildeten, wie etwa der Einsicht der über 80-jährigen Hanna Braun: »Zum Heiraten gehören zwei - mir war das immer zu wenig.« Die Idee, bei Westwood anzufragen, kam Werner Jahnke, seit 20 Jahren Leiter der Station, beim Blättern in einem Modemagazin. Ihm fiel auf, »dass bei Westwood auch mal ein älteres Model dazwischen ist«. Westwood und ihre Meisterklasse sagten zu und schneiderten den Patienten Designerroben. So modern und mutig die Models von der Station sich geben, auch für sie gibt''s Grenzen. »Oben ohne«, sagt eine der Damen, würden sie sich nicht ablichten lassen. SPIEGEL: Gerade ist die Doppel-CD »Echoes - The Best of Pink Floyd« erschienen. Das letzte Studioalbum mit neuen Songs wurde vor sieben Jahren produziert. Wie gefällt Ihnen der Vorruhestand? Mason: Danke, gut. Ich habe gemeinsam mit einem Freund Soundtracks für Filme und Werbemusik aufgenommen. Manchmal helfe ich auch Kollegen bei der Produktion. Aber ich halte mich in letzter Zeit zurück. Ich will nicht mehr bis spät in die Nacht und an Wochenenden arbeiten. Denn ich habe noch einen anderen, recht anstrengenden Job: Taxifahrer. SPIEGEL: Wirklich? Mason: Ich habe einen zehn- und einen elfjährigen Sohn aus meiner zweiten Ehe. Permanent bin ich damit beschäftigt, die Jungs zur Schule oder zum Fußballspiel zu fahren und sie dort wieder abzuholen. Weitere Nebenjobs sind übrigens Bankautomatenbenutzer und Koch. SPIEGEL: Wie gefällt Ihren Kindern die Musik von Pink Floyd? Mason: Meine älteste Tochter aus meiner ersten Ehe mag sie. Das ist mir wichtig. Weil sie etwas von Musik versteht, sie hat eine Zeit lang bei einem Musik-TV-Sender gearbeitet. Die Jungs aber haben mich neulich gefragt: »Warst du eigentlich mal berühmt?« Bei den letzten Pink-Floyd-Tourneen waren sie zwar dabei, von der Musik haben sie jedoch kaum etwas mitgekriegt. SPIEGEL: Warum nicht? Ein Dienstag im Oktober, halb drei Uhr nachmittags. Leif, 15 Jahre alt, erwacht aus tiefem Schlaf. Sie haben ihn mit Lederriemen ans Bett gefesselt. Die Neonröhren über seinem Kopf tanzen, der ausgepumpte Magen schmerzt, in seinen Armbeugen stecken Kanülen, Herzfrequenzmesser kleben auf seiner Brust. Mit dünner Stimme krächzt Leif: »Rambooo!« Dann dämmert er weg. Leif aus Burbach im Siegerland, 15 000 Einwohner, liegt auf der Intensivstation im Kinderkrankenhaus Siegen. Abteilung Frühgeburten. Ein anderes Bett war nicht frei. Das harte Leben von Burbach. In Leifs Zimmer im Haus seiner Eltern hängt Tupac, schwarzer Gangsta-Rapper aus einem Ghetto von L. A., 13mal als Poster. Tupac Shakur, ein übler Bursche, Drogen, Knast, Ruhm. Erschossen nach dem Boxkampf Tyson gegen Seldon in seiner schwarzen BMW-Limousine auf dem »Strip« in Las Vegas. »A Thug's Life«, Ganovenleben, ist Leifs Lieblingsalbum. In Wahrheit, sagt Leif, als er wieder raus ist aus dem Krankenhaus, geht natürlich nichts in Burbach. Abhängen vor den renovierten Häuschen in der Altstadt, schiefergedeckt bis unter die Fenster. Keine Disco, der Jugendtreff geschlossen seit drei Jahren, no action. Muss man selbst für sorgen. Burbach, Fachwerk-Ghetto, sagt Leif. Es war an einem Montag im Oktober, Herbstferien. Carsten, 16 Jahre alt und Leifs Kumpel aus der Burbacher Hauptschule, hatte einen Typen getroffen, rote Augen, große Pupillen. Der war schon älter, 18 Jahre, habe gefaselt von Nachtschattengewächsen, einem Strauch in der Altstadt. Kauen, lutschen oder kochen - man fühle sich ganz groß. Leifs Kumpel rupfte den Strauch leer. Aus 20 Blütenkelchen, rosa und weiß, süßlich riechend, geschwungen wie Füllhörner, kochte er reichlich Tee und goss das braune Gebräu in eine Cola-Flasche, 1,5 Liter. Sie saßen vor dem Bürgerhaus, wo die Damenmannschaft vom Sportverein Dehnübungen machte. Carsten nippte als Erster. Er musste sich die Nase zuhalten, es stank nach süßen Bohnen und Pellkartoffeln. Leif war dran, nahm zwei lange Schlucke. Die anderen sagten: Ist korrekt unter Ghetto-Jungs, ist nichts Schlimmes, ein bisschen wie Joint und »Red Bull«. Da kommste besser drauf, kriegste super Hallus. Dann erkannte Leif nicht mehr die Straße, er sah nur noch den Fliesenboden im Haus seiner Eltern. Ihm war, als ob er schwebe, dem Absturz ganz nah. Ihm war, als düse ein Vorschlaghammer in sein Gesicht. Er hatte Füße wie ein alter Mann, 100 Kilo schwer. Es gibt schönere Halluzinationen. Leif lallte, seine Freundin Tina, 17, fand ihn vor dem »Tropical«, ihrer Stammkneipe. Sie telefonierte mit Leifs Eltern. Die feierten den Geburtstag von Leifs Schwester. Ein paar Minuten später waren sie da. Leifs Mutter ohrfeigte einen der Jungen, wollte wissen, was los war. Der Vater sagte: Keiner verlässt den Ort. Hilflose Eltern, die nach der Wahrheit suchen. Leif wurde ohnmächtig. Um ihn herum standen die Burbacher. Ei, ist der Bub besoffen? Keiner half - das harte Leben von Burbach. Ein Polizist habe Carsten an eine Hauswand gedrückt. Wer war noch dabei? Carsten sagte, der Daniel ist schon nach Hause. Sie holten Daniel aus seinem Bett, er wäre nicht mehr aufgewacht. Tina rief den Krankenwagen, der Notarzt blickte ernst. Engelstrompeten, die Bio-Droge, unberechenbar in der Dosierung, manchmal reichen dem Tod nur ein paar Blüten. Im Krankenwagen bleibt Leifs Herz stehen. Es war drei Uhr in der Nacht, als Leifs Schwester seiner Freundin Tina eine SMS schickte: Er hängt noch an den Apparaten. Aber er wird durchkommen. Carsten auch. Acht Wochen später dürfen sich Leif und Carsten, die harten Jungs von Burbach, das erste Mal wieder sehen. Kapuzenpullis, weite Hosen, offene Schuhe. Die Eltern lassen sie nicht aus den Augen, es gibt Bienenstich und Cola, richtige Cola. Betretenes Schweigen. Wie ist High-sein? Lachflashs, sagt Carsten. Erfahrung sammeln, erwachsen werden, sagt Leif und erzählt von seiner Wiederbelebung: »Baam«, macht er und schlägt sich mit beiden Fäusten auf die Brust, zuckt wie unter Strom. Carsten sagt, dass er im Delirium die Kotzschale aus dem Krankenhaus auf seinen Kopf gesetzt hätte, weil er dachte, es sei seine Baseballkappe. Manchmal habe er noch so Pausen im Kopf, und Asthma-Anfälle in der Nacht. War 'ne Scheißaktion, sagen beide. Voll krass. Später dürfen Leif und Carsten ins »Tropical«, trinken Cola-Bier und wünschen sich Tupacs Lieder. Es ist dunkel, als sie am Haus mit den Sträuchern vorbeikommen. Im Fachwerk geht ein Fenster auf, eine Frau schaut heraus. Wo denn die Engelstrompeten seien, fragt Carsten und schiebt seine Kappe tiefer ins Gesicht. Die Reste überwintern in der Garage, sagt die Frau. Sie hätten doch bestimmt gehört, das Unglück im Oktober. Vielleicht geschieht es ja doch noch. Vielleicht taucht eines Tages am Himmel über Kassel ein Luftschiff auf, das sich von Berlin her nähert. Die Menschen auf den Straßen gucken nach oben, und plötzlich ruft der Mann, der die besten Augen hat: Das Pferd kommt. Bald darauf sehen auch die anderen, dass ein riesiges Pferd an dem Luftschiff hängt, 13 Meter hoch, 13 Meter lang und 4 Meter breit, ein Pferd aus Holz. Nun bricht große Freude aus unter den Kasselanern. In Scharen eilen sie zu ihrem größten Platz, um das hölzerne Pferd willkommen zu heißen. Das Luftschiff schwebt heran, das Pferd wird heruntergelassen, und schon beginnt die größte und beste Party, die Kassel je erlebt hat. »Die Massen jubeln«, sagt Dimitri Hegemann, 46, der die Geschichte vom hölzernen Pferd schon oft erzählt hat, und wie jedes Mal wanderte sein Blick bald nach halb oben, ins Nichts. Träumerisch sah er wieder aus, als würde er das Pferd wirklich heranschweben sehen, die Freude in den Gesichtern der Kasselaner, die Party, den Jubel. Und wieder hat er so lebhaft erzählt, als wäre das hölzerne Pferd nicht eine Erfindung von ihm, eine Traumgestalt, sondern als gäbe es dieses Pferd wirklich, und Hegemanns Bericht wäre ein Bericht aus der wahren Welt. Er nimmt einen Schluck Brooklyn Lager, das Bier, für das angeblich einst Al Capone schießen ließ, und sagt: »Das Pferd würde die Stimmung im Land deutlich verbessern, es wäre Berlins Beitrag für eine fröhlichere Bundesrepublik.« In New York hat ihm mal jemand die Geschichte des Brooklyn Lager erzählt und den Namen Al Capone erwähnt. Da hat es Hegemann gleich importiert. Weil er Geschichten mag. Weil er sich seine Träume immer erfüllen will. Nun wird Brooklyn Lager in Hegemanns Berliner Läden verkauft, im Restaurant »Schwarzenraben«, in der Kneipe »Markthalle«, im Techno-Club »Tresor«, in der Musikbar »Trompete«. Es gibt kaum einen vergnügungswilligen Berliner und so gut wie keinen Hauptstadt-Touristen, der nicht schon einmal bei Hegemann getrunken, gegessen oder getanzt hat. Er hat schon viel gemacht. Es ist nicht unmöglich, dass eines Tages am Himmel über Kassel ein hölzernes Pferd auftaucht, um der Provinz etwas vom Berliner »Spirit« zu bringen. Es gibt Baupläne, ein Modell, Kostenrechnungen, einen Briefwechsel mit der Berliner Kulturverwaltung. Spirit ist eins von zwei Lieblingswörtern Hegemanns. Das andere heißt Vision. Im Moment gibt es ein Problem mit dem Spirit in Berlin. Die Stadt amüsiert sich nicht so prächtig, wie sie eigentlich müsste, findet Hegemann. Das liege nicht am 11. September. Das liege vielmehr an einer hausgemachten Krise. Symptome finden sich viele. Der Club »Maria am Ostbahnhof« muss dichtmachen. Das »WMF« musste viermal umziehen. Der »Tresor« ist von der Schließung bedroht. Zur Love Parade kamen in diesem Sommer 500 000 Besucher weniger als im Jahr zuvor. Die Amüsierviertel Prenzlauer Berg und Mitte, die Berlin in den Jahren nach der Wende neuen Glanz gaben, wirken vor allem an Wochenenden wie Rummelplätze für schwäbische Touristen, ambitionierte Läden wie die »Riva Bar« oder das »Greenwich« verwandeln sich dann in Bierbuden. Die so genannte Szene flieht nach Friedrichshain oder zurück nach Kreuzberg. Zudem ist nicht mehr zu leugnen, dass Berlin die Woche über ziemlich müde wirkt, eher wie eine Stadt der Arbeit als wie eine Stadt des Amüsements. Nach Mitternacht ist kaum noch was los. Berlins schönste Bar, das »Reingold«, ist wochentags auch zu früheren Stunden gähnend leer. »Berlin braucht eine neue Vision«, sagt Dimitri Hegemann und liefert sie selbst. Niemand in der Hauptstadt hat so viele Ideen für neue Vergnügungen wie er. Niemand kann so herrlich träumen und so lebendig davon erzählen. Und niemand scheitert so oft und so rührend. Denn der Träumer Dimitri Hegemann und seine Traumstadt Berlin finden so recht nicht zueinander. Im »Schwarzenraben«, seinem Restaurant in Mitte, wirkt er wie der Gast, der eigentlich nicht reinkommen dürfte. Er ist ja nicht schlank und hat nicht viele Haare, und die Jeans fällt etwas beulig, genauso der Pullover, und irgendwie ist ihm auch noch die ostwestfälische Herkunft ins Gesicht geschrieben. So sieht man im »Schwarzenraben« eigentlich nicht aus. Es kommen eher die jungen Unternehmer mit ihren flotten Frauen und die aufgerüschten Touristinnen, die ihre Männer hier dazu zwingen, einmal nicht Bier zu trinken, sondern Wein. Dann trinken sie teuren Wein und essen teure Lammkoteletts mit Bananeneis, aber nicht nacheinander, sondern miteinander, das Bananeneis als Tunke für die Koteletts. Wenn man Glück hat, ist der Schauspieler Ben Becker da oder der Schriftsteller Maxim Biller, der, lacht mal hysterisch eine Frau, gleich grummelnd sagt: »So lacht man nur in Mitte.« Womit er Recht hat. Mittendrin sitzt Dimitri Hegemann, trinkt als Einziger ein rotblondes Brooklyn Lager und erzählt von seiner Vision »Berlin als Nachtstadt«. Von dem halben Dutzend Projekten, die er im Kopf hat, ist ihm neben dem Pferd der Hauptstadt-Club das wichtigste. Nach einem Vorschlag des Modemachers Wolfgang Joop soll er »Rich« heißen, »reich«. So wie Hegemann erzählt, hat man gleich das Theater des Westens vor sich, befreit von den mäßigen Musicals, sparsam und stilvoll eingerichtet, so wie es Hegemann mit seinen Läden immer macht, etwa 3000 Leute im Alter zwischen 35 und 60 essen und trinken hervorragend, dazu »easy Tanz, und auch Frau Merkel hat Spaß«. Irgendwo sitzt beiläufig David Bowie rum, und George Michael kommt mal lässig auf die Bühne gesteppt und singt 'ne Nummer. Hegemanns Blick ist wieder halb oben, im Nichts, und dann sagt er: »Alle sind vollkommen aus dem Häuschen, 3000 Leute drehen durch.« Seine Geschichten enden immer so: Die Massen jubeln. Vielleicht hat er das vermisst, als er Bassist bei Leningrad Sandwich war, einer Berliner New-Wave-Band, die Anfang der achtziger Jahre gern neben Imbissbuden auftrat und dabei pro Konzert sechs bis acht Zuschauer hatte. Vielleicht ist für ihn aber auch Jubel der höchste Ausdruck des Glücks, und er möchte Menschen glücklich machen. Beides ist denkbar bei Hegemann. Mit dem erträumten »Rich« könnte er viele Berliner glücklich machen. Wer zwischen 35 und 60 ist und tanzen will, hat es schwer in dieser Stadt. Zwischen dem Stahlgewitter für die Jugend im »Tresor« und dem »Ball der einsamen Herzen« für die Rentner hat die Stadt wenig zu bieten. Aber Berlin mag das Theater des Westens nicht hergeben. Dabei will Hegemann, sagt er, selbst kein Geld damit verdienen. Ihm reiche es, Ideenlieferant zu sein. Er schreibt Briefe und bekommt Absagen von der Stadtverwaltung. »Die sind stulle wie Brot«, sagt Hegemann. Gemeint ist: ziemlich dumm. Berlins Stärke, sagt er, sei das Nachtleben, sei die Anziehungskraft für kreative Leute, die gut arbeiten, aber auch gut feiern wollen. Diese Stärke sieht er bedroht. Vor allem der ewige Streit um die Love Parade zeige, wie wenig willkommen die Sub- und Feierkultur bei der Stadtverwaltung sei. Berlin habe jedoch genau von dieser Kultur stark profitiert. Paris ist schöner, in London kann man mehr Geld machen, aber Europas aufregendste Nächte gab es bislang in Berlin. Wegen der niedrigen Mieten konnten die Leute auch »verrutschte Ideen« umsetzen. Nun sind die Mieten stark gestiegen, vor allem in Mitte. Hegemann selbst leidet darunter. Er musste bald feststellen, dass der »Schwarzenraben« zwar gut besucht ist, dass die Kunden willig hohe Preise zahlen, dass er aber nur Verluste macht. »In Mitte verdient außer den Immo-bilienmaklern niemand Geld«, sagt er, wegen der hohen Mieten. Dazu komme die »Kleingeistigkeit und Provinzialität, die Sturheit der Verwaltung«. Im Sommer hatte er eine Menge Ärger, weil die Leute nachts draußen saßen und lauter waren, als die Lärmschutzverordnung erlaubt. »Warum dürfen wir noch nicht einmal lachen?«, fragt Hegemann. Im selben Moment steht Ben Becker auf, der am Nachbartisch gesessen hat. Er geht viel früher als üblich, wofür er Hegemann eine Erklärung zu schulden glaubt. Er kommt kurz vorbei und sagt, dass er noch einen Text lernen müsse. In der Lokalpresse hat er angekündigt, dass er von Mitte nach Kreuzberg ziehen wolle. Zu viel Schickimicki. Nach Mitternacht schaut ein Kollege von Hegemann herein, der Wirt vom »Zucca«, einer großen Bar unterhalb der S-Bahn-Bögen gleich um die Ecke. Hegemann sagt noch einmal, dass er kein Geld verdiene, dass niemand in Mitte Geld verdiene, worauf der Kollege trocken bemerkt: »Wir verdienen Geld, ganz gut sogar.« Hegemann nimmt einen Schluck Al-Capone-Bier. Auch das ist übrigens kein Geschäft für ihn. Er dachte, dass die Raver im »Tresor« Brooklyn Lager cool finden würden, wegen Al Capone und New York. Aber Hegemann musste lernen, dass die jungen Berliner nicht so auf Geschichten stehen wie er selbst. Sie trinken bei ihm weiterhin Beck's, weil die Flasche fünf Mark kostet und Brooklyn Lager sechs Mark, »wegen shipment und so«. Macht aber nichts, dann trinkt es Hegemann eben selbst. Er kann ganz gut mit Niederlagen leben. Das liegt an seinem Gemüt, das sich Aufregung eher selten gestattet, das liegt aber auch an dem Geld, das er mit dem »Tresor« verdient. Denn einmal hatte der Träumer Dimitri Hegemann den richtigen Traum. Das war der Traum von einer neuen Musik für das neue Berlin und einem Tanzraum dafür. Als er 1989 in Chicago war, hörte er dort eine Band aus Detroit, Final Cut. Ziemlich harte, metallische Beats waren das. »In Detroit«, sagt Hegemann, »wollte das keiner hören, in Berlin hatten alle drauf gewartet.« Es fehlte nur der Raum, in dem zu dieser Musik getanzt werden konnte. Hegemanns erster Club, das »Ufo«, war von der Polizei geschlossen worden. Aber die Mauer war nun offen, und als Hegemann durch die neue Mitte streifte, fand er an der Leipziger Straße ein leer stehendes Gebäude, das einst ein Kaufhaus war. Am 15. März 1991 eröffnete er dort den Club »Tresor«, die Wiege des Techno in Deutschland. »Das war ein Hype, ein richtiger Thrill«, sagt Hegemann, »es krachte sofort los. Der 'Tresor' war keine West-Disco, keine Ost-Disco, wir verständigten uns über Musik.« Die Massen jubelten. Das tun sie immer noch. Zehn Jahre sind ein langes Leben für einen Club. Hegemanns nächster Traum war der »Tresor Tower«, ein Haus über dem Club, 100 Meter hoch, in dem »die jungen Haircutter, die jungen Designer, die jungen Suppenköche« ihre Läden haben sollten. Er ließ Pläne zeichnen. Er hatte schon die »Schülergruppen aus Reutlingen« vor Augen, die »sich begeistert zurufen, wir sind alle im 'Tresor Tower' zum Einkaufen«. Aber die erlaubte Traufhöhe in Berlin liegt bei 22 Metern, und niemand in der Stadtverwaltung will Hegemanns Satz folgen, dass »eine große Stadt große Häuser braucht«. Und niemand will die Subventionen zahlen, die nötig wären, um den jungen Suppenköchen günstige Mieten anbieten zu können. Stattdessen ging das Grundstück an einen der üblichen Investoren, der eines der üblichen Büro- und Geschäftshäuser bauen wird. Wenn die Bagger kommen, wird Hegemann den »Tresor« schließen müssen. Damit verliert die Stadt den Ort, der sie als Erstes weltweit cool gemacht hat. Wieder eine Niederlage Hegemanns im Kampf gegen die Provinzialität Berlins. Er führt ihn so ideenreich und vehement, als hätte er ständig Angst, die Hauptstadt könne eines Tages so verschlafen sein wie Büderich in Ostwestfalen, wo er herkommt. Er erinnert sich an »viele Wiesen«, ein streng katholisches Gymnasium und die Kneipe »Goldener Hahn«, »wo alle nach der Schule hinrannten«. Sein Leben spielte sich »in einem Radius von 18 Kilometern ab, man stieß immerzu an Grenzen«. Nur die Träume und die Musik holten ihn da stundenweise raus, »Jimi Hendrix und so, ich bin ja Althippie«. Wegen der Musik ging er 1978 nach Berlin, studierte Musikwissenschaft und zog »blinded by the light durch die Nacht«. In den »Dschungel«, den damals coolsten Club, kam er allerdings meist nicht rein. Berlin, seine Traumstadt, war nicht grenzenlos. Ringsum sah Hegemann Leute, die »nur abhingen und sich was reinknallten. Wir waren einfach nicht glücklich«. Er zog in eine ehemalige Schusterwerkstatt in der Kreuzberger Wrangelstraße, zimmerte ein Rednerpult und lud samstags Leute ein. Daraus wurde das legendäre »Fischbüro«, eine »Art Umerziehungslager, vom Konsumenten zum Produzenten«. Hegemann forderte seine Gäste auf, Geschichten zu erzählen, und das taten sie dann auch, der eine redete über seine Jacke, der andere las aus seinem privaten Telefonbuch, der Nächste trug Gedichte vor. Manchmal guckte man zusammen Softpornos. Es kamen immer mehr Leute. Aus dem illegalen »Fischbüro« wurde das legale »Fischlabor«, Hegemanns erste Erfahrung mit der Gastronomie. Er machte das Musikfestival »Berlin atonal«, wo Bands wie die Einstürzenden Neubauten auftraten, er machte Platten, er machte den Club »Ufo«, und er machte Schulden, weil nichts so richtig Geld einbrachte. Der »Tresor« hat ihn finanziell gerettet. Wegen Dimitri Hegemann gibt es nun auch einen »Goldenen Hahn« in Kreuzberg. Er hat den Laden 1992 in der Pücklerstraße eröffnet, in Erinnerung an die Kneipe, wo er sich die Beschwernisse der Schule weggetrunken hat. Der Kreuzberger »Goldene Hahn« hatte das Konzept, Kneipe, Laden und Poststation zu sein. In einem alten Kolonialwarenregal konnte man für zehn Mark im Jahr eine Postbox mieten. Hegemann fand die Idee toll, dass die Leute sich ihre Briefe in den »Goldenen Hahn« schicken lassen, sie vielleicht dort lesen und darüber erzählen. So sollten sich dort Geschichten sammeln. Das Konzept ging nicht auf, und Hegemann hat den »Goldenen Hahn« bald abgegeben. Die »Markthalle« gegenüber in der Pücklerstraße gehört ihm noch. Dort sitzt er jetzt, bei einem zweiten Gespräch, trinkt ein Brooklyn Lager und isst Schnitzel mit Bratkartoffeln. Dazu erzählt er Geschichten vom Schnitzel. Hegemann fällt zu so ziemlich jedem Thema eine Menge ein. Die »Markthalle« ist mit viel Holz ausgestattet, wirkt aber nicht rustikal, sondern auf eine dezente Art modern. Das ist wahrscheinlich Hegemanns größte Stärke: Das Potenzial von Räumen zu erkennen und sie geschmackvoll einzurichten. Natürlich gehört eine Geschichte dazu, diesmal die von anrüchigen Holzhändlern. Es ist voll in der »Markthalle«, Kreuzberger Publikum. Niemand hat sich schick gemacht, um hier ein Bier zu trinken. Man kommt zum Reden, nicht zum Gucken oder Feiern. Vielleicht ist das ein Grund für den neuen Trend von Mitte nach Kreuzberg: Man will weg von diesen aufgedonnerten Läden, man will weg von den Touristen in ihrer aufgekratzten Sonderlaune, man will etwas ursprünglich Urbanes, das aber nicht trutschig sein darf. Die »Markthalle« ist so ein Ort. Wenn die Leute nicht jubeln, dann sollen sie miteinander reden, meint Hegemann, und deshalb plant er neben dem Hauptstadtclub »Rich« einen »Club of Berlin«. Er hat schon einen Raum für seinen Debattierclub gefunden, wie immer einen sehr schönen, im Schatten der Elisabeth-Kirche in Mitte, von Schinkel entworfen. Hegemanns Blick wandert nach halb oben, und nun sitzen sie da in den schweren Fauteuils, »die guten, kreativen Leute«, rauchen Zigarre, trinken einen Port, und die Zeitungen rascheln. Hier und dort kommen sie zwanglos ins Gespräch miteinander, »der 80-jährige Historiker und der Jungunternehmer«, und aus diesen Gesprächen entwickelt sich ein neuer »Spirit, der Berlin wach rüttelt, ein bisschen Dekadenz, ein bisschen Club of Rome. Wir können auch mal die Politik beraten«. Die Realität sieht leider mal wieder völlig anders aus, weil der Gemeinderat der Kirche, »die 80-jährigen strickenden Omas«, gegen Hegemanns Pläne gestimmt hat. So ist es ja immer: Die Lärmverordnung, die Traufhöhe, die Omas, Berlin setzt Hegemann eine Menge Grenzen. Er hat noch eine Musikmesse im Kopf und ein Open-Air-Festival mit mindestens 100 000 jubelnden Leuten, aber von der Stadtverwaltung kommen nur Absagen, Bedenken. Für das hölzerne Pferd will ihm niemand die 237 640 Mark geben, die das Filmstudio Babelsberg für den Bau kalkuliert hat. Dabei hat er selbst schon an eine Wander- und Zeltordnung gedacht, damit sich die Menschen, die dem Pferd folgen werden, gesittet benehmen. Mit 10 000 Pilgern rechnet er, glückliche, jubelnde Menschen, die langsam hinter dem Pferd herziehen, denn »Entschleunigung ist das Thema«. Ein Luftschiff für die großen Strecken, sonst Lastwagen oder Menschen, die das Pferd ziehen. »Ganze Kolonnen setzen über den Rhein«, sagt Dimitri Hegemann, und sein Blick ist sehr weit weg. »In den Dörfern schreien die Leute vor Begeisterung.« Zwischendurch wird das Pferd »geparkt im Regierungsviertel«, damit auch die Politiker etwas abkriegen von dem Spirit. Wäre doch schön, Angela Merkel einmal vor Begeisterung schreien zu hören. Leider sagt jetzt die Kellnerin von der »Markthalle«, dass sie eine zweite Runde Brooklyn Lager nicht bringen kann, weil keins mehr da ist. »Kann nicht sein«, sagt Hegemann, er habe gestern noch eine halbe Kiste im Keller gesehen. »Die ist weg«, sagt die Kellnerin, weiß aber auch nicht wohin, denn verkauft hat sie nichts. »The horse sets over the Rhine«, sagt Hegemann versonnen, und dann schweigt er eine Weile. »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll«, sagt er schließlich, »ich komme nicht weiter.« Er sieht »so eine Art Angst in Berlin, vor Träumen und Visionen. Die Leute trauen sich einfach nicht, mal was Verrutschtes zu machen«. Von der Subkultur ins Kultur-Establishment ist es auch in Berlin ein sehr, sehr weiter Weg. So, und jetzt kommt der Höhepunkt«, sagt die frierende, blasse Frau im Parka und kramt etwas aus ihrem Pappkarton. Wie kalt der Regen im Dezember sein kann. Die Radioreporter und Kameraleute schieben sich nach vorn, auf die blasse Pyrotechnikerin zu. Sie halten sich ihre Mikrofone vom Leibe, als wären es Unkrautsprays. Der nasse Betonboden ist an manchen Stellen schwarz von Explosionen. »Achtung«, sagt Frau Dipl.-Ing. Heidrun Fink noch. Dann hält sie ein wetterfestes Spezialstreichholz an ein schwer zu erkennendes, wenn auch vage an die Landmine »Bouncing Betty« erinnerndes pinkfarbenes Plastikteil. Es zündet. Die Mikrofone weichen zurück. Es zischt, es pfeift wie unter hohem Druck, als würde es jetzt abheben - dann öffnet sich die Höllenmaschine, entfaltet acht Blätterarme mit brennenden Kerzen, und ein Chip piepst: »Happy birthday to you.« Die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung in Berlin informiert. Jedes Jahr kurz vor Silvester wird der Öffentlichkeit vorgeführt, wie feste Substanzen durch Entzündung plötzlich in den gasförmigen Zustand übergehen können. Mit der Betonung auf »plötzlich«. Heidrun Fink und ihr Kollege Lutz Kurth prüfen das ganze Jahr über die Sicherheit von den Feuerwerkskörpern, die ihre Mitbürger am letzten Tag des Jahres in die Luft jagen wollen. Die Journalisten sind in diesem Jahr zahlreicher gekommen. Aus irgendeinem Grund scheinen sie alle zu erwarten, dass sich etwas Revolutionäres in der Feuerwerkstechnik getan haben muss, in den letzten Monaten. Gewaltigere Feuerbälle, präzisere Raketenbögen, nie gesehene Bombetten. Als Heidrun Fink ihren Karton aus dem pyrotechnischen Laboratorium geschoben hat, haben sie ihre Kameras hineingehalten, als hätte Donald Rumsfeld ihn persönlich gepackt. Aber wieder nur herz- oder kreuzförmige Kartons und eine pinkfarbene Sprengblume. 87 neue Knallkörper hat die Bundesanstalt dieses Jahr zugelassen. Aber: »Mich hat auf dem Gebiet lange nichts mehr überrascht«, sagt Lutz Kurth. »Mich auch nicht«, sagt Heidrun Fink. Lutz Kurth ist ein kräftiger Mann Mitte 40 mit fröhlich nach oben gebürsteten Schnurrbartenden und einem Haarschnitt, als würde ihm ständig ein Sturm ins Gesicht blasen. Zu Ost-Zeiten musste Kurth für die Nationale Volksarmee Tarnnetze und Nebelwerfer testen. Heute testet er Tischfeuerwerk. Kurth weiß inzwischen alles darüber, wie man Sterngrößen variiert, wie durch verzögerte Kleinstexplosionen Spiralnebel entstehen und wie aus Strontium rotes, aus Titan silbernes Himmelsfeuer entsteht. Er weiß das alles. Aber wirklich begeistern kann es ihn nicht. Gegenüber Kurths Schreibtisch hängt groß abgezogen das Foto einer Explosion. Einer richtigen Explosion: »Das war eine Acetylen-Flasche«, sagt er. Ein perfekter Feuerball. »Früher war ich mehr im Acetylen- Bereich«, sagt Kurth, und fügt hinzu, dass er eher zufällig in die Pyrotechnik geraten sei. In der Morgenzeitung haben sie heute von Kandahar geschrieben, Afghanistan. Dort sind Freudenraketen von der US-Luftwaffe für eine »Ground-to-Air Missile Attack« gehalten worden. Kollateralschäden. Deutschland ist kein Land, in dem Silvesterböller mit »Stinger«-Raketen verwechselt werden können. Für alles, was selbstgetrieben höher als 100 Meter fliegt, ist eine Flugerlaubnis vorgeschrieben. In hiesigen Feuerwerkskörpern Klasse II liegen nie mehr als sechs Gramm Schwarzpulver. Anders dagegen die Schweiz, sagt Kurth: »Die Schweizer haben höhere Satzmassen als wir. Ganz überraschende Mengen. Da werden Knaller zusammengebunden und verwendet, um Banken aufzusprengen. Die haben da ein ziemliches Problem.« Auch über Spanien und Italien kann sich Kurth als Pyrotechniker nur wundern: »In der Lautstärke gibt es da keinerlei Beschränkung. Die erreichen leicht 160 Dezibel. Das sind dort im Süden ganz andere Mentalitäten.« Draußen, im Dezemberniesel, steigt noch ein »Passo Doblo«-Sternregen auf, bis zur vorschriftsmäßigen Flughöhe, und verzischt im Grau. Die Journalisten spotten: »Ooohhh!« Das neue Jahrtausend, sagt Kurth, habe generell schon nicht gut angefangen für die deutsche Knallkörperindustrie: »Die haben sich alle auf die Millenniumsfeiern verlassen, zu viel produziert und sind dann sehr hart gelandet. Früher war die Bundeswehr ein sicherer Kunde. Aber die hat auch keine Mittel mehr.« Es gibt einfach zu viele neue Einsätze. Alexander Smoltczyk --------------------------- Das Kreuz mit den Priestern Jahrzehntelang wiederholte sich regelmäßig die Szene. Der deutsche Kardinal Joseph Ratzinger überreichte seinem Chef eine Liste mit Bittgesuchen von Klerikern aus aller Welt, Johannes Paul II. möge sie von den Pflichten ihres Priesteramtes entbinden und in den Laienstand zurückversetzen. Jedes Mal nahm der Papst die Liste entgegen, legte sie schweigend auf eine Ecke seines Schreibtischs und verdrückte ein paar Tränen. Die Antragsteller warteten vergebens auf das Plazet ihres Oberhauptes, Tausende retirierten ohne kirchlichen Segen ins Eheleben. Derzeit hat der Heilige Vater ganz andere Sorgen mit seiner Priesterschaft, die weltweit immerhin mehr als 400 000 Köpfe zählt: Eine Skandalwelle erschüttert das geistliche Imperium. In den USA werden in den ersten sechs Monaten dieses Jahres mehr als 250 der 46 000 US-Kleriker wegen Kindesmissbrauchs von ihren Ämtern suspendiert, nachdem Zeitungsberichte über die Erzdiözese Boston Anfang 2002 die amerikanische Öffentlichkeit aufgeschreckt hatten. Der amerikanische Skandal löst weltweit ein verheerendes Echo aus. Von Australien bis Polen, der Heimat Johannes Pauls II., berichten die Medien über zahlreiche sexuelle Übergriffe geistlicher Kader, überall melden sich Opfer, die bis dahin aus Scham oder Furcht vor der Macht der Kirche geschwiegen hatten. Allein in den USA haben die katholischen Oberhirten in den vergangenen Jahren nach seriösen Schätzungen rund eine Milliarde Dollar Schweigegeld gezahlt, um die Schande zu vertuschen. Ein bisher sorgsam gehütetes Tabu ist gebrochen. Ebenso wie der Ärztestand galt der Klerus der großen Kirchen in den vergangenen hundert Jahren als moralisch integer, über jede Kritik erhaben. Den Halbgöttern in Weiß standen die Sendboten Christi in Schwarz an Status und Ehrpusseligkeit im öffentlichen Bewusstsein in nichts nach. Doch die klerikale Glaubwürdigkeit ist wie die ärztliche längst dahin. Das amerikanische Ärgernis veranlasst den Papst, die US-Kardinäle Mitte April nach Rom zu zitieren. Johannes Paul II. macht seinen Confratres demonstrativ vor aller Welt unmissverständlich klar, er werde den auf Abwege geratenen Geistlichen keinen Pardon geben. Die Menschen, so der Papst, sollten wissen, »dass es in der Priesterschaft ... keinen Platz gibt für solche, die jungen Menschen Schaden zufügen«. Die geschockten Kirchenfürsten zeigen - allzu späte - Einsicht. Die US-Bischofskonferenz verkündet nun »Null Toleranz« gegenüber ihren gefallenen Priestern. Der ranghöchste amerikanische Katholik, dessen Erzdiözese den Skandal ausgelöst hatte, allerdings bleibt trotz zahlreicher Rücktrittsforderungen aus den eigenen Reihen im Amt: Kardinal Bernard Law aus Boston, der jahrelang immer wieder Kleriker seines Sprengels gedeckt und lediglich in andere ahnungslose Gemeinden versetzt, sie sogar an andere Diözesen weiterempfohlen hatte, weigert sich zurückzutreten. Rom schweigt, zumindest vorerst. Die Deutschen glauben zunächst, sie kämen ungeschoren davon. Auf ihrer Frühjahrskonferenz im März widmeten die heimischen Bischöfe dem Thema lediglich eine gute Stunde und beschlossen dann, eine Kommission solle sich erst einmal darum kümmern. Dann sähe man weiter. Noch Ende Juni verkündet der Konferenzvorsitzende, der Mainzer Kardinal Karl Lehmann, im SPIEGEL: »Wir haben in Deutschland keine Skandalwelle wie in den USA«, und: »Warum soll ich mir den Schuh der Amerikaner anziehen, wenn er mir nicht passt.« Doch der geistliche Hochmut kommt schnell zu Fall: Drei Wochen später enthüllt der SPIEGEL ausgerechnet in Lehmanns Bistum Mainz einen spektakulären Missbrauchsfall. Seither melden die Medien fast wöchentlich Bekenntnisse weiterer Opfer. Lehmann räumt kleinlaut ein: Es sei »an der Zeit, noch energischer und effektiver« gegen den Kindesmissbrauch kirchlicher Mitarbeiter »vorzugehen«. Noch energischer? Bislang reagierten die deutschen Oberhirten wie in den USA und anderswo stets nach dem Tabu-Motto: vertuschen, versetzen, verschweigen. Das Problem ist alt, Pädophile hat es unter Klerikern stets ebenso wie in anderen Berufsgruppen gegeben, die allermeisten Missbrauchsfälle passieren in der engsten Umgebung der Kinder. Von den 17 000 katholischen Priestern in Deutschland haben nach Schätzung des Essener Weihbischofs Franz Grave 200 bis 300 eine pädophile Veranlagung. Zahlen aus früherer Zeit gibt es nicht, da sich niemand um das heikle Thema gekümmert hat. Dass der klerikale Kindesmissbrauch erst jetzt an den Pranger kommt, zeigt, dass sich auch die ideologisch lange streng abgeschottete katholische Kirche nicht länger der Transparenz der Medien-Gesellschaft und dem erstarkten Selbstbewusstsein ihrer Gläubigen entziehen kann. Die Zeiten, da die frommen Schafe aus Gottesfurcht vor ihren heiligen Hirten den Mund nicht aufmachten, scheinen endgültig vorbei. Dahinter scheint jedoch ein grundsätzliches Phänomen auf: Beim Pädophilenskandal holt die Kirche ihr seit den Zeiten des Apostels Paulus und des Kirchenlehrers Augustinus unbewältigtes Verhältnis zur Sexualität ein. Bis heute dominiert in der katholischen Kirche eine Morallehre, die Sexualität vor allem als teuflische Versuchung ansieht, den Menschen vom rechten Gottesweg abzubringen. Sexualität wird als Mittel zur Fortpflanzung toleriert, aber nicht als Chance zur Selbstverwirklichung. Kein Wunder, dass die Generation der Priester, die heute im Amt ist, im Umgang mit der eigenen Sexualität völlig unerfahren ist. Während ihrer Ausbildung im Priesterseminar blieb Sexualität in den allermeisten Fällen außen vor, es gab weder simple Aufklärung, geschweige denn psychologische Beratung. Sexuelle Veranlagen wie Pädophilie oder Homosexualität waren (und sind vielerorts) in den Seminaren kein Thema. Viele Kleriker stellen erst irgendwann in ihrem Beruf fest, dass sie mit der verordneten sexuellen Abstinenz überfordert sind - erst recht, wenn sie pädophile Neigungen in sich entdecken. »Ich will nicht leugnen«, räumt Domkapitular Werner Holst, Personalchef des Bistums Hildesheim, ein, »dass ein zölibatär lebender Geistlicher, der mit seiner Sexualität nicht zurechtkommt, gefährdet ist.« Kein Wunder vor allem, dass der priesterliche Zölibat auf Homosexuelle eine besondere Anziehungskraft ausübt - hier können sie ihre Neigung nicht nur vor der Gesellschaft verbergen, sondern sie auch »positiv« ummünzen. Nach innerkirchlichen Schätzungen sind bis zu 30 Prozent der Kleriker homosexuell veranlagt. Genaue Zahlen gibt es auch hierüber (natürlich) nicht. Erst allmählich wächst bei den kirchlichen Ausbildern die Erkenntnis, dass die Priesterausbildung radikal geändert werden muss. Die Abschaffung des Pflichtzölibats würde das Kreuz der Kirche mit ihren pädophilen Priestern nicht beseitigen, es vermutlich aber leichter machen. Auch Verheiratete sind, wie die Erfahrung zeigt, vor Kindesmissbrauch nicht gefeit. Aber es gäbe eine soziale Kontrolle, die den Priestern bislang fehlt. Beim Gipfel im Vatikan versucht der Papst die US-Kardinäle mit einem Bibelwort zu trösten: »Wo die Sünde mächtig wurde«, zitierte er den Apostel Paulus, »da ist die Gnade übergroß geworden.« Brandstiftung gilt als Hauptursache der verheerenden Buschbrände, die bis vorigen Donnerstag die Vier-Millionen-Stadt Sydney isoliert und rund 150 Wohnhäuser zerstört haben. Lediglich einer der etwa hundert Brände, die vor allem in den etwa 60 Kilometer vom Zentrum entfernten, noch mit Urwäldern bestandenen Blue Mountains und in Sydneys südlichen und westlichen Außenbezirken wüteten, wurde von Experten auf eine natürliche Ursache zurückgeführt: Blitzschlag. Ursprung vieler anderer waren offenbar Pyromanen, deren Zündelei bei heftigen Winden und Temperaturen um 35 Grad zu kilometerweitem Funkenflug führte und eine insgesamt 700 Kilometer lange Feuerfront eröffnete. Dem australischen Bundesforschungsinstitut Csiro zufolge begünstigt leicht entzündbare Rinde von Eukalyptusbäumen den Funkenflug; die Glut, die sich über Dutzende Kilometer aussäen kann, erzeugt so genannte Spot Fires. Die Forscher haben dieses Verhalten seit 1997 im Windkanal simuliert, nachdem bei der letzten großen Brandkatastrophe im Januar 1994 Funken den Fluss Woronora übersprungen und allein in Sydneys Vororten Jannali und Como 87 Wohnhäuser zerstört hatten. Insgesamt waren 185 Anwesen zerstört worden und vier Menschen ums Leben gekommen, Versicherungsschäden in Höhe von 56 Millionen australischen Dollar entstanden. Auch damals vermutete man hauptsächlich Brandstifter am Werk. Diesmal wurden bis Donnerstag etwa 4000 Menschen evakuiert und Schäden von über 50 Millionen australischen Dollar gemeldet. Während Phil Koperberg, Chef von 5000 Einsatzkräften, beim Anblick der bis zu 50 Meter hohen Feuerwalzen entsetzt sagte, er habe »so etwas noch nie gesehen«, reagierten die Bewohner der Kernbezirke gewohnt lässig, obwohl schon Rauchwolken über die Sydney-Oper in der Innenstadt zogen: »Es ist halt Buschfeuer-Saison.« SPIEGEL: Präsident Jassir Arafat hat dem Terror der islamistischen Extremisten von Hamas und Islamischem Dschihad den Krieg erklärt. Israel und auch Washington ziehen jedoch die Ernsthaftigkeit dieser Ankündigung in Zweifel. Radschub: Diese Kampfansage ist absolut ernst zu nehmen. Wir, der Palästinensische Legislativrat, dessen Mitglieder in freien, von dem ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter beaufsichtigten Wahlen bestimmt wurden, dulden nicht, dass sich irgendwelche Gruppen über das Gesetz hinwegsetzen. Sie fügen unserem Volk durch ihr verbrecherisches Vorgehen gewaltigen Schaden zu. Dem setzen wir jetzt ein für alle Mal ein Ende. SPIEGEL: Scharon stellt inzwischen die Glaubwürdigkeit Arafats in Frage und erlaubte ihm zu Weihnachten nicht einmal den Besuch der Mitternachtsmesse in Bethlehem. Radschub: Scharon ist nun wirklich der Letzte, der den Begriff »Glaubwürdigkeit« in den Mund nehmen sollte. Er ist ein Faschist durch und durch. Auch nur der Gedanke an einen wirklich unabhängigen palästinensischen Staat und an einen echten und gerechten Frieden liegt ihm fern. SPIEGEL: Viele Palästinenser sympathisieren mit Hamas und anderen radikalen Gruppen. Können Sie den Kampf gegen den Terrorismus aus den eigenen Reihen überhaupt gewinnen? Radschub: Wir gehen unerbittlich gegen die illegalen Gruppen vor und bestrafen jeden äußerst hart, der die Anordnungen unserer Behörde nicht befolgt. Die überwältigende Mehrheit der Palästinenser steht dabei geschlossen hinter Präsident Arafat. Für seine kämpferische Rede an die Nation hat er viel Zuspruch erfahren. Darum haben religiöse Fanatiker gegen die legitime palästinensische Autonomiebehörde und ihre Organe auch keine Chance. SPIEGEL: Dennoch geht die Serie von Anschlägen ungebrochen weiter. Radschub: Das Unglaubliche ist doch, dass Scharon einerseits von uns verlangt, gegen »Terroristen« vorzugehen, andererseits uns diese Aufgabe erschwert: Seine Panzer und Kampfflieger zerstören unsere Polizeistationen, töten unsere Offiziere und Mannschaften, riegeln unsere Städte und Dörfer ab und machen es so unmöglich, schlagkräftig zu handeln. Sogar unsere Gefängnisse bombardieren sie. SPIEGEL: Kann Jassir Arafat selbst die Palästinenser noch in eine friedliche Zukunft führen? Fast schien es, als würde das neue Jahr viel friedlicher über dem Hindukusch heraufziehen, als das viele Beobachter noch vor wenigen Wochen für möglich gehalten hatten: Die Taliban waren aus ihren Machtpositionen überall in Afghanistan vertrieben. Im Grenzgebiet zu Pakistan erstarb auch der letzte bewaffnete Widerstand von Kämpfern der Terrororganisation al-Qaida, mit der Amerikas Staatsfeind Nummer eins, Osama Bin Laden, gegen die westliche Welt zu Felde gezogen war. Eine neu vereidigte Koalitionsregierung unter dem Interimspremier Hamid Karzai hatte - gerade noch pünktlich zum christlichen Weihnachtsfest - in Kabul beinahe Versöhnungsstimmung aufkommen lassen. Und sogar eine internationale Friedenstruppe, heftig umstritten bis zuletzt, war rechtzeitig zum Antritt der neuen Administration aufmarschiert. Geführt vom britischen General John McColl, sollen die 3000 bis 5000 Soldaten, darunter ein größeres Kontingent der deutschen Bundeswehr, in der afghanischen Hauptstadt für Ruhe und Ordnung sorgen. Damit die Schutztruppe auch in anderen Landesteilen verhindert, dass dieses verwüstete Land wieder zurückstürzt ins Chaos der Selbstzerfleischung verfeindeter Volksgruppen und machtversessener Clans, müsste der Sicherheitsrat allerdings eine weitere Resolution verabschieden. Aber ausgerechnet der offensichtliche Sieger des Krieges am Hindukusch, die Supermacht Amerika, wird nicht müde, vor der andauernden Gefahr zu warnen - zumal der gesuchte Chefterrorist mit einer neuen Videobotschaft von sich reden machte. In Brüssel malte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld seinen Amtskollegen ein Menetekel an die Wand: Sie könnten die nächsten Opfer sein. Ein neuer Terrorschlag, womöglich mit Massenvernichtungswaffen und noch verheerender als die Flugzeugattentate vom 11. September, drohe jederzeit. Das Schlimmste stehe vielleicht erst noch bevor. Folgsam beschloss die Nato, den Kampf gegen den Terror zu intensivieren. Phase zwei des Weltkriegs gegen den Terroris- mus kann beginnen. Denn daran lässt die einzige Supermacht keinen Zweifel: Was immer in und um Afghanistan geschieht - Washington ist wild entschlossen, den »Kreuzzug« (Bush) auch in andere Weltregionen zu tragen. Wie, wo und wann Amerika seinen Kampf gegen das Böse außerhalb Afghanistans fortführen will, vermochte der Pentagon-Chef noch nicht definitiv zu sagen. Seit Monaten ringt das Kabinett von Präsident George W. Bush über weitere Kriegsziele, offene und verdeckte Schläge, militärische, politische und ökonomische Optionen. Doch eine Entscheidung, so heißt es im Weißen Haus, »hat der Präsident noch nicht getroffen«. Die Amerikaner wissen besser als alle, die sich von militärischen Erfolgen blenden lassen, wie sehr es in Afghanistan noch brodelt in der Nach-Taliban-Ära. Karzais Koalitionsregierung, die Anfang Dezember auf dem Petersberg bei Bonn mit internationaler Geburtshilfe zusammengezwungen wurde, fehlt das Vertrauen in weiten Landesteilen: Im Norden zeigte sich Usbeken- General Raschid Dostam nur unter massivem Druck aus dem Westen zur Zusammenarbeit bereit, die Karzai mit dem Amt des Vize-Verteidigungsministers belohnte. »Wir sollten uns die Hände reichen, um Brüder und Freunde zu sein«, mahnte der Interimspremier bei der Amtseinführung der neuen Regierung, »vergesst die schmerzliche Vergangenheit.« Karzai gelobte, die Kriegsherren zu entwaffnen und das Land zu einem Rechtsstaat zu machen. Überschattet wurde die würdige Kabuler Zeremonie von einem Fehlschlag der USLuftwaffe: Die bombardierte im östlichen Afghanistan einen Fahrzeug-Konvoi, in dem sie flüchtende Taliban-Führer geortet zu haben glaubte. Doch die 65 Opfer waren Zivilisten, vornehmlich Stammesälteste auf dem Weg zu Karzais Amtseinführung. Aber kein Zweifel: Gefahr droht weiter von einem Gegner, den viele Beobachter längst für überwältigt hielten - den Taliban. Rupert Neudeck von der Hilfsorganisation Cap Anamur, der auch während des Bombenkriegs Afghanistan bereiste, wunderte sich kürzlich bei Sabine Christiansens ARD-Talkshow über die »weit verbreitete Fehleinschätzung, die Taliban seien geschlagen«. In großen Landesteilen hat es so gut wie keine Kämpfe gegeben, weiß der Friedenshelfer. Oft seien die Glaubenskrieger im Einverständnis mit ihren Machterben ohne Blutvergießen abgezogen. Auch russische und indische Geheimdienstler hatten kürzlich gewarnt, vier Fünftel der bis zu 50000 Mann starken Kerntruppe der Koranschüler warteten bei ihren Heimatclans oder in unzugänglichen Regionen die Entwicklung ab. »Die Bewegung wird sich wieder erheben«, drohten Taliban-Führer bereits aus dem pakistanischen Exil. Dass sich etwas tut im Netzwerk der Koranschüler, mussten auch die Amerikaner feststellen. Kaum waren die Führungssysteme der islamistischen Gotteskrieger zerschlagen, registrierten US-Abhörspezialisten eine anschwellende Flut von Funksprüchen auf Kurzwellenfrequenzen, die eigentlich Hilfsorganisationen vorbehalten sind. Sogar Osama Bin Laden wollten die Amerikaner auf einer dieser Wellen bei Tora Bora geortet haben. Des Rätsels Lösung: Ganz systematisch räumten die abziehenden Taliban die Lager der Hilfsorganisationen aus, berichtete Udo Ulfkotte in der »Frankfurter Allgemeinen«. Geländegängige Fahrzeuge, aber auch Hunderte Kurzwellenfunkgeräte des australischen Herstellers Codan wechselten dabei den Besitzer. Seither verfügen die Taliban-Truppen bis hinunter zur kleinsten Einheit über Minisender, mit denen sie ein völlig neues, kaum zu kontrollierendes Kommunikationssystem aufgebaut haben. Die Tarnung der nun mit der Funkkennung ziviler Organisationen sendenden Glaubenskrieger wird perfekt, wenn die ins Land zurückkehrenden internationalen Helfer jene 1000 »High Power HF SSB«-Systeme in Betrieb nehmen, welche die Firma Codan bereits als Ersatz nach Afghanistan verschifft hat. Auf 400 Kanälen und mit Reichweiten von mehreren tausend Kilometern halten die untergetauchten Taliban nun nicht nur im Land Kontakt. Sie könnten damit sogar Anweisungen ihres Führers Mullah Omar oder von Terrorchef Osama Bin Laden noch aus Somalia empfangen, sollten sich die Gesuchten bis dorthin durchschlagen können. Wo die beiden stecken und ihre wichtigsten Unterführer, blieb auch über Weihnachten ein Rätsel. Oberbefehlshaber Bush gab sich indes weiterhin siegesgewiss: »Wir werden sie kriegen.« Das müssen die Amerikaner auch, denn sonst ist das Ziel von Phase eins des Anti- Terror-Krieges nicht erreicht. Deswegen suchten amerikanische Sondereinheiten gemeinsam mit verbündeten Mudschahidin auch noch Tage nach dem Fall der al-Qaida- Bergfeste Tora Bora Höhlen und Schluchten, Unterstände und Schleichpfade ab. Blut- und Speichelproben wurden gesammelt, die Züge jeder Leiche nach Ähnlichkeit mit einem der Top-Terroristen überprüft. Bin Laden sei längst tot und unter dem Geröll der zerbombten Höhlen begraben, spekulierten pakistanische Zeitungen. Doch womöglich wurden da bewusst falsche Spuren gelegt. So höhnte ein ehemaliger Taliban-Führer, die USA würden den Gesuchten niemals tot oder lebendig kriegen. Bin Laden sei Mitte Dezember an den Folgen eines Lungenleidens gestorben und beigesetzt worden. Das gut getarnte Grab werde niemand finden. Für Verwirrung sorgte dann kurz vor dem Jahreswechsel ein Lebenszeichen des Meistgesuchten: Der arabische Fernsehsender al-Dschasira präsentierte gleichsam als spätweihnachtliche Bescherung ein weiteres Videoband Bin Ladens. Schmal, fahl und mit weißgrauem Bart rechtfertigte der al-Qaida-Führer den »heiligen Terror« gegen die »Unterdrückung« durch den großen Ungläubigen, »so dass Amerika seine Hilfe für Israel stoppt«. Über das Schicksal Bin Ladens aber besagt dieses Video wenig, denn es wurde wohl schon Anfang Dezember aufgezeichnet. Die »Spur ist kalt geworden«, bekannte jedenfalls ein frustrierter US-Militärsprecher. Die Wortmeldung Bin Ladens während des Kampfs um Tora Bora auf einem der nur schwer zu ortenden Kurzwellengeräte könne »durchaus auch aus Pakistan gekommen sein« - aus den halb autonomen Stammesgebieten gleich jenseits der Grenze zu Pakistan. Washington steht nun vor der Frage, ob es die militärische Jagd auf seine Erzfeinde bei einem Verbündeten fortsetzt, der schon jetzt, durch die überaus enge Kooperation mit den USA, in innenpolitische Bedrängnis geraten ist. Rumsfeld baut auf die pakistanischen Streitkräfte, die nach dem Fall von Tora Bora Hunderte al-Qaida-Kämpfer an der Grenze aufgegriffen oder nach blutigen Scharmützeln festgesetzt hatten. Dann jedoch droht Präsident Pervez Musharraf der Konflikt mit militanten Muslimen im eigenen Land - ein Überlebensrisiko für seine Putsch-Regierung. Daher hofft Washington, dass sich irgendwann ein Verräter findet und Bin Laden die 25 Millionen Dollar zum Verhängnis werden, die auf seinen Kopf ausgesetzt wurden. In der Überzeugung, dass sie die Gesuchten - so oder so - fassen werden, haben die Amerikaner Akt zwei, die Zerschlagung der Terror-Internationale, bereits begonnen. Sie knüpfen dabei an alte Aktivitäten an. Albanische Folterer pressten 1998 im Beisein von CIA-Agenten angeblichen Angehörigen einer ägyptischen Islamistengruppe mit Kontakt zu al-Qaida Informationen ab. Auf Grund dieser Aussagen stöberten US-Sonderkommandos jetzt auf dem Balkan militante Islamisten auf, die al- Qaida angehören sollen. Im Jemen, Heimatland der Familie Bin Laden und möglicher Standort einer neuen al-Qaida-Zentrale, tötete das Militär Mitte Dezember bei einem Angriff mit Panzern und Hubschraubern 4 Angehörige des Stammes der al-Dschalal - und verlor dabei selbst 18 Soldaten. Der Clan soll mit Bin Laden sympathisieren. Präsident Ali Abdullah Salih will so offenbar verhindern, dass sein Land nächstes Ziel des amerikanischen Feldzugs gegen den Terror wird. Auch in Bagdad herrsche »nackte Angst«, heißt es in US-Geheimdienstkreisen. Aufmerksam habe man dort zur Kenntnis genommen, dass die einflussreiche Fraktion der Scharfmacher um Verteidigungsminister Rumsfeld und seinen Vize Paul Wolfowitz alles daransetzt, um den verhassten Saddam Hussein endlich aus seinem Diktatorensessel zu vertreiben. Immerhin sei der Mann aus Bagdad als Förderer von Terroristen berüchtigt, er strebe dazu kaum verhohlen nach chemischen, biologischen und atomaren Massenvernichtungswaffen, an denen auch al-Qaida Interesse gezeigt habe, meinte Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice. Mitarbeiter der Auslandsaufklärung kolportieren dagegen, Bagdad sei womöglich gar zur Zusammenarbeit mit der Anti- Terror-Koalition bereit. Allerdings galt der Irak ohnehin nie als wahrscheinliche Fluchtburg für Osama Bin Laden. Die ideologische Kluft zwischen dem islamistischen Eiferer und dem großarabischen Gewaltherrscher scheint unüberbrückbar. Wenig wahrscheinlich auch, dass sich Bin Laden & Co. zu ihren südostasiatischen Glaubensbrüdern auf den Philippinen oder in die größte Muslim-Nation der Welt, nach Indonesien, absetzen. Dort, im Sonderbezirk Aceh etwa oder auf der Tropeninsel Sulawesi sowie auf den Molukken und dem philippinischen Mindanao, führen islamistische Freischärler einen »Heiligen Krieg« gegen ihre Zentralregierungen oder christliche »Ungläubige«. Auf Ambon orteten indonesische Geheimdienstler zwar Kombattanten aus Ägypten, Saudi-Arabien und dem Jemen. Im Kreis ihrer asiatischen Gesinnungsgenossen fallen die Glaubenskrieger aber auf wie bunte Hunde, keine gute Voraussetzung fürs Untertauchen. Zudem weisen die Inselrebellen, die sich etwa auf Sulawesi stets ihrer Kontakte nach Afghanistan gerühmt hatten, jetzt jeden Verdacht zurück, mit al-Qaida zusammenzuarbeiten. Und die Regierungen der Region lehnen nachdrücklich amerikanische Militäreinsätze in ihren Kleinkriegen ab. Geradezu abwegig scheint der Versuch einiger Hardliner in Washington, Nordkorea mit aufzunehmen in die Zielliste des Anti-Terror-Kriegs. Den religiösen Fundamentalisten um Bin Laden, die bereits gegen die »gottlosen« Sowjets gekämpft hatten, sind die Atheisten in Pjöngjang verhasst wie der Leibhaftige selbst. Südkoreas Präsident Kim Dae Jung fürchtet zudem, Säbelrasseln in Washington wegen angeblicher nordkoreanischer Terrorhilfe und der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen könne seine Bemühungen um einen Ausgleich auf der Halbinsel zunichte machen. Suh Jae Jean vom regierungsnahen Koreanischen Forschungsinstitut für Nationale Wiedervereinigung ist überzeugt: »Nordkorea benutzt seine Waffen, einschließlich der Raketen und Biokampfstoffe, eher als Verhandlungsmasse denn für einen militärischen Einsatz.« Nahezu ideale Voraussetzungen für den nächsten Schlag böte dagegen Somalia - ein islamisches Land, unzugänglich und zerfallen in Einflussgebiete verfeindeter Clans, ein Afghanistan am Horn von Afrika (SPIEGEL Nr. 52/2001). Schon wurden Erkundungskommandos des Pentagon in der Region gesichtet. Auch die Bundeswehr, der die Kontrolle der Seegebiete am Horn von Afrika und damit möglicher Anmarschwege flüchtender al-Qaida-Kämpfer vom Pentagon aufgetragen wurde, soll bereits Berbera im abgespaltenen Somaliland als mögliche Operationsbasis in Augenschein genommen haben. Der Tiefwasserhafen war einst für die Sowjetflotte angelegt worden. Die deutsche Marine wird ihre Prisenkommandos aber Anfang Januar von Dschibuti aus in See stechen lassen. Gekämpft wurde bereits am Horn: Äthiopische Truppen drangen im November über die Grenze nach Puntland vor, einem anderen Teilstaat Somalias, und vertrieben militante Islamisten aus der Stadt Bosaso. Und im Grenzgebiet von Kenia hat das Pentagon, so Augenzeugen, bereits einen Hubschrauberstützpunkt eingerichtet - ideal gelegen, um vermutete Terroristencamps im Süden Somalias anzugreifen. Deutsche Soldaten auf dem Weg nach Afghanistan - was vor vier Monaten noch absurd erschien, verwandelte sich gegen Jahresende in eine bloße Verfahrensfrage. Im Eiltempo beschloss der Bundestag den Einsatz, zu Weihnachten verabschiedeten sich die Männer der Kampfkompanien von ihren Liebsten, noch vor Neujahr wollte Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping die erste Hand voll Soldaten nach Kabul schicken. Damit beginnt einer der aufwendigsten Auslandseinsätze in der Geschichte der Bundeswehr. Das Interesse der deutschen Parlamentarier bei der Sondersitzung zwei Tage vor Heiligabend war hingegen mau. Nur ein paar Dutzend Abgeordnete warteten überhaupt ab, bis Bundestagspräsident Wolfgang Thierse das Ergebnis der Abstimmung vorlas: 538 Ja-Stimmen. Als wäre es im Jahre 2001 niemals zu Koalitionskrisen um die deutschen Auslandseinsätze gekommen, votierten bis auf die PDS alle Fraktionen für die Entsendung der Soldaten. Es sei eine »bittere Wahrheit«, so Bundeskanzler Gerhard Schröder, dass man dem Frieden in Afghanistan »nur durch den Krieg näher gerückt ist«. Welche Gefahren auf die Deutschen am Hindukusch warten, weiß niemand. Scharping stellt für die mühsam aus der ganzen Republik gezogene, höchstens 1200 Mann starke Truppe ein »sehr umfassendes Spektrum von Risiken« heraus: Marodeure, Minen und Sprengfallen. Und das knapp 5000 Kilometer Luftlinie von der Heimat entfernt. Das Einsatzgebiet auf dem Balkan konnte die Bundeswehr noch mit Bus und Bahn erreichen. Selbst die alten Transall-Transportflugzeuge schafften den Flug über die Alpen ohne Tankstopp. Nun übersteigt die logistische Herausforderung endgültig das Leistungsvermögen der Armee. Im pakistanischen Hafen Karatschi wollen die Deutschen ihr schweres Gerät anlanden - nach Kabul sind es von dort noch weit über 1000 Kilometer Landstraße. Und was, wenn es richtig knallt? »Raushauen können uns nur die Amerikaner«, schwant dem Bundeswehr-Generalinspekteur Harald Kujat. Ein weiteres Problem: Die Briten wollen die Führung nur bis maximal Ende April 2002 übernehmen. Die Deutschen fürchten eine Neuauflage des Spektakels in Mazedonien. Im vergangenen Sommer hatten die Briten sich nach 30 Tagen aus der Friedenstruppe verabschiedet. Die Deutschen mussten übernehmen. Bleiben sie nun, wieder als Nachhut der fixen Briten, auf unabsehbare Zeit in Afghanistan sitzen? Welches das nächste Ziel der amerikanisch-britischen Kampfgemeinschaft ist, darüber hatte der deutsche Verteidigungsminister schon vor Weihnachten nach einem Treffen mit Nato-Kollegen fabuliert. »Wer Somalia ausschließt, ist ein Narr«, so Scharping im Brüsseler Luxushotel Conrad. Die Weissagung geriet in die Presse, und prompt prasselte böser Spott auf den skandalgeplagten Minister nieder. Dabei hat Scharping vermutlich Recht. Für die US-Operation »Enduring Freedom« haben die Deutschen selbst 3900 Mann bereitgestellt, davon 1800 auf Schiffen und Booten der Marine, die gleich nach Neujahr in See stechen sollen. Das Einsatzgebiet stand schon von November an fest: die Gewässer am Horn von Afrika, vor der Ostküste Somalias. RALF BESTE, ALEXANDER SZANDAR Mahatma Gandhi, Vater der Nation und weltweit Symbol für Gewaltverzicht, ist in Indien auch ein halbes Jahrhundert nach seiner Ermordung allgegenwärtig. Ungezählte Straßen und öffentliche Gebäude tragen den Namen des wohl berühmtesten aller Friedenspolitiker. Doch ausgerechnet in Gandhi Vihar, einem kleinen Wohnviertel von Delhi, entwickelten fanatische Muslime ein Komplott, das am 13. Dezember im Selbstmordanschlag auf das indische Parlament gipfelte. 14 Menschen fielen einem 45-minütigen Schusswechsel zum Opfer. Die Leichen lagen im Vorhof des Gebäudes zu Füßen einer Statue des meditierenden Mahatma - seither droht wieder Krieg auf dem Subkontinent. Indien ist zwar Anschläge und Massaker besonders in dem nordwestlichen Krisen-Bundesstaat Jammu und in Kaschmir durchaus gewohnt. Dieses Attentat aber hatte eine neue Dimension: Die Extremisten waren fast ins Herz der größten Demokratie der Welt vorgedrungen, in jene Räume, wo 545 Abgeordnete Platz finden und sich zur Tatzeit rund 400 aufhielten. Keiner der fünf Angreifer überlebte den Überfall. Mit ihnen starben neun Sicherheitskräfte. Indiens Geheimdiensten war schnell klar, wer hinter dem Kommando steckt. Sie beschuldigen die islamistischen Terrorgruppen Lashkar-i-Toiba (LiT) und Jaish-i-Mohammed (JiM). Beide haben in Pakistan ihre Hauptquartiere. Die Indizien: Alle Täter waren Pakistaner. Und: In diversen Wohnungen, die das Quintett im Norden von Delhi angemietet hatte, fanden Ermittler kiloweise Sprengstoff sowie »wichtige Hinweise« auf der Festplatte eines Laptops. Die ersten Ziele der Vergeltung waren deshalb für die Inder eindeutig: die Ausbildungscamps für militante Separatisten im pakistanischen Teil Kaschmirs. Seit vielen Jahren schürt und unterstützt Indiens Erzfeind Unruhen in der Bergregion, denen seit 1989 mindestens 35 000 Menschen zum Opfer fielen. Was in Pakistan als Freiheitskrieg gilt, nennt Indien von Pakistan gesponserten Terrorismus. Das Attentat von Neu-Delhi erfolgte nach dem gleichen Muster wie ein Anschlag am 1. Oktober auf das Landesparlament in Srinagar, der Hauptstadt des indischen Teils von Kaschmir, bei dem 38 Menschen starben. Die prompte Antwort diesmal: Granatenfeuer und schwere diplomatische Kaliber. Am 21. Dezember berief Indien seinen Botschafter aus Islamabad ab, kappte die 1999 eingeweihte Busverbindung zwischen Delhi und Lahore und stellte den Zugverkehr ein. Über Weihnachten spitzte sich die Situation dramatisch zu. »Wir wollen keinen Krieg, aber er wird uns aufgezwungen«, sagte Indiens Ministerpräsident Atal Behari Vajpayee. Seine Nation empfindet den Anschlag als fast so ehrenrührig wie die USA die Terrorangriffe vom 11. September - und sieht sich ähnlich herausgefordert. Indien wie Pakistan versetzten Truppen in Alarmbereitschaft und verlegten starke Kontingente in die Krisenregion. Die Inder sagten erstmals seit 1947 ihre traditionelle Militärparade am 15. Januar ab, weil Panzer und Soldaten in Kaschmir benötigt werden, außerdem verhängten sie eine Urlaubssperre für Armeeangehörige. Beobachter meldeten von der Front die größte Truppenkonzentration seit 15 Jahren. Zunächst kam schwere Artillerie zum Einsatz. 19 pakistanische Bunker sollen zerstört worden sein, grenznahe Dörfer wurden evakuiert, mehr als 10 000 Menschen waren - wieder einmal - auf der Flucht. Um den Druck zu erhöhen, stationierte Neu-Delhi auch seine Raketensysteme in Grenznähe und legte Minen. Islamabad reagierte mit der Positionierung eigener hochgerüsteter Kontingente und verschärfte die Rhetorik. Regierungssprecher Anwar Mahmood: »Die indischen Führer schüren aus innenpolitischen Zwängen heraus Kriegshysterie.« Indiens Regierung verlangte ultimativ, dass Musharraf die Führer beider Gruppen, insbesondere JiM-Chef Maulana Masood Azhar, ausliefert. Azhar hat noch eine Haftstrafe zu verbüßen: Neu-Delhi musste ihn, nach der Entführung eines indischen Flugzeugs 1999 nach Kandahar, im Austausch gegen die Passagiere aus dem Gefängnis entlassen. Mitte letzter Woche wurde Azhar dann auch verhaftet - doch Neu-Delhi machte sogleich klar, dass dies nur eine pakistanische Vorleistung sei, mehr nicht. Zweimal schon haben die feindlichen Bruderstaaten Krieg um Kaschmir geführt: 1947, was einen von der Uno vermittelten Waffenstillstand zur Folge hatte, sowie 1965. Im Grundsatz geht es bei dem bis heute ungelösten Grenzstreit an der 776 Kilometer langen Line of Control, jener provisorischen Grenze, die Kaschmir trennt, um Hoheitsansprüche, denen der jeweils andere Staat im Weg steht. Sie verschärfen sich durch weltanschauliche Differenzen. Pakistan ist zu 97 Prozent muslimisch, Indien zu 82 Prozent hinduistisch - nur im indischen Teil Kaschmirs dominieren die Muslime. Keine Seite war je zu Verzicht oder auch nur zu Kompromissen bereit. Die Uno-Resolution Nummer 47 fordert seit gut 53 Jahren eine Volksabstimmung über Kaschmir. Neu-Delhi ignoriert sie bis heute. Stattdessen drehen beide Regierungen an der Rüstungsspirale. Bereits 1974 führte Indien einen Atomversuch durch. Nach erneuten Nukleartests im Mai 1998 präsentierte auch Pakistan eigene Atomwaffen. Zudem drangen ein Jahr später vom pakistanischen Militär unterstützte Söldner über die Grenze ins indische Kaschmir. Neu-Delhi fühlte sich von den »Befreiungskriegern« provoziert und schlug zurück - nur knapp unterhalb der Schwelle zur Generalmobilmachung. Die atomare Option verleiht dem ewigen Zank um Kaschmir eine neue Qualität. Denn nun können Indien und Pakistan mit der ultimativen Waffe in der Hinterhand prüfen, wie weit der Gegner einen Konflikt eskalieren lassen will. Pakistan gilt als besonders unsicherer Kantonist. Der bei der konventionellen Rüstung unterlegene Staat könnte als Erster die Nerven verlieren. Indien präsentiert den USA seit langem Indizien für Pakistans Rolle als Patron des kaschmirischen Separatismus. Doch erst der 11. September schärfte Washingtons Augenmerk: Unter den Dschihadis, den in pakistanischen Trainingslagern ausgebildeten heiligen Kriegern, sind nämlich auch viele Taliban. Die Guerrillakämpfer finden Unterschlupf - und offenbar auch neue Aufgaben - bei ihren alten Mentoren, den Extremisten-Organisationen JiM und LiT. Beide Gruppen verbündeten sich, wie es in Neu-Delhi heißt, mit Billigung des pakistanischen Geheimdienstes ISI zum Anschlag auf die indische Nationalversammlung, obwohl sie sich ideologisch voneinander unterscheiden. Die radikalen Muslime der JiM kämpften ihren Heiligen Krieg bisher ausschließlich um und in Kaschmir, die vielleicht 300 Aktivisten der LiT wollen den Einfluss der Hindus in Südasien zurückdrängen. Den Amerikanern wäre es am liebsten, wenn Neu-Delhi und Islamabad gemeinsam die Terrornester ausräucherten. Zwar bestätigte US-Außenminister Colin Powell Indiens »legitimes Recht auf Selbstverteidigung«, doch der Kampf gegen LiT und JiM möge bitte gemeinsam mit Pakistan geführt werden. Vergangenen Mittwoch ächtete Washington beide Extremistengruppen, indem es sie auf die Liste der Terrororganisationen setzte. Islamabad sperrte ihre Konten. Trotzdem steckt Pakistans Staatschef Pervez Musharraf in der Klemme. Als »Termiten, welche den Bau der Nation von innen zerfressen«, bezeichnete er eilfertig muslimische Extremisten. Nur: An der Grenze zu Afghanistan lässt Musharraf sie bekämpfen, in Kaschmir ließ er sie bislang gewähren. Er wolle ihre »Brutstätten eliminieren«, verspricht der General mit derselben Verve, mit der er den USA beim Anti-Terror-Feldzug assistiert. Allerdings: Über 40 Prozent seines Staatsvolks bekundeten in einer neuen Umfrage Sympathien mit den Taliban, in den Städten Rawalpindi und Islamabad lag die Quote sogar bei 54 Prozent. Fast genauso viele Pakistaner halten die USA für eine »arrogante Supermacht«. Große Teile der Nation sympathisieren mit religiösen Hardlinern. Und auch die Armee, die Musharraf an die Macht putschte, ist an einer Entspannung in Kaschmir kaum interessiert - sonst wäre ein starkes Militär ja verzichtbar. Entspannung allerdings ist nicht in Sicht, auch wenn beide Seiten massiv für eine diplomatische Lösung plädieren. Stattdessen liegen die Nerven blank, und die Kontrahenten lassen die Muskeln spielen. »Wir sind nicht nervös, sondern selbstbewusst«, posaunt Indiens Armeechef General S. Padmanabhan. »Wir wissen, was zu tun ist und sind dazu durchaus fähig.« Musharraf kann viele Fehler machen. Eine harte Hand gegen den islamischen Extremismus würde die frustrierten Falken weiter gegen ihn aufbringen. Zudem ist seine Popularitätskurve seit Beginn der amerikanischen Vergeltungsschläge dramatisch auf neun Prozent gesunken. Kein Wunder, dass Indien kein Interesse zeigt, den General durch Verhandlungen aufzuwerten. Sein Angebot, gemeinsam den Schuldnachweis der Gruppen LiT und JiM zu führen, lehnte Neu-Delhi brüsk ab. Die vorliegenden Beweise würde man allenfalls mit »befreundeten Nationen« wie den USA, Großbritannien, Frankreich oder Deutschland diskutieren, nicht aber mit dem finsteren Nachbarn. Pakistans Staatschef soll alle Terroristen ausschalten - sonst handelt Indien. Oppositionsführer zu sein in Washington ist derzeit ein harter Job. Thomas Daschle, Demokrat, Mehrheitsführer im Senat und Zukunftshoffnung seiner Partei, verknotet sich geradezu, fragt ihn jemand, ob der Präsident, hinter dem sich im Afghanistan-Krieg fast 90 Prozent seiner Landsleute versammeln, womöglich Schuld sei an der gegenwärtigen Rezession. Dann holt Daschle ganz tief Luft und sagt: »Ich habe den absolut größten persönlichen Respekt für den Präsidenten und bewunderte ihn zutiefst.« Ah, und wie war das mit der Rezession? »Also, ich glaube nicht, dass er verantwortlich dafür ist.« Aber wer dann? »Ich glaube, dass Bemühungen, die unter seiner Regierung in diesem Jahr gemacht wurden, zum Abschwung beigetragen haben.« Nicht, dass Freunde und Verbündete des erfolgreichen Kriegsherrn es viel leichter hätten. Da stand im Entwurf für das Schlusskommuniqué des EU-Gipfels von Laeken ein Passus, der eine Ausweitung des Krieges gegen den Terrorismus nur »nach dem Einholen der Zustimmung durch die internationale Gemeinschaft« zulassen wollte. Doch Tony Blair, von Spöttern ohnehin schon als US-Vizepräsident geschmäht, Silvio Berlusconi, der immer noch beweisen will, dass eigentlich er der beste Freund des US-Präsidenten in Europa ist, und Gerhard Schröder, der den Amerikanern »uneingeschränkte Solidarität« versprochen hatte, sorgten dafür, dass der aufmüpfige Satz schnell wieder gestrichen wurde - aus Angst, die Amerikaner zu verärgern. Offenbar war ihnen bereits zu Ohren gekommen, dass der Mann im Weißen Haus seinen Allianzpartnern jenseits des Atlantiks noch immer nicht so recht traut. Die Europäer hätten »die Tendenz, dahinzuwelken«, ließ er sich vernehmen. Fast drei Monate nach ihrem Beginn hat die Operation »Enduring Freedom« den Hauptverantwortlichen für die Anschläge von New York und Washington noch nicht gestellt; dafür aber hat sie immerhin erreicht, dass die von der Gottesknechtschaft der Taliban erlösten Afghanen eine anhaltende Freiheit genießen dürfen. Und dieser Erfolg hat Präsident George W. Bush anscheinend unangreifbar gemacht. Der 55jährige ehemalige Provinzgouverneur, der sein Amt unter dem Gespött von Regierungen in aller Welt begonnen hatte, steht nun der unbestrittenen Führungsmacht im Krieg gegen den Terrorismus vor, als »unglaublich wachsender Präsident« wie das Nachrichtenmagazin »U. S. News & World Report« staunt. Da hatte Bush Junior eine ähnlich breite Koalition von Verbündeten auf die Beine gestellt wie sein Vater Bush Senior eine Dekade zuvor im Golfkrieg. Er hatte Lernfähigkeit gezeigt und war, seiner weltweit gefürchteten Wildwest-Rhetorik zum Trotz, behutsam vorgegangen. Gemessen an den Blutopfern in 23 Jahren Krieg und Bürgerkrieg zuvor, führten die US-Streitkräfte einen eher begrenzten Krieg. Bewiesen hat der Präsident vor allem eines: dass die einzig verbliebene Supermacht eine Realität ist, mit der sich Freund und Feind in den nächsten Jahrzehnten auseinander zu setzen haben. Was nach dem Golfkrieg und dem Bombenfeldzug gegen Slobodan Milosevic meist unausgesprochen blieb, wird nach dem Afghanistan-Krieg zur Gewissheit: Die von Bush Senior geforderte »Neue Weltordnung« formt sich zur Wirklichkeit, und Amerika bestimmt ihre Gesetze. Zwar verkneifen sich Bush und seine Minister jedes öffentliche Jubeln über den Sieg gegen die Taliban und die Zerschlagung von al-Qaida. Intern aber wird in der politischen Klasse der Hauptstadt, vor allen in den Washingtoner Think Tanks, bereits ausgiebig über die Folgen des Triumphs debattiert. Das Schlagwort von Amerikas »Neuem Empire« macht die Runde. Die Nation, die im Kampf gegen die imperiale europäische Vormacht England entstand, gibt endlich zu, selber ein Weltreich anzuführen. Es übertrifft an Macht selbst die klassischen Imperien Roms und Großbritanniens, glaubt der Yale-Historiker Paul Kennedy. In Washington sei, schreibt die »New York Times«, »ein Kampf darum entbrannt, welche Form das amerikanische Empire annehmen soll«. Das eine Lager habe seinen Schwerpunkt im Pentagon unter Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und seinem Stellvertreter Paul Wolfowitz. Beide seien der Meinung, Amerika müsse durch Stärke führen und zwar »ohne Rücksicht auf bestehende Verträge oder Einwände von Alliierten«. Die USA sollten machtvoll, »im muskulösen Ton des Interventionismus zur Welt sprechen«. Das andere Lager werde vertreten durch Außenminister Colin Powell. Er sei der Überzeugung, Amerika müsse »durch das Beispiel einer großmütigen Macht führen« und deshalb einen außenpolitischen Stil pflegen, der »ohne Ultimaten auskommt und sich pragmatischer Mittel bedient«. Richtig ist, dass der Afghanistan-Krieg vor allem die militärische und die politische Überlegenheit der USA unterstrichen hat. Der Historiker Kennedy weist darauf hin, dass heute allein die USA 36 Prozent der weltweiten Aufwendungen für das Militär aufbringen. Für ihre Streitkräfte geben sie mehr aus als die nächsten neun Nationen zusammengenommen. Diese Dominanz führten die Amerikaner im Afghanistan-Feldzug vor: Über 60 Prozent aller eingesetzten Sprengsätze waren »intelligente Bomben«, die es den Amerikanern ermöglichten, sie aus sicherem Abstand einzusetzen. Im Golfkrieg waren es knapp acht Prozent gewesen. Der Kampf gegen die Taliban wurde deshalb durch Befehle entschieden, die in Einsatzzentralen Tausende von Kilometern entfernt in Computertastaturen eingetippt wurden. Bitter beklagten sich die Gotteskrieger, dass sie ihren fernen Feind nicht einmal zu Gesicht bekämen. Diese angebliche Feigheit, sich zu stellen, machte es dann den Machthabern von Kabul womöglich leichter, selbst zu fliehen, als ihre Lage unhaltbar geworden war. Den afghanischen US-Verbündeten am Boden blieben offenbar nicht viel mehr als Aufräumarbeiten. Das war immerhin deutlich mehr, als Amerikas Nato-Partner übernehmen durften. Obwohl die atlantische Nordallianz nach den Anschlägen von New York und Washington erstmals in ihrer Geschichte den Bündnisfall verkündet hatte, machten die Amerikaner deutlich, dass die angebotene Militärhilfe überflüssig sei. Das gleiche Instrument, mit dem die USA während des Kalten Kriegs den Rivalen Sowjetunion in Schach gehalten hatten, war über Nacht ähnlich bedeutungslos geworden wie der Warschauer Pakt nach dem Zusammenbruch der östlichen Führungsmacht. Die Nato, glaubt Kennedy, »ist als Militärallianz einem Potemkinschen Dorf vergleichbar: Die Amerikaner führen 98 Prozent der militärischen Auseinandersetzung allein, die Briten übernehmen 2 Prozent. Verbündete wie Japan dürfen allenfalls um Mauritius herumschippern«. Wenn sich die Alliierten über ihre Zweitklassigkeit in Washington beklagten, erfuhren sie, dass sie selbst schuld daran seien. Nichts hatte die amerikanischen Militärbefehlshaber mehr erzürnt als das politische Vetorecht der Verbündeten beim Bombenkrieg gegen Jugoslawien. Die Amerikaner bevorzugen seither bilaterale Abmachungen mit Partnern, die gefügiger sind als die Nato-Staaten, etwa Russland, Usbekistan oder Pakistan. Sollten die US-Streitkräfte auch nach dem Sieg über die Taliban ihre neuen Stützpunkte in Zentralasien nicht aufgeben, würden sie die militärische Präsenz rund um den Globus weiter verstärken und damit einen Trend, dem auch das Ende des Kalten Kriegs nichts anhaben konnte. So blieben nach der Rückeroberung Kuweits rund 20 000 GIs am persisch-arabischen Golf stationiert und die USA von West-europa bis Fernost in allen wichtigen Weltregionen vertreten. »Die Überwachung der amerikanischen Vorposten in Europa, am Golf und in Ostasien wird noch für Jahrzehnte die Hauptaufgabe des amerikanischen Militärs sein«, glaubt Thomas Donnelly, Direktor des Washingtoner »Projekts für das neue Amerikanische Jahrhundert«, einem Think Tank, in dem sich die Anhänger der Idee vom amerikanischen Empire versammelt haben. Auch politisch hat sich der Handlungsspielraum der Bush-Regierung erheblich vergrößert. Nichts zeigt das so deutlich wie Washingtons einseitige Kündigung des ABM-Vertrags, der den Rahmen für die erlaubte Raketenabwehr der einstigen Supermächte eng begrenzte und der zur Grundlage aller späteren Rüstungskontrollabkommen zwischen den USA und der Sowjetunion wurde. Statt mit dem vorhergesagten neuen Rüstungswettlauf zwischen Russland und den USA antwortete der Kreml lediglich mit einem eher matten Protest. Gleichzeitig versicherte Wladimir Putin, die neue Partnerschaft mit Washington im Rahmen des weltweiten Kampfs gegen den Terror nicht gefährden zu wollen. Sogar an dem Vorsatz, das eigene Atom-Arsenal drastisch zu verringern, will der Kreml-Chef weiterhin festhalten. Was der russische Präsident für so viel Wohlverhalten erwarten darf, ist weniger klar: Die von Putin verlangten engeren Bindungen an die Nato haben an Bedeutung verloren. Wichtiger könnte eine Unterstützung Washingtons für die Aufnahme Russlands in die Welthandelsorganisation sein, eine Zehn-Milliarden-Dollar-Investition des Energie-Multis Exxon Mobil für das neue Fördergebiet bei Sachalin sowie weitere Schuldenerlasse im Rahmen des Pariser Clubs. Hatte etwa die »Washington Post« nach den Anschlägen von New York und Washington noch verkündet, dass »ein Sieg im Kampf gegen den Terror das Ende der amerikanischen Alleingänge nötig« mache, hat sich diese Hoffnung auf Kooperation inzwischen gründlich zerschlagen. Darüber sind besonders viele Europäer empört, die sich nach den Anschlägen vom 11. September vorbehaltloser auf die Seite der USA gestellt hatten als je zuvor. So ließen die USA sechs Tage vor der einseitigen Kündigung des ABM-Vertrags sechsjährige Verhandlungen platzen, die zu einem internationalen Abkommen über strengere Kontrollen des Verbots von Biowaffen führen sollten. Zwar wollen auch die USA strengere Überwachungsmechanismen, sind aber nicht bereit, eigene Firmen durchsuchen zu lassen. Nirgendwo zeigt sich das Desinteresse der USA an wirklicher internationaler Zusammenarbeit deutlicher als bei der Frage, wie Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geahndet werden sollen. Die Europäer würden Osama Bin Laden, wenn er denn je gefangen werden sollte, am liebsten vor dem geplanten Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag aburteilen lassen. Doch die USA widersetzen sich der Gründung dieses bislang erst von 47 (bei 60 notwendigen) Ländern gebilligten Gerichts. Fast unbemerkt ist es den Republikanern jetzt gelungen, durch Zusätze zum neuen Verteidigungshaushalt weitere Hürden zu errichten. Danach wird der Präsident verpflichtet, »alle notwendigen und angemessenen Maßnahmen zu ergreifen«, um Amerikaner zu befreien, die sich vor diesem Gericht verantworten müssen. In Zukunft sollen sich die USA nicht mehr an Uno-Friedensmissionen beteiligen, wenn die Weltorganisation den US-Soldaten nicht vorher Immunität garantiert. Auch um die Militär-Tribunale, vor denen die USA stattdessen al-Qaida-Terroristen aburteilen lassen möchte, ist transatlantischer Streit programmiert, denn die Europäer werden keinen Verdächtigen ausliefern, dem die Todesstrafe droht. Damit wollen sich die Amerikaner nicht abfinden. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld forderte bereits, alle Länder müssten al-Qaida-Mitglieder ausliefern, »unabhängig davon, ob ihre Gesetze bezüglich der Todesstrafe anders sind als unsere«. Solche Absagen an internationale Zusammenarbeit werden im Lager der US- Falken derzeit lauthals bejubelt. »Die Quintessenz unserer Alleingänge«, schreibt etwa der Kolumnist Charles Krauthammer, »ist es, dass niemand uns abhalten kann, das zu tun, was für die Sicherheit der Vereinigten Staaten und der Freien Welt erforderlich ist. Das ist die treibende Kraft der Außenpolitik von Bush, und deshalb ist sie bisher so erfolgreich.« Doch die Idee, nach dem überzeugenden Beweis amerikanischer Vormachtstellung im Kampf gegen den Terrorismus müsse der Führungsanspruch nun in aller Welt und unter allen Bedingungen abgesichert werden, hat auch seine Gegner in den USA. Sie weisen darauf hin, dass gerade der Anspruch, weltweit die Nummer eins zu sein, Angriffe auf die Vormacht provoziert. Professoren wie Chalmers Johnson aus San Diego und Stanley Hoffmann von der Harvard-Universität sehen einen Riesen auf tönernen Füßen. Die ganze Hochtechnologie ihrer Streitmacht habe bislang den gesuchten Chefterroristen nicht beibringen können. Gerade weil die Weltmacht militärisch unangreifbar geworden ist, bleibt sie für Terroristen weiterhin verwundbar. Die Waffen, die das World Trade Center letztlich zum Einsturz brachten, waren keine Raketen, sondern Teppichmesser. Und auch die Idee, den imperialen Anspruch der Weltmacht USA offensiv zu vertreten und damit eingestandenermaßen die Nachfolge des britischen Empire anzutreten, stellt einen riskanten Kurs dar: Er garantiert geradezu eine auf Dauer konfliktreiche Welt. Denn die meisten der jetzigen Krisenbrennpunkte zwischen Kaschmir und Palästina, Afghanistan eingeschlossen, sind eine Erblast des zusammengebrochenen britischen Weltreichs. HANS HOYNG In seinem bisherigen Leben hinterließ Richard Colvin Reid nur wenige verlässliche Spuren. Nach allem, was die Ermittler inzwischen über ihn erfahren haben, ist er ein kleiner Gelegenheitsdieb aus London, der bei seinem letzten Aufenthalt im Gefängnis beschloss, zum Islam überzutreten. Bald darauf tauchte er in einer Moschee im Stadtteil Brixton auf. Reid war 28 und wollte seinem ziellosen Treiben wohl eine Richtung geben. Wer ihm dabei den entscheidenden Rat erteilte, ist jetzt die große Frage, der amerikanische, englische und französische Geheimdienstler und Justizbeamte nachgehen. In Afghanistan zeigten CIA-Agenten das Foto des Mannes mit dem fusseligen Bart und den hervortretenden Augen unter gefangenen al-Qaida-Kämpfern herum. Einige von ihnen glaubten, Reid wiederzuerkennen. Der Diebsstrolch aus London - ein Jünger Osama Bin Ladens, das englische Gegenstück zum amerikanischen Taliban John Walker? Für einen mittellosen Kleinkriminellen war Reid zuletzt ziemlich viel unterwegs in Europa. Am 7. Dezember tauchte er in Belgien auf und ließ sich einen neuen Pass ausstellen. Drei Tage vor Weihnachten erwarb er ein Ticket für einen Flug von Paris über Miami nach Antigua und zurück. Er zahlte bar, was allein schon seit dem 11. September Verdacht erregen sollte. Und wenn Reid denn ein Feuerzeug anstatt der nur kurz brennenden Streichhölzer bei sich gehabt hätte, wäre es ihm vermutlich geglückt, den Sprengstoff in seinen Basketballschuhen aus schwarzem Wildleder zu zünden und ein Loch in die Boeing 767 zu reißen, die in 11 000 Meter Höhe über dem Atlantik flog. Seit den Anschlägen von New York und Washington grassiert in Amerika die Angst vor einer Wiederholung des Alptraums. An Bord von Flug 63 der American Airlines befanden sich 197 Menschen. Eine wachsame Stewardess erspähte, wie der Passagier in Reihe 29 mehrmals versuchte, seine Schuhe in Brand zu setzen. Sechs tatkräftige Mitreisende stürzten sich auf ihn und fesselten den 1,93 großen Schuh-Bomber, der wild um sich trat und schlug. Eine Heldengeschichte mit Happy End. Seither sitzt der verhinderte Attentäter im Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses nahe Boston. Einige Bruchstücke über das Leben in den letzten Monaten kann Abdul Haq Baker beitragen, der Vorsteher der Moschee in Brixton, in der Reid betete und Arabisch lernte. In diesem eigentlich »liebenswerten Typ« sei eine Veränderung vor sich gegangen. Reid sei, meint Baker, in die Hände von Fundamentalisten gefallen. In dieses Bild passt, dass Zacarias Moussaoui auch in der englischen Hauptstadt für seine Selbstmordmission angeworben wurde und dieselbe Moschee besucht hatte: Er war vermutlich als Attentäter für den 11. September auserkoren, wurde jedoch drei Wochen vorher verhaftet. Der Prozess gegen Moussaoui beginnt Anfang Januar. Im Übrigen hält Baker es für ausgeschlossen, dass der eher schlichte Reid allein auf die Idee verfallen sein könnte, die Boeing in die Luft zu jagen. So sehen es auch die zuständigen FBI-Agenten. Sie sind überzeugt davon, dass einfallsreiche Tüftler die notwendige Vorarbeit leisteten. Reids Basketballschuhe waren innen ausgehöhlt. In jedem der beiden Sneakers steckten zwischen 110 und 140 Gramm Plastiksprengstoff. Normalerweise ist eine Zündkapsel oder eine Batterie notwendig, um die Explosion auszulösen. Doch für Reid, fand das FBI heraus, war eine Substanz unter den Sprengstoff gemischt worden, so dass ein Feuerzeug genügt hätte. Die Flamme musste nur lange genug an die Lunte gehalten werden, damit die Schuhe, Reid und zumindest ein Teil des Flugzeugs Schaden nähmen. Aber wann und von wem bekam Reid seine präparierten Treter? Die Spurensuche konzentrierte sich Mitte der Woche auf Paris. Reid konnte erst einen Tag später als geplant abfliegen. Das lag am aufmerksamen Angestellten einer Sicherheitsfirma, die für American Airlines die Passagiere überprüft. Ihm fiel auf, dass Reid einen nagelneuen Pass besaß und nur mit Handgepäck reiste. Der gab an, seine Familie lebe in Jamaika, er habe dort Kleidung und sei ansonsten in Belgien gereist. Die französische Polizei fand den Namen Reid nicht auf der internationalen Fahndungsliste. Die Beamten verzichteten dummerweise darauf, den seltsamen Reisenden von ihren Hunden beschnüffeln zu lassen. Die Tiere sind darauf trainiert, Plastiksprengstoff zu erriechen, Röntgenstrahlen entdecken ihn nicht. Grosbard, 47, klinischer Psychologe, ist Autor der Bücher »Israel auf der Couch« und »Der Araber in uns«. ------------------------------------------------------------------- SPIEGEL: Israelis und Palästinenser bekämpfen einander mit verbissener Feindschaft. Über 1000 Menschen wurden in dem jüngsten Aufstand, der Intifada, bereits getötet. Warum nur gibt es keinen Frieden in Nahost? Grosbard: Jedes Volk hat auch eine Psyche. Es geht nicht nur darum, wie man die Landkarte aufteilt, sondern um mentale Blockaden. Die emotionalen Probleme zwischen Israelis und Palästinensern sind viel schwerer zu überwinden als die praktischen. SPIEGEL: Welche Barrieren stehen im Weg? Grosbard: In diesem ungemein komplizierten nationalen Konflikt stehen sich zwei Parteien sozusagen im Erbstreit um das gleiche Zuhause gegenüber. Es ist fast ein sadomasochistisches Verhältnis: Beide fügen sich gegenseitig Leid zu, können aber nicht voneinander lassen. Sie sind aneinander gekettet wie in einer katholischen Ehe. SPIEGEL: Ist eine Scheidung denn unmöglich? Immerhin möchten die Palästinenser doch unabhängig sein, und Israel will endlich in Frieden leben. Grosbard: Trennungen sind das schwerste im Leben, das gilt auch in der Politik. Frieden schließen ist in Wahrheit eine traurige Sache, keine glückliche. Denn es heißt, dass man etwas aufgibt. Meine Generation trauert noch heute den schönen Stränden auf dem Sinai nach, den wir nach dem Abkommen von Camp David bis 1982 an Ägypten zurückgaben. Und nun sollen wir auf so viel mehr Land verzichten? Sollen kleiner werden, nach all den Jahren, in denen wir uns als die Größten sahen? Ich glaube nicht, dass die Israelis innerlich wirklich zur Anerkennung eines palästinensischen Staates bereit sind. SPIEGEL: Haben die Palästinenser denn Israel akzeptiert? Grosbard: Solange sie sich an den Traum von der Rückkehr aller Flüchtlinge in ihre Geburtshäuser klammern, werden sie dafür blockiert sein. SPIEGEL: Selbst die israelische Linke glaubt, das Rückkehrrecht wäre das Ende des Staates Israel. Grosbard: Auch wenn eine Rückkehr nur in Ausnahmefällen möglich ist, müssen wir doch das Leid der palästinensischen Flüchtlinge, das wir verursacht haben, emotional und moralisch anerkennen. Der Konflikt kann nur in einem würdigen Abkommen enden, in dem beide Seiten ihre Gefühle geachtet sehen. Das ist nicht einfach für die Palästinenser. Wir aber schauen auf unsere Nachbarn noch immer herab. Uns fällt es so schwer, die Palästinenser zu respektieren, ihnen mit Sympathie zu begegnen. SPIEGEL: Das dürfte angesichts der derzeitigen Welle von Terroranschlägen nur wenigen Israelis gelingen. Grosbard: Das Problem entstand doch schon lange vor der Intifada. Wir sind so ichbezogen, so narzisstisch, dass wir Mühe haben, den anderen zu sehen, seine Gefühle wahrzunehmen. Israel erkennt noch immer nicht seine Grenzen, die festlegen würden, was unser ist und was den anderen gehört. Schon in der Bibel wird uns das Bild gegeben, wir seien die Größten. SPIEGEL: Und das moderne Israel hat an dem Image kräftig mitgearbeitet. Grosbard: Wir haben die Welt von unserer Heldenhaftigkeit überzeugt, dabei sind wir ein kleines Land mit großen Problemen, das noch immer in steter Angst lebt, vernichtet zu werden. Tatsächlich steckt hinter unserem Größenwahn nackte Angst, die sich zu einer Paranoia ausgewachsen hat. Oft kämpfen wir nur, um unsere Furcht nicht zu spüren. SPIEGEL: Das ist aber nicht das Bild, das Israel derzeit unter Führung des eisernen Generals a.D. Scharon vermittelt. Grosbard: Genau das ist das Problem: Wir stellen uns immer so stark dar - kein Wunder, dass niemand unsere Ängste und Schwächen versteht. Die Palästinenser hingegen demonstrieren der Welt ihre Schwächen und gewinnen damit ungemein viel Mitleid und Sympathie: Wenn Sie sich die Uno als Therapiegruppe vorstellen, ist Israel der Patient, den alle anderen zutiefst unsympathisch finden. SPIEGEL: Genau das beklagen israelische Politiker immer: Alle sind gegen uns. Grosbard: Die Klage ist Teil unserer Paranoia. Wir haben das Gefühl, die ganze Welt hasst uns. Richtig, es gibt Antisemitismus und Hetze gegen Israel, aber wir haben auch Freunde. Und: Wir haben Einfluss auf die Gründe, die zum Hass gegen uns führen. Es ist zum Beispiel auffällig, dass Israel erstmals unter Rabin und Peres, als der Friedensprozess blühte, wirklich weltweit an Sympathie gewann. SPIEGEL: Die beiden waren bisher auch die einzigen Spitzenpolitiker, die von den Palästinensern als Partner empfunden wurden. Grosbard: Heute gibt es keinen israelischen Führer, der Wärme zeigt und der zu historischen Signalen in der Lage ist. Solche Symbole sind aber so wichtig im Friedensprozess. Denken Sie nur an die großartige Geste des ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat, der 1977 nach Jerusalem kam und vor der Knesset sprach. Oder Jordaniens König Hussein, der vor israelischen Eltern kniete, deren Kinder von einem jordanischen Grenzsoldaten massakriert worden waren. Kein israelischer Führer hat so etwas bisher fertig gebracht. SPIEGEL: Wäre nicht kürzlich die Gelegenheit dafür gewesen, als fünf Schulkinder im Gaza-Streifen durch eine israelische Mine starben? Grosbard: Israel fühlt sich bedroht und fürchtet, solche Anteilnahme würde als Schwäche ausgelegt. Es fällt uns schwer, großzügig zu sein, denn dazu muss man sich sicher fühlen, und davon sind wir weit entfernt. Die jüngsten Bombenanschläge haben die Verhärtung noch verstärkt. Auch die Israelis vermissen versöhnliche Gesten. SPIEGEL: Das Angebot von Ex-Premier Barak galt als sehr großzügig. Grosbard: Barak hat mehr angeboten als jeder andere, aber in erniedrigend-diktatorisch empfundener Weise. Der General a.D. hat die Palästinenser behandelt, als wären sie seine Soldaten, und hat ihnen dadurch das Gefühl gegeben: Ihr seid nicht gleich. SPIEGEL: Haben sie also zu Recht abgelehnt? Grosbard: Nein, in Wahrheit sind sie noch nicht bereit zum Frieden. Ihnen macht es Probleme, selbständig zu werden und ihre eigene Gesellschaft aufzubauen. Sie zeigen nur auf Israel und machen für alles die Besatzung verantwortlich. Es stimmt, wir fördern weiter ihre Abhängigkeit. Aber auch den Palästinensern fällt es schwer, sich von Israel zu trennen. Sogar die Selbstmordattentäter sprengen sich nicht nur in die Luft, um möglichst viele Israelis zu töten. Zu ihrer Pathologie gehört auch die Phantasie, dass sich ihr Blut mit dem des Feindes mischt und sie gemeinsam sterben. SPIEGEL: Warum hat es so lange gedauert, bis die Palästinenser gegen die Okkupation rebellierten? Grosbard: Ein Grund der eher passiven Mentalität der Palästinenser liegt wohl in der hierarchischen arabischen Gesellschaft, die eher zu Unterordnung und Duldsamkeit erzieht. Das spiegelt sich auch in der Hoffnung zum eigenen Regime wider. SPIEGEL: Welche Therapie raten Sie Israel? Grosbard: Wir könnten viel von der emotionalen Dynamik einer Paarbeziehung lernen - zum Beispiel eine freundlichere Sprache zu sprechen und nicht darauf zu beharren, wer Recht hat, sondern versuchen zu verstehen. Wenn ein Palästinenser spricht, sehen wir das stets als Lüge oder Lippenbekenntnis, aber kaum als schmerzhafte Wahrheit. Ähnliches gilt auch für die Palästinenser, die aus ihrem Gefühl der Erniedrigung heraus empfänglich sind für Hetzpropaganda gegen Israel. SPIEGEL: Wie wollen Sie den Terror stoppen? Grosbard: Leider brauchen wir dazu auch die Armee. Aber das heißt nicht, dass sie alles darf. Wir sollten erkennen, wo unsere Selbstverteidigung aufhört und Aggression anfängt. Schon die Existenz des anderen zu leugnen ist eine Form der Gewalt. Unsere Übergriffe begannen lange vor der Intifada: Indem wir Araber geschlagen und sie an Kontrollpunkten gedemütigt haben, indem wir sie in langen Schlangen warten ließen und Ausgangssperren verhängten mit dem Gedanken: »Was macht es schon, wenn bei ihnen mal die Schule ausfällt?« Diese Demütigungen kommen nun zu uns zurück. SPIEGEL: Die Palästinenser wollen mit ihrer Gewalt Israel verletzen und erniedrigen? Grosbard: Richtig, aber das tiefer gehende Problem scheint mir, dass die Palästinenser lieber Selbstmord begehen, als zielgerichtet auf ihre Unabhängigkeit hinzuarbeiten. Trotz Besatzung hätten sie in den Autonomiegebieten längst mehr tun können, um einen Staat aufzubauen. SPIEGEL: Wer könnte der Therapeut sein im kranken Friedensprozess? Grosbard: Wir brauchen die Intervention internationaler Kräfte. Beide Seiten sind nicht stark genug, sich selbst zu helfen. Sie brauchen jemanden, der ihnen klar und deutlich sagt: Stopp, hier ist die Grenze. INTERVIEW: ANNETTE GROßBONGARDT Das Haus Irkutsker Straße Nr. 3 ist bloßer Durchschnitt in St. Petersburg. Ein schmuckloser Wohnblock neben einer Industriebrache im Süden der Stadt: bröckelnder Putz, lecke Dachrinnen, die Farbe undefinierbar. In Haus Nr. 3 wohnte Wera Titanowa, aber das ist fast 60 Jahre her. Niemand mehr in der kleinen Straße erinnert sich an die Familie, niemand kennt die grausige Geschichte, die sich um ihren Namen rankt. Wera Titanowa hat kaum Spuren hinterlassen. Doch es gibt noch ihren Ausweis. Vom Passfoto blickt ein offenes Mädchengesicht: die blonden Haare gescheitelt, der Blick freundlich. Die schmale Akte dazu besagt, dass Wera »parteilos« war, »ohne Beschäftigung« - und eine Mörderin. Wera Alexandrowna Titanowa war gerade 18, da brachte sie in Haus Nr. 3 ihr Neugeborenes um. »Gemeinsam mit ihrer Mutter J. W. Kusmina«, so besagt der dürre Vorgang, habe die Titanowa ihre Tochter im Waschbecken ertränkt. Beide hätten dann den Körper zerteilt und das Fleisch verzehrt. Das war am 21. Januar 1942. Der zweite Eintrag bezieht sich auf den 15. Februar. An jenem Tag, so fährt der Schreiber in lakonischem Amtsrussisch fort, habe die Titanowa mit der Kusmina die Leiche der sechsjährigen Julija Krassulnikowa entführt. Das kleine Mädchen wurde zerhackt, das Fleisch gar gekocht und anschließend verspeist. Das Leningrader Militärtribunal verurteilte Wera Titanowa am 3. März zum Tode, kurz darauf wurde sie erschossen. Ihre Mutter war schon vorher tot - verhungert. Das ist alles, was die Akte 00327 über das Schicksal der Familie verrät. Welch menschliches Drama sich hinter den Mauern von Nr. 3 abgespielt haben mag - man erfährt es nicht. Es war Winter 1942, Krieg und keine Zeit für aufwendige psychologische Expertisen. St. Petersburg hieß noch Leningrad und war eine von den Deutschen eingeschlossene Stadt. Im September 1941 hatte sich der Ring der Wehrmacht wie eine eiserne Klammer um die Millionenstadt gelegt. Sie einzunehmen war Hitler zu aufwendig und zu riskant. Er zog es vor, die Stadt auszuhungern. Bald hatten die Deutschen fast alle Nervenstränge ins Hinterland gekappt. »Das Herz Leningrads ist stehen geblieben«, schreibt der Leningrader Theaterregisseur Alexander Dymow am 21. Januar 1942 in sein Tagebuch: »Alle Gliedmaßen sind erkaltet, erstarrt, reglos. Kein Licht brennt, Busse und Straßenbahnen fahren nicht mehr, Betriebe arbeiten nicht, es gibt keine Kino- und Theatervorstellungen. In den leeren Geschäften, wo die Fenster seit dem Herbst mit Brettern vernagelt sind, herrscht pechschwarze Dunkelheit.« Vor allem aber herrscht Hunger. Längst hat sich die Gedankenwelt der über zwei Millionen Eingeschlossenen auf bloße physiologische Vorgänge verengt: Essen, Wärme, Schlafen. Dymow macht seine Notiz genau an jenem Tag, an dem Wera Titanowa ihr Kind umbringt. Aus Hunger. Allein in jenem Januar sterben 96 751 Leningrader - an »Istoschtschenije«, wie auf den Totenzetteln steht: Auszehrung. Das entspricht der Einwohnerschaft einer größeren Stadt. Sie fallen beim Aufstehen um, mitten auf der Straße oder wenn sie nach Lebensmitteln Schlange stehen. Etwa eine Million Menschen wird der Hunger hinwegraffen, bis die Blockade am 27. Januar 1944 zu Ende ist. Dass die Newa-Stadt 872 Tage dem Angreifer widerstand, wurde später propagandistisch von der sowjetischen Führung weidlich ausgenutzt und zum Heldenepos überhöht. Niemand erfuhr, wie sehr das Schicksal Leningrads auf der Kippe stand. Erst jetzt, 56 Jahre nach Kriegsende, gab Russlands Führung jene Dokumente frei, die Stalins Geheimpolizei NKWD während der Blockadezeit gesammelt hat. Sie zeigen die andere Seite der verzweifelt kämpfenden Stadt: die unzähligen Fälle von Raub und Plünderung, von Mord und Kannibalismus - Themen, die bislang tabu gewesen sind. Zehntausende von Seiten liegen in den Spezialarchiven: maschinegeschrieben oder mit gestochener Handschrift bedeckt, ergänzt durch verschwommene Schwarzweißfotos der Delinquenten und üppiges Beweismaterial. Zwischen den graubraunen Aktendeckeln mit den Vermerken »sowerschenno sekretno« (Streng geheim) und »chranit wetschno« (Für immer aufbewahren) ist unvorstellbares menschliches Elend angehäuft. Es sei eine Zeit »der Polarisierung« gewesen, hatte der Leningrader Schriftsteller Daniil Granin bereits 1981 in seinem »Blockadebuch« die Schattenseiten jener Jahre angedeutet: »Das Gute trat in all seiner Schönheit hervor, das Schlechte in all seiner Hässlichkeit.« Gesprochen wurde ein halbes Jahrhundert lang nur über das Gute: den heldenhaften Widerstand. Die städtische Filiale der Geheimpolizei NKWD aber, landesweit als besonders hartnäckig und schonungslos verrufen, hatte von Anfang an auch die andere Seite genau im Blick. Die Tschekisten nahmen »5000 Verbrecher« fest und erschossen mindestens »1160 Verräter«, heißt es in einer Ausstel- lung, die das Blockademuseum den »Kämpfern der NKWD-Organe« gewidmet hat. Die Akten verraten, dass die Erschießungskommandos weitaus eifriger gewesen sind. Dass der Hunger mit brutaler Macht die Heimatfront der Leningrader zu zermürben begann, erkannte das NKWD sehr früh. Akribisch sichteten die Zensoren der Geheimpolizei deswegen jeden Brief an die Front, um auch die kleinste defätistische Äußerung »antisowjetischer Elemente« herauszufiltern und zu bestrafen. »Leningrad ist zur Todesstadt geworden, zum Leichenschauhaus. In jedem Keller, in den Krankenhäusern, auf den Straßen - stapelweise Tote«, zitiert die NKWDFührung im Bericht Nr. 10042 vom 12. Januar 1942 einen der Briefschreiber: »24 Jahre hat niemand Vorräte angelegt ... Kein einziges Land hat so wenig an sein Volk gedacht wie die Sowjetmacht.« »Die Obrigkeit speist reichlich und muss nicht Schlange stehen«, denunzierte ein Spitzel die Arbeiterin Frolowa aus dem Werk »Der rote Wyborger«. Als die Minimal-Brotration auf 125 Gramm täglich gesunken ist, macht sich sogar öffentlicher Unmut breit. »Geben Sie uns Brot«, erregten sich Arbeiter des Leningrader Werks »Proletarischer Sieg« in einem Appell, »sonst rufen wir zum Streik. Dann werden Sie erfahren, was es heißt, Arbeiter mit Hunger zu quälen.« Auf eine Belagerung war Leningrad so wenig vorbereitet wie das gesamte Land auf einen Verteidigungskrieg. Bereits zwei Monate nach Einschluss der Stadt brach die Versorgung zusammen, Nachschub kam bestenfalls noch über den zugefrorenen Ladoga-See. Eine Massen-Evakuierung durch dieses Schlupfloch blieb aus. Der Hunger trieb die Leute Tag für Tag zu den Läden, zu Tausenden standen sie in bitterer Kälte von vier Uhr morgens bis 21 Uhr am Abend an. Meist umsonst: Die Lieferungen reichten nicht einmal, um die spärlichen Lebensmittelkarten einzulösen. Im Kampf ums nackte Überleben bröckelte der menschliche Anstand. Stumpfe, kalte Gleichgültigkeit machte sich breit. »Mutter und Ira sind um mich. Ich sehe, dass sie mit mir teilen, und ich Schweinehund klaue ihnen heimlich das letzte bisschen«, beschreibt der Leningrader Schüler Jura Rjabinkin im später aufgefundenen Tagebuch seine Gewissensnöte: »Welchen Punkt müssen sie erreicht haben, wenn Mutter mir gestern mit Tränen in den Augen sagte, sie wünschte aufrichtig, ich würde an den 10 bis 15 Gramm Brot ersticken, die ich ihr und Ira gestohlen hatte.« Stufe für Stufe ging es hinab. Es gab die ersten Überfälle auf Brottransporte und Lebensmittelgeschäfte. Das NKWD tat diese Meldungen als Entgleisungen »asozialer Elemente« ab - wie den Fall eines von der Leningrader Front desertierten Soldaten: Der 22-Jährige hatte nachts ein Lebensmittelgeschäft im Wyborger Stadtbezirk überfallen, das Feuer auf die Wachen eröffnet und anschließend zwei Polizisten niedergestreckt. Lebensmittelkarten wurden in großem Stil im Untergrund produziert. Vier Hefter ist die Untersuchungsakte 3880 »Bogdanow, P. F. und andere« dick. Der 40-Jährige hatte gemeinsam mit seiner Frau und 13 Bekannten 97 Brot- und 95 Fleischkarten gefälscht. Allein Bogdanow habe sich dadurch in zwei Monaten 32 Kilogramm Brot, acht Kilo Graupen und sechs Kilo Zucker erschlichen, resümiert das NKWD. Die Geheimpolizei fackelte nicht: Drei der Männer wurden erschossen, die anderen Täter zehn Jahre ins Lager geschickt. Dort haben sie auch nur wenige Monate überlebt. Dann häuften sich die Mordfälle. Die Täter bewegte anfangs ein einziges Motiv: an die Lebensmittelkarten der Opfer heranzukommen. Sie erschlugen ihre Mütter, ihre Geschwister, die Großeltern. Von hier bis zur absoluten Verrohung war es kein großer Schritt. Es begann, was offenbar selbst hartgesottenen Tschekisten zu schaffen machte. In »Sondermitteilungen« an den sowjetischen Geheimdienstchef »Genossen Berija« listen sie seit Spätherbst 1941 die ersten Fälle von »Ljudojedstwo« auf - Menschenfresserei. Bedrückende Hinweise darauf gab es schon vorher. Noch als die Straßenbahn fuhr, hatte die Polizei in einem Waggon einen Sack mit Leichenteilen sichergestellt: menschliche Knochen und einen verkohlten Kopf. Gutachten ließen keinen Zweifel: Herz, Leber und Lungen waren herausgeschnitten, die Knochen ausgekocht worden. Wann und warum ein Mensch auch noch die letzten Grenzen seiner Würde überschreitet, wie vorher in der Ukraine während der Zwangskollektivierung 1929/33 (etwa fünf Millionen Hungertote) oder nachher unter verhungernden Deutschen in Königsberg - das geht aus den Papieren der Geheimpolizei meist nicht hervor. Aber Igor Wladimirowitsch Schewtschenko hat es versucht zu erklären. Der Fall des 17-Jährigen wird am 29. Dezember 1941 vor dem Leningrader Militärtribunal verhandelt. In Punkt 18 der Akte ("Ich erkenne die Beschuldigung an und erkläre dazu folgendes:") schildert der Junge, was sich elf Tage vorher abgespielt hat. Igors Vater, einen Musiker, hatte das NKWD im Juni verhaftet und in ein Lager geschafft. Warum, wusste der Junge nicht; Hunderttausende landeten in jener Zeit wegen irgendwelcher fabrizierter Vorwürfe im Gulag. Verzweifelt suchte die Mutter ihren Mann überall im Land. Igor blieb allein in Leningrad zurück, um die Wohnung zu bewachen. Als die Blockade begann, bekam er die Lebensmittelkarte eines »Nichtwerktätigen«, die schlechteste, die es gab - kein Fett, kein Fleisch. Der Hunger trieb ihn auf Hunde- und Katzenjagd. Doch Anfang Dezember passierte eine Katastrophe, die in jenen Tagen normalerweise unweigerlich den Tod nach sich zog: Der Junge verlor seine Lebensmittelkarte - das hieß, nicht einmal mehr etwas Brot, ein paar Kartoffeln oder Rüben: »Am 18. Dezember morgens lief ich ins Dorf Piskarjowa, in der Hoffnung, wenigstens noch eine Katze zu finden. Aber es gab keine mehr. Auf dem Rückweg kam ich am Friedhof vorbei. Dort lag eine männliche Leiche ohne Sarg.« Auf diesen Friedhof wurden insgesamt 470000 Hungertote gebracht und in Massengräbern beigesetzt, bis heute Denkmal eines Holocaust, unter dem Sinnspruch »Niemand ist vergessen, und nichts ist vergessen«. Igors Leichenfund blieb bis heute vergessen: »Ich packte den Mann auf den Schlitten, brachte ihn in meine Wohnung und bereitete ihn zum Essen vor. Zuerst trennte ich den Kopf ab, dann die linke Hand. Schließlich zerlegte ich den restlichen Körper, um ihn in einer Kiste zu verstecken. Einen Teil der Schulter habe ich gebraten. Ich hätte alles aufgegessen, auch auf die Stiefel hatte ich mich gefreut. Doch dann kam die Polizei, Nachbarn hatten etwas bemerkt.« Igor Schewtschenko fand keine Gnade vor seinen Richtern. Auch er wurde erschossen. Schier unglaubliche Tragödien schimmern durch die nüchternen Eintragungen der Geheimpolizei hindurch: ‣ die einer Soldatenfrau, 29, welche ihre jüngste Tochter erwürgte, um wenigstens ihre anderen drei Kinder satt zu bekommen; ‣ die der Familie A. aus der Objesd- Straße, deren Tochter im Dezember 1941 mindestens drei Menschen von der Straße in die Wohnung lockte, wo Vater und Mutter die Besucher erschlugen und zerstückelten; ‣ die der Mädchen Anastassija und Serafima, welche ihre jüngste Schwester umbrachten und deren Fleisch verspeisten; ‣ die der Witwe W., 69, die mit dem Messer ihre Enkelin erstach und durch den Fleischwolf drehte - gemeinsam mit Mutter und Bruder der Ermordeten; oder ‣ die jener zehn Frauen, welche am 20. Januar 1942 im Dorf Pargolowo ein Fuhrwerk mit Leichen überfielen und das Fleisch der Toten an Ort und Stelle aufteilten - Herz, Leber, Lungen, Muskeln. Rund 2000 Fälle von Kannibalismus sind in den Akten des Geheimdienstes dokumentiert; das sind nur die nachgewiesenen. Dazu Abertausende Fälle von Lebensmittelraub und Spekulantentum. Stolz meldeten die Organe des NKWD nach Moskau, sie hätten allein in den ersten neun Kriegsmonaten 28,8 Kilogramm Gold eingezogen, 19 500 Rubel goldene Zarenmünzen, 870 Golduhren, 1260 Brillanten und über 5 Millionen Rubel in bar. Die Funde stammten aus jener begüterten Schicht von Leningradern, welche an der Notlage ihrer Mitbürger verdiente. Es traf aber auch die Tschekisten selbst. NKWD-Mitarbeiter Polikarp Ossipow, 37, wurde im Spätsommer 1941 zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er habe Abteilungskommandeur Rybkin mit der Faust ins Gesicht geschlagen und dabei seine »Unzufriedenheit mit der Nationalitätenpolitik der sowjetischen Regierung« geäußert, vermerkt der Ermittler sibyllinisch. Bei genauerem Studium wird klar: Ossipow hatte seinen Vorgesetzten als Juden beschimpft. Nie wucherte der Antisemitismus in Leningrad so wie zur Blockadezeit. In jeder Käuferschlange, berichteten die Spitzel täglich, würden die Parteiführer als Volksverräter beschimpft: Sie seien die Einzigen, die trotz der Notlage gut genährt und anständig gekleidet seien. Viele der Sowjetfunktionäre aber waren Juden. Ein Tschekist war auch dabei, als die Polizei am 16. Januar 1942 eine vierköpfi- ge Bande »noch am Ort des Verbrechens« festnahm. Drei Männer und eine Frau hatten bei einem »organisierten Überfall« auf einen Lebensmitteltransport in der Ligowsker Straße 59 Kilogramm Brot erbeutet. Zu den Verhafteten gehörte der NKWDInspekteur Boris Nikolajewitsch Bogdanow, 31. Zwei der Männer bekamen als Strafe zehn Jahre Haft. Die Frau wurde zum Tod durch Erschießen verurteilt. Hinter dem Namen des NKWD-Mannes aber steht: »Freigesprochen«. Christian Neef Es gibt weiß Gott schönere Museen, wichtigere, kunstvollere. Aber wer erfahren will, wie Zentralasiens Zukunft aussehen könnte, muss hierher kommen. In das neue Tamerlan-Museum von Taschkent, gleich hinter der Tamerlan-Statue, nicht weit vom Tamerlan-Park. Der eindrucksvolle Bau mit seiner strahlend blauen, gerippten Kuppel wirkt beim ersten Anblick wie eine der historischen Prunkmoscheen, für die Usbekistan berühmt ist. Der Effekt scheint gewollt, denn gepriesen werden im Gebäude-Inneren mit großflächigen Gemälden zwei Figuren von offenbar gottgleicher, mindestens aber weltgeschichtlicher Statur: Der eine ist Tamerlan, auch Bozorg Amir ("Großer Führer") genannt. Der angebliche Nachfahre Dschingis Khans aus einem Adelsgeschlecht in Samarkand zog im 14. Jahrhundert mit seinen Reiterhorden alles niederbrennend und Muslime wie Christen folternd vom Kaukasus bis über den Hindukusch. Er zerstörte rücksichtslos die Stammesstrukturen, zwang brutal alle Clanfürsten hinter die zentrale Autorität eines Riesenreichs, das von Moskau bis Delhi reichte. Der andere ist Islam Karimow, 63, Präsident des heutigen Usbekistan - der Mann, der Taschkents jüngstes Museum erfunden und eingeweiht hat. Strenge Gesichtszüge, feurige Augen, Entschlusskraft in jedem Muskel: Idealisierte Karimow- Porträts wetteifern mit Tamerlan-Gemälden, bis die Botschaft auch dem letzten begriffsstutzigen Besucher eingehämmert ist - seht her, hier hat sich einer den Mantel des Über-Führers angezogen. Seht her, hier ist ein Politiker, der Zentralasien zurück zur alten Blüte bringen, wieder vereinen könnte, und wenn nötig mit aller Härte. Der Tamerlan des 21. Jahrhunderts. Wenig spricht allerdings dafür, dass sich die Staaten zwischen Kaukasus und Pamir unter das Joch eines neuen Khans begeben könnten. Schon die Briten und Russen haben sich Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts bei ihrem »Großen Spiel« die Zähne an dieser Region ausgebissen. Zentralasien hat es seinen Möchtegerneroberern, seinen Brautwerbern auch später nie leicht gemacht. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind vor gut einem Jahrzehnt um das Kaspische Meer herum und weiter östlich Richtung China acht neue Staaten entstanden. Sie haben trotz großer Wirtschaftsprobleme ihre Unabhängigkeit mit allen Mitteln verteidigt, versuchten, bei Nachschubwegen für Erdöl und Erdgas sowie der Errichtung von Militärstützpunkten begehrliche Amerikaner gegen Russen auszuspielen - mit eher mäßigem Erfolg, denn die wahre Weltpolitik spielte lange anderswo. Doch dann kam der 11. September, die Anti-Terror-Allianz, die Strafexpedition im angrenzenden Afghanistan. Der amerikanische Krieg, der die Taliban aus den Schaltzentralen der Macht vertrieb, hat jetzt zwischen Kaspisee und Hindukusch veränderte Verhältnisse geschaffen, neue Sieger und Verlierer. Usbekistan ist Krisengewinner Nummer eins. Amerikaner, Russen und Chinesen umgarnen den Möchtegern-Tamerlan in Taschkent. US-Außenminister Colin Powell nannte Karimow bei seinem Besuch Anfang Dezember »sehr wichtig« und lud ihn nach Washington ein. Der mit 25 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste zentralasiatische Staat hat alle Chancen, zur neuen Regionalmacht aufzusteigen - auf Kosten seines flächengrößeren Nachbarn Kasachstan. Leider wohl auch auf Kosten seiner eigenen Bürger. In Karschi, am Schnittpunkt der alten Seidenstraße zwischen der Kysylkum- und der Karakum-Wüste, trauen die usbekischen Bauern immer noch nicht ihren Augen und Ohren. Und doch sind die seit einigen Wochen frühmorgendlich - und vor allem nächtlich - startenden amerikanischen Chinook-Hubschrauber und Frachtmaschinen keine Fata Morgana. Die USA haben die Basis Chanabad nahe Karschi für Operationen in Afghanistan belegt, Start- und Landebahnen von 3500 Meter Länge, mitsamt den riesigen unterirdischen Hangars. Ein riesiges Areal - Chanabad war einst der zweitgrößte Militärflughafen der Sowjetunion. Aber es geht nicht nur um die Stationierung von etwa 2000 amerikanischen Soldaten, um Überflugrechte, um die Nutzung von Militärinstallationen. Karimow kontrolliert die »Freundschaftsbrücke« über den Amu-Darja und damit eine der wichtigsten Verkehrsadern nach Afghanistan. Im Dezember 1979 sind hier Moskaus Panzer Richtung Kabul gerollt; gut neun Jahre und 15 000 sowjetische Tote später marschierte als Letzter der geschlagenen und gedemütigten Truppe Afghanistan-Befehlshaber Gromow die Brücke zurück, erwartet von seinem Sohn mit einer Rose in der Hand. Und noch etwas macht Präsident Karimow für den Westen heute besonders wichtig: Er kennt den brutalen, unberechenbaren und jetzt wieder so mächtigen Afghanen-General Raschid Dostam gut. Der ist ethnisch ein Usbeke, hat gegen die Taliban gekämpft und gesiegt, aber schon zu erkennen gegeben, dass er sich einer Zentralregierung in Kabul nicht unterstellen wird. Oder nur zu seinen Bedingungen, mit einem autonomen Status für sein Stammesgebiet um Masar-i-Scharif und den Rechten auf alle Bodenschätze: ein Karimow-Bruder im Geiste. Kaum ein Staat wird derzeit so umworben und verhätschelt wie Usbekistan. Taschkent soll jetzt neben den üppigen »Gebühren« für die Basis auch amerikanische Wirtschaftshilfe in Höhe von Hunderten Millionen US-Dollar erhalten nebst umfangreicher Unterstützung zur Aufrüstung seiner Streitkräfte. Die USA strichen Usbekistan im Oktober ohne Begründung von ihrer Liste der Länder, in denen die freie Religionsausübung bedroht ist. Plötzlich spielt keine Rolle mehr, was europäische Politiker wie Joschka Fischer, aber auch Amerikaner noch vor Jahresfrist anprangerten: Dass Karimow die Menschenrechte in seinem Land mit Füßen tritt; dass er auch gemäßigte Islam-Parteien und die Medien unterdrückt; dass er manchmal sogar die Getreideernte von seinen korrupten Ministern beschlagnahmen und sein Volk darben lässt. Der Aufstieg des Herrn K. ist eine Apparatschik- Karriere wie aus dem Bilderbuch. Karimow studierte Maschinenbau und trat als Mittzwanziger in die KP ein; er besuchte Fortbildungskurse für Funktionäre. Stieg zu Sowjetzeiten bis in die Schaltzentralen der Macht auf, ins Moskauer Politbüro. Unterstützte die Putschisten gegen Michail Gorbatschow. Als es opportun erschien aber wandelte er sich - vom überzeugten Internationalisten zum glühenden Nationalisten, vom Atheisten zum Mekka-Pilger. Bei Wahlen im seit 1991 unabhängigen Usbekistan stieg Karimows Stimmanteil von zunächst 86 Prozent auf (im Januar 2000) 91,9 Prozent. Verantwortlich dafür war vor allem das Verbot aller aussichtsreichen Oppositionsgruppierungen. Denn Erfolge für seine Usbeken hat Karimow wenige aufzuweisen: Das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung sank im letzten Jahrzehnt deutlich. Neue Museen, getünchte Regierungsgebäude und westliche Hotels wie das »Inter-Continental« oder »Méridien« in der Zwei-Millionen-Stadt Taschkent täuschen allenfalls Touristen, die von hier aus zur alten Seidenstraße mit den architektonischen Perlen Samarkand, Buchara und Chiwa aufbrechen. Mondäne Kneipen wie die »Lucky Strike Bar« oder »Mama''s Fun Pub« mit ihren leicht geschürzten Serviererinnen sind nur für lokale Mafiosi erschwinglich. Das wahre usbekische Elend ist nicht in der nach einem Erdbeben 1966 neu aufgebauten Vorzeige-Hauptstadt zu sehen, sondern auf dem weiten Land. Zum Beispiel am Aralsee, einer ökologischen Katastrophenregion von apokalyptischen Ausmaßen. Die Sowjets haben dieses Desaster für Mensch und Tier zu verantworten - sie leiteten für ihren Wahn ständig neuer Baumwoll-Rekordernten die mächtigen Flüsse Amu-Darja und Syr-Daja um und vergifteten ohne Rücksicht auf ökologische Folgen die Felder mit Tonnen von Düngemitteln. Der Aralsee wurde stranguliert und versandete dramatisch. Staub wirbelt hoch, eine Windhose schüttelt die klapprigen Marktstände von Muinak, das einst eine blühende Fischerstadt war. Gerippe von Kuttern liegen wie aufgebahrt im heißen Sand. Kein Grashalm wächst in der eiterfarbigen Brachlandschaft, ein Geruch von Salz und Pestiziden breitet sich wie ein Leichentuch über die Ödnis. Im Krankenhaus kämpfen einige Ärzte um die Neugeborenen. Kaum eines ist gesund. Selbst die Muttermilch gilt hier als so vergiftet, dass sie den anämischen Kleinen schadet. Ein Vater bringt Melonen, eine Erfrischung. Die Mediziner winken müde ab - auch die sind wahrscheinlich kontaminiert. Mehr als 80 Kilometer hat sich der Aralsee von Muinak zurückgezogen, und jedes Jahr werden es ein paar Kilometer mehr. Fischer wie der verzweifelte alte Utarbay schreiben regelmäßig an den Präsidenten, bitten um Hilfe, um neue Jobs. Oder um Evakuierung aus dem Ort, in dem noch ein paar tausend Menschen dahinvegetieren. Doch Karimow antwortet nicht. Die Hungerleiderprovinz Karakalpakien interessiert ihn kaum. Um den Aralsee herum leben ethnische Minderheiten, denen der Usbekenführer misstraut, die er aber nicht fürchtet. Sie sind zu ausgelaugt, um ihm Ärger zu machen. Erst Ende Oktober hat sich Taschkents Regierung endlich einmal um die Katastrophenregion gekümmert - auf dringenden Wunsch der Amerikaner. Ein Top- Mann aus dem Pentagon unterzeichnete gemeinsam mit einem hohen usbekischen Militär den Vertrag über Wosroschdenije ("Wiedergeburt"), die Insel der vergrabenen Biowaffen. Nirgendwo auf der Welt lagern so viele so hochgefährliche Milzbrandsporen. Das Eiland im Aralsee ist nach neuesten, durch Satellitenaufnahmen belegten Erkenntnissen dabei, sich mit dem Festland zu verbinden. Etliche Herde von Milzbrand wurden in Tierkadavern festgestellt. Nicht auszumalen, wenn Terroristen sich des Teufelzeugs bedienten. Das Anthrax der »Wiedergeburt« gilt als widerstandsfähiger, vernichtender als all die Erreger, die an US-Politiker und Journalisten per Brief verschickt werden und die Amerika in Angst und Schrecken versetzen. Das ist das zweite grausame Vermächtnis der Sowjetunion in Usbekistan neben der Zerstörung des Aralsees: Moskau nutzte die Region jahrzehntelang als Testgelände für seine Bio- und Chemiewaffen. Als die russischen Wissenschaftler und Militärs 1992 hastig die einsame Insel verließen, vergruben sie die Bakterien in Fässern und mischten sie mit Bleichmittel. US-Experten fanden bei Tests vor Ort heraus, dass in sechs von elf dieser »Grabstätten« Milzbrandsporen überlebt haben. Sowjetwissenschaftler, auf diesem Gebiet führend, haben ein »Super-Anthrax« ("New York Times") entwickelt, das impfresistent sein soll und das die Amerikaner jetzt gern in hoch geheimen Versuchsreihen »nachbauen« wollen - in einem Militärlabor in Ohio. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hat im Oktober persönlich das Okay für die umstrittenen Versuche gegeben und sich dabei über rechtliche Probleme hinweggesetzt. Im Pentagon waren viele Experten der Ansicht, dass ein solches Forschungsprojekt die 1972 auch von den USA unterschriebene Biowaffenkonvention verletze. Karimow kassiert gern bei den Amerikanern. Er geht auf Distanz zum großen Bruder in Moskau - aber nie allzu weit, und nur, wenn es ihm gerade opportun erscheint. Noch im Mai war er zu Gast im Kreml und hatte sich beim russischen Präsidenten Wladimir Putin Waffen für die Terroristenbekämpfung besorgt. Gegenseitige Schwüre von ewiger Freundschaft müssen nicht viel bedeuten, auch wenn am 9. Dezember endlich die Freundschaftsbrücke für humanitäre Hilfskonvois Richtung Afghanistan öffnen ließ. Der lange Arm des Usbekenführers scheint sogar bis Mitteleuropa zu reichen: Ende November wurde auf dem Prager Flughafen der usbekische Oppositionspolitiker und Karimow-Intimfeind Mohammed Salih verhaftet und mit der Auslieferung in die Heimat bedroht. Salih genießt seit 1999 offiziell politisches Asyl in Norwegen; er war von »Radio Free Europe« nach Prag eingeladen worden. Erst auf Druck der OSZE kam der Dissident wieder frei. Ein »islamistischer Terrorist« sei Salih, sagen Karimows Leute. »Islamistische Terroristen« werden in Usbekistan in diesen Tage alle genannt, die mit dem Regime nicht einverstanden sind. Der Präsident möchte aufräumen, möglichst alle hinter Schloss und Riegel bringen, die ihm gefährlich werden könnten. Mit seiner repressiven Politik hat er viele Gemäßigte in die Arme der Radikalen getrieben. Wenn sich die Opposition irgendwo formieren könnte, dann im Fergana-Tal. Arabische und persische Eroberer kannten und priesen die Oase seit Urzeiten, den Chinesen gilt sie als Heimat der legendären feurigen »Himmelspferde«. Maulbeer- und Aprikosenbäume, so weit das Auge reicht, Baumwollfelder mit ihren weißen Wattebäuschchen und nirgendwo ein Quadratmeter ungenutztes Land. In dem dicht bevölkerten Tal, 300 Kilometer lang, 150 Kilometer breit, lebt jeder vierte Staatsbürger Usbekistans; von Zäunen und Stacheldraht getrennt, aber auch jeder dritte Tadschike und fast die Hälfte aller Kirgisen. Fergana ist die Region mit den ab- surdesten Staatsgrenzen weltweit - kein Zufall, sondern tödliche Absicht. Die Aufteilung in drei Staaten geht auf ein sowjetisches Diktat zurück: Die Kommunisten wollten jedes Zusammengehörigkeitsgefühl der traditionell separatistischen Oasenbewohner zerschlagen, die Ethnien gegeneinander aufhetzen. Auf dem Markt von Kokand neben dem alten Khan-Palast und der Dschuma-Moschee sitzen Frauen, stolz auf ihre Goldzähne und ihre Tracht, zwischen Bergen von knallroten und himmelblauen Seidenstoffen. Im Minirock wie die Mädchen in Taschkent würde sich hier keine zeigen; einige tragen den Schleier. Doch ganz in eine Burka verhüllen wie die Geschlechtsgenossinnen zu Taliban-Zeiten im nahen Afghanistan muss sich hier keine. »Lebt Namangani noch?«, flüstert eine Alte, als sich die allgegenwärtigen Polizisten gerade einmal wegdrehen. Im überdachten Basar von Margilan rauchen Männer, wettergegerbt und vital wie Werbefiguren für ein Mittel zum ewigen Leben, ihre Pfeifen oder schlürfen Kumys, gegorene Stutenmilch. Auch hier fragt einer hinter vorgehaltener Hand: »Etwas Neues von Namangani?« Nur in Namangan scheint die Frage nach dem berühmt-berüchtigten Sohn der Stadt tabu. Wer hier jemals irgendetwas mit Usbekistans Staatsfeind Nummer eins oder seiner Familie aus dem nahen Dorf Chodscha zu tun hatte, geriet schon genug in die Mangel der Geheimpolizei. Die staatliche usbekische Presse darf nur in Andeutungen über die Amerikaner im Land schreiben, geschweige denn Detailliertes über den Chef der Untergrundorganisation Hisb-i-Islami Turkestan. Und so legt sich ein Mantel des Schweigens über Aufstieg Frauen auf dem Seidenmarkt in Buchara Sehnsucht nach Traditionen und Ende des Geheimnisvollen, der als Dschumabai Chodschijew im Jahre 1969 geboren wurde. Als Jugendlicher war er nicht religiös, sagen seine Brüder. Er spielte Karten und verwettete Geld bei illegalen Hahnenkämpfen. Verändert habe ihn der sowjetische Militäreinsatz in Afghanistan. Er vertiefte sich in einer Madrasse in Koranstudien, ging 1992 in den Untergrund. Er tauchte im tadschikischen Tawildara-Tal wieder auf und später auch bei Mullah Omar in Kandahar. Er sammelte einige hundert Glaubenskrieger um sich und wählte den Kampfnamen Namangani. Sein Ziel: der Sturz des »gottlosen« usbekischen Regimes und dann die Errichtung eines islamistischen Gemeinschaftsstaats »Turkestan«, weit über Usbekistans und Afghanistans Grenzen hinaus - von der Kaspisee bis zu der muslimisch geprägten chinesischen Problem-Region Xinjiang. Namanganis Rebellenarmee entführte und erpresste japanische und deutsche Entwicklungshelfer, verdiente wohl auch am Rauschgiftschmuggel in großem Stil. Am gefährlichsten wurde sie Karimow bei einer Serie von Bombenanschlägen in Taschkent im Februar 1999. Und dann im August 2000, als sie der usbekischen Armee in den Bergen wenige Kilometer von der Hauptstadt entfernt ein Feuergefecht lieferte. Namangani wurde in Abwesenheit zum Tod verurteilt. Die Taliban, lange Zeit Namanganis Förderer, forderten nach den US-Angriffen seine Hilfe an. Er ist dem Ersuchen wohl gefolgt. Mitte November soll er bei Gefechten in Masar-i-Scharif getötet worden sein. Das bestätigte ein Sprecher der Nordallianz; nach anderen Quellen wurde der verwundete Rebellenführer noch in einem Kabuler Krankenhaus behandelt. So geheimnisvoll wie Namangani lebte, endete er auch. Der Mann, von dem kein Foto existiert, soll irgendwo in der afghanischen Loghar-Provinz verscharrt worden sein. Durch diese Nachrichten und die US-Präsenz offensichtlich ermutigt, hat Karimow in den letzten Wochen seinen innenpolitischen Kurs verschärft. »Alle Imame, die in ihren Predigten Armut und Ungerechtigkeit auch nur erwähnt haben, wurden verschleppt«, sagt Michail Ardsinow, einer der wenigen Dissidenten, die noch mit westlichen Medien zu reden wagen. Ob es sich im Fergana- Tal so leicht »aufräumen« lässt, bezweifelt nicht nur er. Die Arbeitslosigkeit im traditionell tiefgläubigen »Kessel des Propheten« liegt bei über 30 Prozent. Die Menschen scharen sich vielleicht auch ohne Namangani um die Rebellen - nicht weil sie einen Religionsstaat à la Taliban wollen, sondern weil sie sonst keine Alternative zu dem repressiven Regime sehen. Optimisten unter den westlichen Beobachtern in Usbekistan hatten gehofft, Karimow werde sein turksprachiges Land nach dem Vorbild der Türkei umgestalten - weniger autoritär, mit demokratischen Strukturen. Jetzt sieht es so aus, als sei »Herr K. größenwahnsinnig« geworden, wie der Diplomat eines EU-Landes formulierte - neues Vorbild eher Turkmenistan. In dem benachbarten, erdgasreichen Staat herrscht mit Saparmurad Nijasow ein Egomane, der sein Reich mit einem absurden Personenkult überzieht, Städte, Plätze, Straßen, Herrendüfte und Wodkamarken nach sich benennen lässt und überall Goldstatuen mit seinem Antlitz errichtet. Deren Sorgen möchten wir haben, stöhnen die Politiker in Tadschikistan und Kirgisien, wenn sie wieder einmal von einem Prestigeprojekt ihrer Nachbarn hören - von Tamerlan-Museen und frisch gedruckten Turkmenbaschi-Geldscheinen, auf denen der jetzt schwarz gefärbte eitle Herrscher denselben zwischenzeitlich ergrauten Herrscher ersetzt. Aber es gibt eben nicht nur Gewinner beim neuen »Great Game«, es gibt auch Spieler mit echten Problemen. Duschanbe heißt Montag, und so wie ihr Name wirkt Tadschikistans Hauptstadt auch: grau und missgestimmt und angespannt, als sei hier niemals Wochenende. In den letzten fünf Monaten vor dem 11. September sind in Tadschikistan vier Spitzenpolitiker ermordet worden - das galt Landeskennern als eine Periode relativer Ruhe. Irgendwo in den Außenbezirken wird auch jetzt wieder geschossen, und keiner weiß genau, wer da wen warum aufs Korn nimmt. Andererseits gibt es nach dem Fall der Taliban im Nachbarland schwache Zeichen der Hoffnung: Restaurantbesitzer in der Innenstadt schenken schon mal nach Einbruch der Dunkelheit Getränke aus, in manchen Lokalen hat man sogar damit begonnen, die Schusslöcher in den Wänden zuzuspachteln. Tadschikistan kämpft permanent ums Überleben. Der kleinste zentralasiatische Staat aus der Konkursmasse der UdSSR ist auch der ärmste. Von den sechs Millionen Staatsbürgern (davon sind fast ein Viertel ethnische Usbeken) leben nach Uno-Schätzungen 85 Prozent unter dem Existenzminimum von zehn US-Dollar monatlich. Heroinschmuggel ist mit Abstand Business- Aktivität Nummer eins, gefolgt von illegalen Waffenschiebereien. Stalins Grenzdiktat hat zur Folge, dass die zweitgrößte Stadt Chudschand mit Duschanbe nur über eine nicht ganzjährig befahrbare Pass-Straße verbunden ist und die Eisenbahnstrecke durch usbekisches Territorium führt - Karimow sperrt sie einfach, wenn er sich über den Nachbarn ärgert. Außerdem schlugen Moskaus Bolschewisten die überwiegend tadschikischen und damit persischsprachigen Seidenstraßenstädte Samarkand und Buchara dem Usbekengebiet zu. Und Tadschikistan haben sie eine 1206 Kilometer lange Grenze mit Afghanistan verschafft. Dort leben, nach massiven Fluchtbewegungen im vergangenen Jahrzehnt, mehr Tadschiken als in ihrem Titularstaat. Der Exodus hatte seine Gründe. Nirgendwo auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR hat die Unabhängigkeit solch blutige Konflikte ausgelöst wie in und um Duschanbe, dem ehemaligen Stalinabad. Mehr als 50000 Menschen ließen in dem Bürgerkrieg von 1992 bis 1997 ihr Leben. Rückständige, korrupte Kommunisten fochten immer neue, grausame Duelle gegen mittelalterliche, islamistische Fanatiker - erst als Moskau mit Truppen eingriff, kehrte eine gespannte Ruhe ein. Und Moskau protegierte auch den Präsidenten, der bis heute herrscht: Emomali Rachmonow, 49, ehemaliger Chef einer Sowchose, ließ sich in wenig freien Wahlen vom Volk bestätigen und schloss eine fragile Koalition auch mit islamistischen Kräften. Nicht alle Probleme in Duschanbe lassen sich auf historische Versäumnisse zurückführen. Rachmonow regiert gelegentlich im Stil eines Diktators. Er ließ im Oktober 2000 ein Militärgericht vier Todesurteile gegen Umstürzler fällen, verweigerte im Oktober 2001 wochenlang mehr als 10 000 auf eine Insel im Grenzfluss Pjandsch geflohenen, hungernden und frierenden Afghanistan-Flüchtlingen die Einreise. Journalisten müssen seinen Zorn besonders fürchten: Wer nicht kritiklos für Rachmonow schreibt, riskiert, als »Terrorist« abgestempelt zu werden. Schon 62 Journalisten sollen in den Jahren seines Regimes umgebracht worden sein. Natürlich versucht der Präsident jetzt von der strategischen Bedeutung als Afghanistan- Nachbar zu profitieren. Tadschikistan hat den Amerikanern drei Flugplätze im Land angedient, den Franzosen die Stationierung von »Mirage«-Kampfjets in Kuljab erlaubt. Der Machthaber in Duschanbe ist aber noch viel mehr als sein ihm verhasster Kollege in Taschkent auf den guten Willen der Russen angewiesen. Bei einem Dreiergipfel mit Rachmonow und dem damaligen afghanischen Präsidenten Burhanuddin Rabbani Mitte Oktober in Duschanbe hat Putin Loyalität eingeklagt. Rabbani ist ethnischer Tadschike und gilt anders als seine Volksgruppe, die rund ein Viertel der afghanischen Bevölkerung und ein halbes Dutzend Minister stellt, nicht als Gewinner der neuen Machtverhältnisse in Kabul. Er musste sein Amt abgeben - womöglich nur vorübergehend, denn Rabbani soll sich mit großzügigen Geldgeschenken schon neue Helfer bei kommenden Wahlen in Afghanistan sichern. Dabei dürften auch Drogengelder im Spiel sein. Die Taliban haben die Welt mit Opium überschwemmt und dabei von den Dealern Millionen an »Steuern« und »Transitgeldern« kassiert; im vorletzten Jahr waren sie die Quelle für fast drei Viertel des weltweit im Umlauf befindlichen Heroins. Dann hat Mullah Omar im Juli 2000 ein von seinen Untertanen weitgehend beachtetes Anbauverbot für Schlafmohn ausgesprochen - ob aus Einsicht oder nur aus taktischen Gründen und um seine Lager bei guten Preisen zu räumen, wird wohl immer im Dunkeln bleiben. Doch der Drogenstrom aus der Region ist deshalb nicht versiegt. Nordafghanistan wird mit immer mehr neu angelegten Mohnfeldern zum Zentrum des Opiums - vor allem Badakhshan, die langjährige Machtbasis Rabbanis und die Heimatprovinz der von allen westlichen Führern so geförderten Nordallianz. Uno-Drogenexperte Bernard Frahi schätzt, dass im Jahr 2001 mehr als 80 Prozent des afghanischen Heroins aus Badakhshan kommen - über 150 Tonnen. Es ist ein wildes, karges Land von beunruhigender Schönheit. Im Pamirgebirge jagt der Ursus tibethanus, der riesige Kragenbär, Yaks zotteln übers Hochplateau. Es gibt ein Wildschaf, das nach Marco Polo benannt ist, mit schneckenförmigen Hörnern von fast zwei Meter Länge. Der Pjandsch gräbt sich mit reißenden Wassern sein Tal, trennt zwischen 4000 Meter hohen Bergen die Staaten Afghanistan und Tadschikistan. Doch diese Teilung ist nur Fiktion - es sind dieselben Volksstämme, dieselben Probleme diesseits und jenseits des Flusses. Dass es auf der tadschikischen Seite einen Hauch von Hoffnung gibt, liegt an einem Mann, der in einem Schloss bei Paris lebt, als Mann der High Society gilt und den vielleicht berühmtesten Pferde-Rennstall der Welt sein Eigen nennt: Karim Aga Khan IV. Der 65-Jährige ist der höchste geistliche und weltliche Führer der Ismailiten, einer schiitischen Glaubensrichtung, die im Pamir viele Anhänger hat. Seine karitativen Organisationen leisten in den Gebirgsdörfern vorbildliche Entwicklungsarbeit, unterstützen die Bauern mit Geld wie Saatgut, vor allem aber mit Know-how: Hilfe zur Selbsthilfe. Das militärische Sagen haben die Russen. Sie kontrollieren mit ihren Truppen jeden Grenzabschnitt. Schwer vorstellbar, dass ihnen die Drogenkuriere entgehen, die von der anderen Seite des Flusses übersetzen. Gelegentlich kommt es zu Schießereien, einige Klein-Dealer werden verhaftet; dann wird mit großem Propaganda-Aufwand der »Stoff« verbrannt. Uno-Experten halten das für Show. Sie haben festgestellt, dass der Drogenhandel nach dem 11. September noch zugenommen hat - was den Schluss zulässt, dass hohe russische Militärs ein Auge zudrücken und bei den Geschäften mitverdienen. Das Heroin kommt über den Pamir- Highway in die kirgisische Stadt Osch, von dort wird es nach Westeuropa weitertransportiert. Daneben hat sich eine zweite Schmuggelroute etabliert: vom afghanischen Rostaq über das tadschikische Moskowski Richtung Georgien, Türkei, USA. Die Gewinnmargen sind riesig. Am wenigsten davon haben die Bauern, denen es an attraktiven Anbau-Alternativen fehlt. Die zentralasiatischen Staaten haben wohl nur dann eine Chance auf Fortschritt, wenn sie sich zu einer gemeinsamen Front gegen islamistischen Terror und Drogenanbau zusammenschließen. Wenn sie aufhören, sich gegenseitig auszuspielen und - jeder für sich allein - um die Gunst der »Großen« in Washington und Moskau zu buhlen. Sitzt der Mann für diese Zukunftsmusik ausgerechnet im verschlafenen Kirgisien? Warum das Nomadenvolk der Kirgisen sein Land ausgerechnet »Altin Besik«, die »Goldene Wiege der Menschheit« nennt, wird sein Geheimnis bleiben. Die Hauptstadt Bischkek mit ihren Lenin- Statuen und verträumten Parks wirkt eher peripher und hinterwäldlerisch, selbst für zentralasiatische Verhältnisse. Und doch regiert im Fünfmillionenstaat Kirgisien ein Politiker, der als Einziger in der Region so etwas wie eine Vision hat: Askar Akajew, 57. Er träume von einer »neuen Seidenstraße«, sagt der Diplomphysiker, die China mit Zentralasien verbinde und den Handel bis hin nach Europa erblühen lasse. Im Gespräch mit dem SPIEGEL sagt Kirgisiens Präsident: »Mein wirtschaftspolitisches Vorbild ist Ludwig Erhard, und ich wollte, unsere Beziehungen mit allen Staaten wären so exzellent wie die mit Berlin.« Zu Akajews wichtigsten Beratern gehören deutsche Umweltexperten, deutsche Tourismusfachleute, deutsche Unternehmer - allen voran der frühere VW-Chef Carl Hahn. Lange Zeit galt Kirgisien mit seinen spektakulären Hochgebirgsseen wie dem Issyk-Kul, seinen Tianschan- und Pamir- Gletschern als eine Art asiatische Schweiz, und sein Staatschef fast schon als Musterdemokrat. Das Image hat seit den Wahlen im Jahr 2000 Kratzer abbekommen, Beobachter der OSZE stellten Manipulationen fest und beklagten willkürliche Verhaftungen von Oppositionspolitikern. Der starke Mann Kirgisiens gibt sich sanft und reumütig. »Wir nehmen uns die Kritik zu Herzen«, sagt er und verspricht die Einrichtung eines Amts für Menschenrechtsfragen. »Aber im Vordergrund steht für uns nun mal die Bedrohung durch Terroristen.« Bischkek, was so viel heißt wie »Kochlöffel«, ist seit kurzem ins Zentrum der internationalen Terrorismusbekämpfung gerückt. Hier wurde der Sitz einer besonderen Einheit eingerichtet - erstmals wollen russische und chinesische Fachleute gemeinsam mit Experten und Soldaten aus den zentralasiatischen Staaten gegen islamistische Terroristen vorgehen. Beschlossen wurde die schnelle Eingreiftruppe von 1500 Mann Mitte Juni in Schanghai, wo Präsident Jiang Zemin, Putin und die Zentralasiaten konferierten und sich in Freundschaftsbekundungen zu überbieten suchten. Seitdem ist in der chinesischen wie in der kirgisischen Presse viel von dem besonderen Geist der Vereinbarungen die Rede, von zentralasiatischem Zusammenhalt, von der Förderung der Multipolarität. Richten sich die Vereinbarungen von Schanghai womöglich nicht nur gegen fundamentalistische Terroristen, sondern auch gegen die Solo-Supermacht USA? Akajew hebt beschwörend die Hände. Nein, nein, sagt er, Kirgisien suche nur den wirksamsten Schutz gegen eine gemeinsame Gefahr, arbeite auch zusammen mit den USA - aber eben nur als gleichberechtigter Partner. Mitte Dezember fand dann in Bischkek eine internationale Konferenz zur Bekämpfung des Terrorismus statt, unter der Ägide der Uno und der OSZE, mit 50 teilnehmenden Staaten. Gastgeber Akajew sprach ausführlich von den eigenen, kirgisischen Erfahrungen mit islamistischen Terroristen. Tatsächlich wurde das Land in den letzten drei Jahren jeweils im Sommer über die Pamir-Pässe von Namanganis Terrortrupps angegriffen. Sollten sie auch nach dem Tod ihres Führers aktiv bleiben, droht Kirgisien über das Einfallstor im Fergana-Tal nicht weniger Infiltration als dem Nachbarn Tadschikistan. Bischkek hat länger als seine Nachbarn gezögert, bevor es seinen Flughafen Manas den US-Streitkräften zur Nutzung im Anti- Terror-Kampf freigab. Akajew sicherte sich bei den Russen ab. Gleichzeitig machte er klar, dass er sich auch in Zeiten der Ge- zentralasiatimeinsamkeiten nicht alle Provokationen seines großen Nachbarn Usbekistan gefallen lassen wollte. Das Parlament verabschiedete eine Resolution, nach der Taschkent für sein Eindringen in kirgisischen Luftraum und das Abwerfen von elf Bomben gegen angebliche Terroristen im Jahr 1999 Schadensersatz zahlen soll. Und gegenüber dem SPIEGEL äußerte Akajew unverhohlen seinen Ärger über die Verminung des Grenzgebiets durch die Usbeken. Die Befriedung Afghanistans ist für Kirgisien so wichtig wie für seine Nachbarn. Als Teilnehmer wie als Zaungäste beobachten die zentralasiatischen Herrscher gespannt das »Great Game« der Weltmächte. Und keinem entging die Ironie des Zusammentreffens der beiden großen Spieler aus dem letzten Jahrhundert. In Kabul standen sich vor einigen Wochen ein unangemeldetes Vorauskommando russischer Soldaten und eine Elite-Einheit der Engländer gegenüber - als Kämpfer auf derselben Seite. Oder als Boten kommender Konflikte? Im Großen Spiel um Zentralasien war über Jahrhunderte selten etwas so, wie es auf Anhieb erschien. Spione, Diplomaten, Abenteurer können davon ein Lied singen, wie aus dem Spiel ernst wurde. Wie schnell auf die Vorhut die Kämpfer kamen und mit ihnen die Särge. ENDE Schurkenstück, Gaunerkomödie und viele Elemente einer griechischen Tragödie - eine Story wie gemacht für Hollywood. In den Hauptrollen: islamistische Rebellen, die den Verlockungen des Großkapitals erliegen; gierige Ölmanager, die sich gegenseitig mit allen Tricks ausbooten; skrupellose Politiker, denen Macht über Moral geht. In Nebenrollen: Henry Kissinger, Mullah Omar und Madeleine Albright. Ein Stück in fünf Akten, Arbeitstitel: Pipeline zur Hölle. Erster Akt. Washington wird im Frühjahr 1995 durch neue Aktivitäten des argentinischen Energieunternehmens Bridas aufgeschreckt, das in Turkmenistan Verträge über die Erschließung von Erdgasfeldern abschließt: Pipelines sollen durch Iran führen - und durch Afghanistan bis zur pakistanischen Küste. Eine eilends einberufene Arbeitsgruppe aus Mitgliedern des US-Außenministeriums und der CIA will das verhindern. Es trifft sich gut, dass der kalifornische Multi Unocal mit seinem saudi-arabischen Partner Delta an ein ähnliches Projekt denkt - Washington macht für dieses Vorhaben Druck. Der turkmenische Diktator Nijasow, zu dessen Angestellten der frühere US-Außenminister Alexander Haig gehört, wird nach New York eingeflogen und unterschreibt dort im Oktober 1995 einen Vertrag mit den Amerikanern. Bei der feierlichen Zeremonie anwesend ist ein prominenter Unocal-»Berater": Ex-Außenminister Kissinger. Bridas lässt nicht locker, verklagt Unocal/Delta sogar wegen Einmischung in bestehende Abkommen. Im Februar 1996 unterzeichnet der merkantile Nijasow auch mit den Argentiniern einen Afghanistan-Pipeline-Vertrag. Keinen scheint zu stören, dass im Land am Hindukusch Bürgerkrieg herrscht und dass sich als Sieger der Kämpfe eine islamistische, die Menschenrechte verletzende Gruppierung durchsetzt: die Taliban. Im Gegenteil, die brutalen Koranschüler gelten westlichen Politikern wie Business-Bossen als Hoffnung für »stabile« Verhältnisse, sprich: sichere Pipelines. Westliche Gelder fließen an die Glaubenskrieger, mindestens 15 Millionen Dollar. Pakistans Geheimdienst, bei der Entstehung und dem Erfolg der Taliban-Bewegung instrumental, erweist sich bei der Übergabe der »Hilfsmittel« als extrem nützlich. Zweiter Akt. Am 27. September 1996 fällt Kabul an die Taliban. Unocal-Manager Taggert lässt begeistert verkünden, jetzt werde sich das Projekt leichter verwirklichen lassen. Das Außenministerium in Washington gibt bekannt, die USA würden die Taliban als legitime afghanische Regierung anerkennen. Nach wenigen Stunden werden beide Stellungnahmen zurückgezogen - offensichtlich auf dringenden Wunsch des Weißen Hauses. Doch in Zentralasien hat man die amerikanischen Stimmen registriert und sich seinen Reim gemacht: Teheran wie Moskau sind nun fest davon überzeugt, dass die USA auf eine »Pax Talibana« setzen und Kabul zu einem Außenposten aufbauen wollen. Da sind die anderen, nicht dementierten Stellungnahmen aus den letzten Monaten. US-Außenamtssprecher Davies: »Wir finden nichts Anstößiges an der Absicht der Taliban, islamisches Recht zu verhängen.« US-Senator Hank Brown: »Endlich scheint eine afghanische Gruppierung im Stande, eine stabile Regierung zu bilden.« Der turkmenische Präsident fordert von den neuen Herren in Kabul, das Projekt mit dem amerikanisch-saudi-arabischen Konsortium voranzutreiben. Bei der Unocal in Kalifornien knallen die Champagner-Korken. Aber die argentinische Konkurrenz nutzt ihre guten Beziehungen zu Prinz Turki, dem saudischen Geheimdienstchef. Der antichambriert bei seinen Taliban-Freunden. Im November 1996 steigt eine südamerikanische Fiesta: Kabuls Machthaber und sogar der lokale Warlord Dostam, bekannt für seine Brutalität wie Wendigkeit, geben Bridas den Zuschlag. Dramatischer Auftritt einige Tage später in Kandahar. Pakistans Außenminister beschwört Mullah Omar, die Amerikaner nicht zu verprellen. Der Taliban-Chef erkundigt sich nach der Höhe der Pacht, die Unocal für ihr Wegerecht zu zahlen bereit wären. Als er hört, es handele sich um 100 Millionen US-Dollar, verspricht er immerhin, eine Abordnung in die USA zu schicken. Dritter Akt. Im Februar 1997 reisen zwei Taliban-Delegationen gen Westen, und sie finden sich in der Welt der Ungläubigen überraschend gut zurecht. Die einen lassen sich von Bridas in Argentinien verwöhnen, die anderen von Unocal in den USA. Sie lächeln, hören zu, notieren Beteiligungsangebote. Auf dem Rückweg legen beide Taliban-Gruppen in Saudi-Arabien einen gemeinsamen Zwischenstopp ein und treffen sich mit Geheimdienstchef Turki. Sie besuchen auch Mekka - um sich göttlichen Rat für die Entscheidung zu holen? Im April 1997 veröffentlichen die Taliban jedenfalls eine salomonische Erklärung: Sie wollen mit dem, der zuerst mit den Bauarbeiten beginnt, einen definitiven Vertrag abschließen. Unocal-Präsident Imle zeigt sich »erstaunt« über diese Aussage, man hatte geglaubt, alles sei in trockenen Tüchern. Aber das US-Unternehmen hat verstanden. Es richtet ein Ausbildungszentrum in Afghanistan ein, das Fachleute zum Pipeline-Bau anlernen soll. Außerdem liefert Unocal Faxgeräte und Generatoren an die Taliban-Regierung und schickt einen ihrer Direktoren nach Kandahar. Im Oktober 1997 unterzeichnen Unocal, Pakistan und Turkmenistan ein Abkommen über den Export von Erdgas: 15 Prozent Transitgebühr für die Taliban. Die Neokapitalisten in Kabul aber reagieren empört. Sie finden das Angebot zu niedrig. Bridas kommt wieder ins Spiel. Die große Politik, in Sachen Taliban so lange im Boot mit dem Big Business, beginnt umzudenken, allen voran die neue Außenministerin Albright. Auch amerikanische Frauenrechtsgruppen prangern medienwirksam die unmenschliche Behandlung ihrer Geschlechtsgenossinnen in Afghanistan an. Noch ein Anlauf: Im Herbst 1997 will der Taliban-Industrieminister Ahmed Jan, ein früherer Teppichhändler, mit einer Delegation zu Bridas nach Argentinien fliegen. Pakistanische Behörden weigern sich, die Afghanen über ihr Gebiet ausreisen zu lassen, wenn die Taliban nicht auch Unocal einen Besuch abstatten. So kommt es wieder zu einem Doppelbesuch der Islamisten bei ihren Freunden im Westen. Die Amerikaner führen die Taliban in Supermärkte, in den Zoo von Houston, ins Nasa-Zentrum. Sie sind bei Manager Miller privat zu Gast und bewundern seinen Swimmingpool. Unocal arrangiert ein Treffen mit dem US-Staatssekretär für Südasien; doch die verlangte Anerkennung kann der ihnen nicht versprechen und drängt sogar erstmals auf Verbesserung der Menschenrechtssituation. Ähnliche VIP-Tours bei Bridas. Wieder eine Warteschleife. Vierter Akt. Washington macht Bin Laden für die Attentate auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam (263 Tote) im August 1998 verantwortlich. Die Amerikaner bombardieren Ausbildungslager des Terroristen in Afghanistan. Unocal streicht das Pipeline-Projekt und zieht seine Mitarbeiter aus Kandahar zurück. Auch Bridas will sich nicht mehr engagieren. Eine Gruppe von Menschenrechtsanwälten erwägt eine Anklage gegen Unocal wegen deren Taliban-Nähe und »Förderung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Unocal bezeichnet dies als grotesk. Islamabad aber gibt nicht auf. Bei einem Treffen im April 1999 erklären Pakistan, Turkmenistan und die Taliban, sie suchten neue Sponsoren für das Pipeline-Projekt. Der damalige turkmenische Außenminister Schichmuradow tut sich mit Besuchen bei Mullah Omar in Kandahar hervor. Der letzte Akt des Pipeline-Dramas ist noch nicht geschrieben. Die neue Situation in Afghanistan könnte das Projekt wieder aufleben lassen. Washington zeigt hinter den Kulissen großes Interesse. Und wieder wechseln wichtige Herren die Seiten. Der Turkmene Schichmuradow beispielsweise taucht dieser Tage in Moskau auf und geht nicht mehr zurück in die Heimat. Er möchte jetzt den »primitiven Diktator« von Aschgabad stürzen. Die russische Regierung gewährt dem Dissidenten Zuflucht, während sie selbstverständlich zum Regime Nijasow die guten Beziehungen aufrechterhält. Das Landen mit dem leichten Riesen fällt schwer. Die meisten Testflieger unterschätzen die Trägheit des virtuellen Fluggeräts und rumsen unsanft gegen den imaginären Ankermast. Selbst gelernte Flugzeugpiloten scheitern oft am Simulator der Cargolifter AG. Vorstandschef Carl von Gablenz ist Jurist und rühmt sich eines beachtlichen Feingefühls mit dem Steuerknüppel, an dem er zuweilen spielt: »Sie gleiten wie mit einem Supertanker durch den Luft-Ozean.« Im wirklichen Leben gleitet noch gar nichts. Der »Cargolifter«, eines der abenteuerlichsten Projekte in der Geschichte der Luftfahrt, liegt derzeit mindestens ein Jahr hinter dem ursprünglichen Zeitplan zurück. Erst Ende 2004 soll das erste 260 Meter lange Luftschiff zu Testflügen starten. Bis dahin müssen die Konstrukteure noch gewaltige technische Hürden überwinden. Die Serienfertigung von jährlich vier Cargolifter-Luftschiffen könnte demnach frühestens 2006 beginnen. Nach Vorstellung der Erbauer würde dann eine phantastisch anmutende neue Epoche der Transporttechnik anbrechen: Sperrige, bis zu 160 Tonnen schwere Industriegüter, die sich auf dem Landweg nur mit enormem Aufwand fortbewegen lassen, sollen fortan unter dem Bauch gigantischer Luft-Frachter zu ihrem Zielort schweben. Der Geschäftsplan sieht den Bau von insgesamt 50 Luftschiffen vor, jedes davon mit 550 000 Kubikmeter Helium mehr als doppelt so groß wie die einstige Zeppelin-Legende »Hindenburg«. Sie sollen als globaler Fuhrpark der Cargolifter-Reederei auf allen Kontinenten stationiert werden. Pro Schiff hofft Gablenz - sehr optimistisch - auf einen Jahresumsatz von 22 Millionen Euro. Bevor seine Zahlenspiele aufgehen, stehen noch enorme Investitionen an. Insgesamt rechnet das Unternehmen mit einem Kapitalbedarf von 600 Millionen Euro, ehe das erste Luftschiff einsatzbereit ist. Gut die Hälfte davon ist durch Aktionäre, beteiligte Industriekonzerne und staatliche Förderungen bereits aufgebracht. Mit der übrigen Finanzierung hängt Gablenz noch in der Luft. Derzeit reichen die liquiden Mittel noch drei Monate. Gleichwohl arbeiten bereits über 500 Angestellte an dem Projekt. 107 Meter ragt die Cargolifter-Werft, die größte freitragende Halle der Welt, am Produktionsstandort Brand südwestlich von Berlin empor. Unter dem gewölbten Dach entsteht eine Montagefabrik, die aus einem Phantasie-Szenario aus Gullivers Reisen stammen könnte. 260 Meter misst allein der stählerne Arbeitstisch, auf dem mehrere Hüllenschneidemaschinen mit 1,5 Meter pro Sekunde die angelieferte Kunststoffhaut der Länge nach in passende Streifen schlitzen sollen. Danach werden die einzelnen Stücke von einem Schweißgerät, das einer überdimensionalen Nähmaschine gleicht, zusammengefügt. In dieser Kunststoffhaut steckt das Geheimnis der ganzen Konstruktion: Die Hülle, nur etwa einen Millimeter stark, muss allein als tragende Struktur des größten jemals konstruierten Luftschiffs dienen. Sogar Leitwerke und Motoren sollen an der lokal verstärkten Gummihaut befestigt werden - der fliegende Supertanker folgt dem Bauprinzip eines Schlauchboots. Der hauchdünne Spezialkunststoff hält enormen Zugbelastungen stand. An einem nur fünf Zentimeter breiten Streifen der gewebeverstärkten Membran ließe sich ein 1,6 Tonnen schweres Automobil senkrecht emporheben. Strenge Qualitätskontrollen sollen verhindern, dass ein winziger Materialfehler zur Katastrophe führt. Vor der Verarbeitung wird das angelieferte Hüllenmaterial einer »Warenschau« unterzogen. Die drei Meter breiten Streifen durchlaufen einen Qualitätsprüfstand aus mehreren Walzen, die aussehen wie Bügelmaschinen von Großwäschereien. Die Entwickler des Cargolifters weichen damit in revolutionärer Weise von dem Bauprinzip klassischer Zeppeline ab. Bei den legendären Reise-Luftschiffen der zwanziger und dreißiger Jahre umspannten aufwendige Aluminiumgerippe die Ballone und verliehen dadurch den gewaltigen Flugkörpern die nötige Stabilität. Das Zusatzgewicht durch die Skelette war leicht zu verschmerzen: Die früheren Zeppeline wurden nicht eingesetzt, um schwere Frachten zu transportieren. Ganz anders beim Cargolifter: Mit einer Gitterstruktur um den Ballon oder, wie anfangs geplant, einer langen Kielkonstruktion wäre er einfach zu schwer, um seine Aufgabe als Lastenesel noch erfüllen zu können. In den neuesten Plänen gleicht der Cargolifter deshalb eher einem Prall-Luftschiff: Auch bei diesen »Blimps« dient allein die Hülle als tragende Struktur. Wann immer heute irgendwo am Himmel ein Mini-Luftschiff auftaucht, handelt es sich um eine dieser vergleichsweise billigen Konstruktionen. Doch die bisherigen Blimps, die als Werbeträger oder für lokale Rundflüge eingesetzt werden, sind selten länger als 50 Meter. Kein Vergleich mit dem Cargolifter: Nie zuvor ist ein sich selbst tragendes Luftschiff dieser Größenordnung gebaut worden. Diese Leichtbauweise ohne Rahmen funktioniert nur mit Hilfe zahlreicher technischer Tricks: Interne Riesenluftballons, so genannte Ballonetts, sollen zum Beispiel dafür sorgen, dass die Kunststoffhülle auch bei wechselndem Außendruck immer gleich stramm bleibt. Auf maximaler Flughöhe (2000 Meter) sind die Ballonetts wegen des niedrigen Außenluftdrucks leer; in Bodennähe füllen sie etwa ein Drittel des Gasvolumens aus (siehe Grafik). Die Konstrukteure haben am Computer schon mal simuliert, was passieren würde, wenn sämtliche Ballonett-Gebläse in Bodennähe ausfielen: Wie ein schlaffer Mehlsack (allerdings mit dem dicken Ende nach oben) taumelt ein kaum noch als Luftschiff zu erkennendes Gebilde über den Bildschirm. In dieser Form wäre der Cargolifter zwar nicht mehr manövrierbar, räumen die Entwicklungsingenieure ein. Die Hülle jedoch würde diese Strapaze nach ihren Berechnungen unversehrt überstehen. Solche Szenarien rufen in Erinnerung, dass Luftschiffe schon einmal als Verkehrsmittel scheiterten, weil sie zu fragil waren. Trotz ihrer aufwendigen Aluminiumrahmen wurden die Ur-Zeppeline häufig von rüder Witterung beschädigt oder gar zerstört. Stürme verbogen die dünnen Leichtmetallspanten; Verstrebungen aus Stahlseilen rissen ab. Nach einer der plausibelsten Theorien über die »Hindenburg«-Katastrophe von Lakehurst durchschlug ein solches Spannseil am 6. Mai 1937 eine der hochexplosiven Gaszellen des deutschen Zeppelin-Flaggschiffs. Ein Funke aus einer atmosphärischen Entladung löste dann das Inferno aus. Die »Hindenburg« ging bei der Landung nahe New York in Flammen auf. Die Ära der Friedrichshafener Luftschiff-Reederei war kurz darauf beendet. Beim Cargolifter besteht kein Risiko, dass es zu einer solchen Katastrophe kommt. Sein Traggas Helium kann nicht brennen. Dennoch müssen die Konstrukteure noch einen Berg von Problemen bewältigen. Nach den Plänen der Cargolifter AG soll jedes der produzierten Lasten-Luftschiffe mindestens 15 Jahre lang eingesetzt werden - und diese Zeit möglichst durchgehend im Freien verbringen. Das einzige Gebäude, in das die Luft-Laster passen, ist einstweilen die Produktionshalle bei Berlin. Doch die wird ständig mit Neubauten belegt sein. Die frühere Zeppelin-Reederei hatte in ihrer kurzen Blütezeit lediglich zwei große Reise-Luftschiffe, LZ 127 »Graf Zeppelin« und LZ 129 »Hindenburg«, in Betrieb, dafür aber jede Menge Garagen. An jedem großen Luftschiff-Flugplatz in Deutschland und Amerika stand eine Halle. Die Cargolifter AG hingegen will lediglich Ankermasten aufstellen. An diesen sollen die gigantischen Gasgurken mit der Nase fixiert werden und wie Segeljollen an der Boje schwojend auch heftige Stürme abwettern. Die aktuelle Bauvorschrift »Transport Airship Requirements« verlangt, dass ein Luftschiff Orkanböen von 130 km/h am Mast unbeschädigt übersteht. Der Cargolifter soll sogar noch mehr aushalten können. Die Ingenieure wollen dafür sorgen, dass das Riesen-Luftschiff theoretisch eine »50-Jahres-Böe« von 194 km/h am Mast erträgt - in der Praxis würde die Crew bei solchem Extremunwetter allerdings ohnehin ablegen und das Weite suchen. Schwerer wird die Situation zu beherrschen sein, wenn widrige Winde den Cargolifter nicht in Ruhestellung, sondern beim Be- oder Entladen überraschen; dann kann das Luftschiff nicht so ohne weiteres ablegen. Wenn der Flugkran seine Fracht aufnimmt oder abgibt, muss er etwa zwei Stunden lang in einer sehr kritischen Position verharren: Am Bauch gefesselt, soll der schwebende Koloss seine Position halten und von geschickter Pilotenhand mit der Nase in den Wind gedreht werden. Wer schon einmal Filmaufnahmen von den Landemanövern der klassischen Zeppeline gesehen hat, kann sich kaum vorstellen, wie diese Prozedur glücken soll. Dutzende von Helfern zerrten damals die widerspenstigen Flugzigarren mit brachialer Gewalt an den Ankermast. Punktgenau wie ein Helikopter in der Luft zu verharren war für einen Zeppelin sogar bei annähernder Windstille unmöglich. Ihre Antriebe lieferten nur Schubkraft in Längsrichtung, vorwärts und rückwärts. Dem 12 000 Kilowatt starken Cargolifter soll dieses aeronautische Kunststück nun dank neuartiger Manövriertriebwerke gelingen. Sechs von Gasturbinen angetriebene Propeller mit je sechs Meter Durchmesser können das stehend schwebende Luftschiff in alle Richtungen verschieben. So lässt sich seine Nase stets in den Wind drehen. Die Reisetriebwerke stemmen sich derweil dem Wind entgegen und halten das Schiff während des Ladevorgangs in Position. Am Simulator klappt das Manöver tadellos, allerdings ist das Datenmaterial noch unvollständig. Bestimmte wetterphysikalische Größen, die die Luftschiffbauer für ihre Manövrierprognosen brauchten, sind noch nicht erforscht. »Kein Meteorologe hat bisher untersucht, welche exakten Druckveränderungen in Böen auftreten«, klagt Bernhard Kämpf, flugwissenschaftlicher Leiter bei Cargolifter. Fest steht, dass ein Luftschiff dieser Größe extrem träge auf einfallende Winde reagieren wird - und genauso träge auf die motorischen Gegenmaßnahmen. Der Pilot muss also von Windmessgeräten vorgewarnt werden und bereits gegenhalten, bevor die Böe an der Schiffsbewegung spürbar wird. Erste Erfahrungen mit der Aufnahme und Abgabe von Frachtgut sammeln die Konstrukteure derzeit am »Aircrane": einem Fesselballon mit 61 Meter Durchmesser und 75 Tonnen Ladekapazität. Dieser Vorläufer des späteren Lasten-Luftschiffs soll in knapp einem Jahr als erstes Cargolifter-Produkt kommerziell verwertet werden: auf Baustellen, wo gewöhnliche Kräne schlecht oder gar nicht einsetzbar sind - etwa beim Aufbau von Windkraftanlagen im Meer. Marginale Einnahmen erwirtschaftet einstweilen vor allem die Cargolifter World GmbH: Das Tochterunternehmen vermarktet die gigantische Produktionsanlage als Freizeitpark - mit Filmvorführungen, Besichtigungen der Riesenhalle und Ballonfahrten. Der Erfolg des aeronautischen Disneylands (Eintritt 10 Euro) übertraf bislang alle Erwartungen. Seit der Eröffnung im Juni 2000 kamen über 330 000 Besucher. Verkabelt sitzt die Patientin in dem Behandlungsstuhl. Auf ihrem Kopf trägt die 58-Jährige einen Helm mit kleinen Bildschirmen vor beiden Augen, die Ohren stecken unter dicken Kopfhörern. Einen Augenblick später glaubt die Frau, mit einem Flugzeug abzuheben. Der virtuelle Ausflug spielt sich an der Universität Tübingen ab. Dort hat ein Team um den Psychologen Andreas Mühlberger in mehrjähriger Arbeit ein Gerät gebaut, das eine ungewöhnliche Form der Verhaltenstherapie ermöglicht: Patienten, die unter extremer Flugangst leiden, werden damit auf simulierte Reisen durch die Lüfte geschickt. Unter dem Datenhelm bietet sich ein verblüffend realistisches Bild des Flugzeuginnern. Mitpassagiere lesen gelangweilt Zeitung, vor dem Fenster huschen beim Start Tower und Flughafengebäude vorbei. Ein Bewegungssensor sorgt dafür, dass man sich im Cyberflieger umsehen kann, weil sich das Blickfeld stets den Bewegungen des Kopfes anpasst. Auch die Geräuschkulisse klingt echt: Freundlich-gelangweilt referiert die Stewardess über Sitzgurte und Notausgänge, die Triebwerke rauschen, der Flugkapitän meldet sich per Lautsprecherdurchsage. Ein sich bewegender Sitz macht die Illusion perfekt - bis hin zu Turbulenzen, die den Magen traktieren. So genannte Expositionstherapien, bei denen Angstpatienten gezielt Situationen ausgesetzt werden, die ihnen zu schaffen machen, gibt es schon lange. Ein Verhaltenstherapeut hilft dabei, die Ängste auszuhalten und sie langsam zu verlieren. Doch gerade bei Flugpanik war die Therapie bislang sehr teuer und zeit- aufwendig: Therapeut und Patient mussten mehrere Flüge in echten Flugzeugen absolvieren. »Mit Cyberreisen können wir die Expositionen kurz und schmerzlos machen«, sagt Mediziner Gernot Langs von der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik in Bad Bramstedt. Auch dort werden Flugangstpatienten mit virtuellen Ausflügen behandelt. Vor allem aus Kostengründen sind die Cyberreisen interessant - obwohl die Anschaffungskosten für die Geräte noch immer im fünfstelligen Bereich liegen. Neben der Flugangst behandeln Ärzte und Therapeuten mit der Illusionstechnik mittlerweile auch Menschen, deren Panikattacken durch Spinnen, Tunnel oder Fahrstühle ausgelöst werden. Wolfgang Engelhardt, Vorstandsmitglied der Deutschen Ärztlichen Gesellschaft für Verhaltenstherapie, begrüßt den Einsatz der Cybertechnik: »Virtuelle Welten können Therapien vereinfachen und unterstützen - allerdings müssen die Patienten die Simulation als reale Welt akzeptieren.« Neuerdings vermelden Ärzte sogar bei der Schmerztherapie erstaunliche Erfolge durch den Einsatz der Computerbrillen. Am Harborview Medical Center in Seattle werden Menschen mit schweren Brandverletzungen behandelt, die häufig große Mengen Schmerzmittel einnehmen müssen. Seit einiger Zeit werden vor allem junge Patienten zusätzlich mit einem Ausflug in den Cyberkosmos abgelenkt. »Schmerzhafte Verbandswechsel und physiotherapeutische Übungen lassen sich viel besser ertragen, wenn man nicht an die Schmerzen denkt«, erläutert Psychologe Hunter Hoffman, der die Kunstwelten für die Klinik entworfen hat. Rund 50 Brandpatienten durften bereits Spinnen in einer virtuellen Küche jagen ("Spider World") oder durch eisige Canyons fliegen und mit Schneebällen auf Schneemänner werfen ("Snow World"). Zunächst hatte Hoffman nur mit dem Spinnen-Programm experimentiert, das er ursprünglich für die Behandlung von Phobien entwickelt hatte. Später dachte er sich für Brandopfer zusätzlich die Eiswelt aus: »Bei Verbandswechseln durchleiden Patienten ihre Verbrennungen noch einmal. Wenn sie in der ,Snow World'' herumlaufen, denken sie nicht mehr an das Feuer.« Auch in einer Kinderklinik in Atlanta versuchen Mediziner, ihre kleinen Krebspatienten durch Reisen in Kunstwelten abzulenken. 60 Kinder haben die Ärzte bereits wärend der Chemotherapie in ein virtuelles Gorillagehege geschickt, das ursprünglich für einen Zoo programmiert worden war. Während des Ausflugs nahmen die Krebspatienten schmerzhafte Injektionen kaum noch wahr. Ginge es nach dem Cybertherapie-Pionier Hoffman, könnte die Ablenkung durch die virtuellen Umgebungen schon bald zum Massenprodukt werden. Gerade hat der US-Forscher Fallstudien abgeschlossen, in der sein System bei schmerzhaften Zahnbehandlungen ausprobiert wurde - offenbar mit Erfolg. Auch der Tübinger Mühlberger will mit seiner Cybertherapie gegen Flugangst ganz groß rauskommen. Denn für ängstliche Passagiere, sagt der Psychologe, wäre es sinnvoll, aufsteigende Panik unmittelbar vor dem Abflug zu bekämpfen: »Unser Gerät könnte auf jedem Flughafen stehen.« CHRISTOPH SEIDLER Können 1243 Menschen irren? So viele jedenfalls entschieden im Internet- Versuch der Universität in Saarbrücken, Fachrichtung Psychologie, Abteilung Attraktivitätsforschung, Projekt »Blondinen bevorzugt«, eine der letzten relevanten Forschungsfragen der Menschheit mit »ja": Blondinen wirken dümmer - zumindest, wenn ihre Haare zu sehen sind. Sind die Haare auf einem Foto verdeckt, wirkt die kahle Blondfrau immerhin intelligenter als die kahle Schwarzhaarige, nur wenig dümmlicher als eine Brünette mit Platte und genauso schlau wie eine glatzköpfige Rothaarige. Wird weiter gefragt, ob die haarlosen Testfrauen gut aussehen, schneidet die Blonde schlechter ab als die Brünette. Ist ihr Schopf auch nur im Ansatz zu erkennen, wirkt sie sofort schöner - und wird gleichzeitig als ziemlich temperamentlos und unkreativ eingeschätzt. Die Ergebnisse klingen abstrus und sind doch die Erkenntnisse seriöser Wissenschaft: Anhand von 72 Farbfotos, angewandter Statistik und Kriterien wie »attraktiv«, »sinnlich«, »temperamentvoll«, »naiv«, »zuverlässig«, »kreativ«, »selbstbewusst« untersuchten die Psychologen 14 Wochen lang, wie die Haarfarbe eines Menschen das Urteil anderer über ihn beeinflusst. Ob an der Saar, in Ulm, Kiel oder im schottischen Edinburgh - überall drängen Forscher nach Erkenntnis über Wesen, Wirkung und Beschaffenheit der Blondine: Ist sie cool oder blöd? Lässt sich Bettwäsche mit ihr besser vermarkten als Schokolade? Was will der gemeine Mann von ihr? Wie ist ihre Haut beschaffen? Taugt sie für eine Partnerschaft? Oder stirbt sie gar aus? Anthropologen, Psychologen, Humangenetiker und Dermatologen arbeiten hart daran, den Schleier zu lüften: Dem »Mythos blond« droht die Entzauberung. Dabei ist er gehegt worden wie kaum ein anderer. Dumme Sprüche - » 'ne hübsche Blondine ist wie 'ne hübsche Löwin« - oder Witze - »Was ist eine Blondine mit braun gefärbten Haaren? Künstliche Intelligenz« - konnten ihn so wenig beschädigen wie der dunkle Germanenwahn im 19. und 20. Jahrhundert. Elisabeth Nietzsche, die Schwester Friedrichs, verfrachtete schon 1886 eine kleine Gemeinschaft blonder Siedler für ein eugenisches Experiment in den Dschungel Paraguays. Noch heute heißt der Ort, bevölkert von zahlreichen Blondhaarigen und Blauäugigen, Nueva Germania. Hitler, der seinen Schäferhund »Blondi« rief, trieb die Perversion mit Entbindungsheimen des Vereins Lebensborn, wo Arierkinder aufwuchsen, auf die Spitze. Doch der Mythos, befeuert durch Marlene Dietrich als unnahbare Schöne mit der Haarfarbe von Vanilleeis, überlebte den Zweiten Weltkrieg. Brigitte Bardot bediente ihre Zuschauer in den Sechzigern als Schnurrekätzchen mit Puppenaugen, Alfred Hitchcock besetzte seine Filme mit Blondschöpfen à la Grace Kelly, die, so der Meister, vor allem eine Qualität ausstrahlen mussten: »Im Salon eine Dame, im Taxi eine Hure.« Andy Warhol setzte der blonden Ikone Marilyn Monroe gleich in Serie ein Denkmal. Madonna verkaufte sich in ihrer »Blond Ambition«-Tour 1990 aggressiv als neues Idol einer uralten Haarfarbe, die heute für Kinostoffe ("Natürlich blond") oder Talkshows ("Blond am Sonntag") herhalten muss - und plappernden Gewächsen wie Jenny Elvers fast so viele Fernsehauftritte verschafft wie dem Bundeskanzler. Wer, wie Margaret Thatcher oder Hillary Clinton, Erfolg haben will, wird auf dem Weg nach oben sichtbar, wenn auch künstlich, heller. Denn blond, palavert der Münchner Psychologe, Biologe und Paartherapeut Stephan Lermer, ist das Helle, das Engelhafte, das Reine und die Sonne: »Nur Penner sitzen im Schatten. Im Licht thront der Potentat, inmitten Champagner und fruchtbarem Weizen.« Tatsächlich ist die Geschichte der Blonden die der Götter, Verführer und Gutmenschen: Botticellis Venus, die Männer mordende Loreley oder Eva - als Urmutter der Menschheit garantiert nicht hellhaarig, sondern afrikanisch schwarz - lächeln so blond von den Gemälden, wie die Märchenfrauen vom Schlage Rapunzels oder Aschenputtels ihre Ritter ums Blondhaar wickeln. Böse Hexen tragen schwarze oder rote Ponys; die gute Fee darf, gegeben von Franziska Reichenbacher, als blonde Lichtgestalt sogar die Ziehung der Lottozahlen präsentieren. Warum nur dieses strahlende Image? In Wahrheit liegt es gar nicht an den Haaren selbst, glaubt Lermer herausgefunden zu haben. »Es sind die Pupillen«, so der Psychologe. »Sie wirken bei den eher helläugigen Blonden größer als bei einer dunklen Iris. Sie scheinen Befindlichkeiten und Stimmungen ungetrübt auszudrücken. Insofern wirken Blonde ehrlicher und besser einschätzbar.« Solche Augen, so die Botschaft, können nicht lügen. Hans Wilhelm Jürgens, Anthropologe an der Universität Kiel, findet solche Stereotypen zwar grotesk, doch in seinen Untersuchungen immer wieder bestätigt. »Mir ist völlig unklar, warum blond etwas mit Wahrheit zu tun hat«, sagt er. »In den blauen Augen Blonder stecken auch gar keine blauen, sondern braune, optisch geschickt gebrochene Pigmente.« Blaue Augen, meint der Wissenschaftler, sind »eine permanente Täuschung wie der Blauschimmer eines Öltropfens auf nassem Asphalt«. Seit über 20 Jahren betreut der Professor, der sich früher mit Themen wie »menschliche Rassenmischungen«, »menschliche Typenkunde« und »Asozialität als biologisches und sozialbiologisches Problem« einen umstrittenen Ruf erworben hat, auch Arbeiten über »das Typenbild der Blondine« in der Werbung - und kann biedersinnige Ergebnisse präsentieren: Meister Proper und der General hätten ihren Weg ohne blonde Frauen nie gemacht. »Wird es sinnlich und lustbetont, kommt die Brünette zum Einsatz« , sagt Jürgens, »geht es um Sauber- und Langlebigkeit, ist garantiert eine Blondine im Spiel.« Allerdings taugt nicht jede gleichermaßen als Reinheitsapostolin. Platin- und Silbrigblonde wie Marlene Dietrich und Marilyn Monroe schließt der Anthropologe als Prototypen »größtmöglicher Luderhaftigkeit« ausdrücklich aus. »Gold- und Rotblonde hingegen stehen, auch beim Thema Heirat, für garantierte Qualität.« Rund 260 Zuschriften hat der Wissenschaftler auf zwei fast gleich lautende, in mehreren überregionalen Tageszeitungen geschaltete Annoncen erhalten: »Medizinisch-Technische Assistentin, 26 Jahre alt, sucht passenden Ehepartner«, hieß es da. Es gab nur einen Unterschied: In einer Version suchte eine blonde, blauäugige MTA einen Mann fürs Leben - in der anderen war es eine dunkelhaarige und dunkeläugige. Der Pigmentierungsunterschied zog Verblüffendes nach sich: Mit fast 200 Zuschriften erhielt die Dunkle dreimal so viele Zuschriften voll feuriger Offerten - nur heiraten wollte sie kein Mann. Für Bausparvertrag, Kinderglück und den künftigen Rentnerspaziergang schien die Blonde geeigneter. Die ganz Eifrigen schrieben sogar beiden angeblichen MTA - mit dem jeweiligen Spezialangebot. Natürlich kennen Experten wie Psychologe Lermer einen Grund für solch selektives Paarungsverhalten: Er heißt »Smallman-Syndrome« und besagt, dass sich ein am unteren Rand des Selbstwertgefühls krebsender Mann nur toll fühlen kann, wenn er so etwas Seltenes wie eine blonde Frau dauerhaft an sich bindet. Denn echte Blondinen haben nicht nur Qualität versprechende Pupillen. Sie sind auch noch rar. Weil die helle Haarfarbe rezessiv vererbt wird, müssen in der Regel Vater und Mutter blond sein, um auch hellhaarige Kinder zu bekommen. Trifft ein Blonder auf eine Dunkelhaarige - oder umgekehrt -, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass der Nachwuchs dunkles Haar trägt. Die genetische Bestimmung für blond kommt sozusagen nicht zum Zug. Rein rechnerisch, so der Ulmer Anthropologe Friedrich Rösing, werde der Phänotyp der Dunkelhaarigen den der Hellhaarigen immer mehr zurückdrängen - auch, weil die Hellhaarigen im Norden Europas auf Grund von Zuzug und Einwanderung immer weniger isoliert lebten. Nach einer Studie des Kosmetikkonzerns Wella ist der Anteil der Hellblonden in den vergangenen 20 Jahren tatsächlich schon stark zurückgegangen. Doch wie viele »Deerns« an der Waterkant in 1000 Jahren noch geboren werden, wagt Rösing nicht zu sagen: »Wir können keine seriösen Modellrechnungen anstellen. Wir wissen ja nicht, wie sich etwa das Heiratsverhalten zwischen Türken und Deutschen entwickelt.« Noch rätseln die Genetiker, wie genau die Gene die Farbe der Mähne bestimmen. Immerhin wissen die Forscher, dass ein Zusammenhang zwischen Haarfarbe und Hautbeschaffenheit besteht. Im vergangenen Jahr entdeckten schottische Forscher eine Genmutation, die sie für die blasse, sonnenempfindliche Haut Rothaariger verantwortlich machen. Der Dermatologe Jonathan Rees von der Edinburgh University untersucht nun auch die DNS von hundert Naturblonden. Er will herausfinden, was genau die Haut mancher Blonder so anfällig für intensive UV-Strahlen macht. Lange boten helle Haut und blonde Haare dem Schattengewächs Nordeuropäer einen Selektionsvorteil. Denn sein genetisches Konzept bedeutete eine optimale Anpassung an die sonnenarme Umgebung: Um das lebensnotwendige Vitamin D zu bilden, braucht der Mensch UV-Licht - das schwach pigmentierte Haut besser durchdringt als schwarze. Heute kann, dank Höhensonne, Lebertran und Vitaminzusätzen, auch der dunkelhäutigste Schwarzschopf sich, ohne Vitamin-D-Mangel fürchten zu müssen, unter die Nordlichter mischen. Sollten die Naturblonden tatsächlich irgendwann aussterben, bleibt immer noch ein von zwei Männern entwickelter Zaubersud. 1867 bescherten der Brite E. H. Thiellay und der Franzose Léon Hugo den Damen der Pariser Gesellschaft ihr »Eau de fontaine de jouvence d'or« - Wasserstoffperoxid. Das »Wasser vom goldenen Jungbrunnen«, chemisch nüchtern H2O2, machte mit einem Coiffeurbesuch alle verzweifelten Anstrengungen vergangener Zeiten hinfällig. Seither muss, wer blond sein will, weder wie die alten Ägypterinnen Perücken aus Schafswolle, Pferdehaar und Pflanzenfasern basteln, noch sich wie einst reiche Römerinnen teuren Goldstaub aufs Haar schütten. Inzwischen steht die aggressive Chemikalie für ein gigantisches Täuschungsmanöver: 90 Prozent aller hellhaarigen Frauen in Deutschland haben mit H2O2 nachgeholfen. Ihnen fehlt der richtige Melanin- Mix. Denn jede natürliche Haarfarbe ergibt sich durch eine spezielle Mischung aus dem schwarz-braunen Eumelanin und dem gelb-roten, schwefelhaltigen Phäomelanin. Beide Farbstoffe werden in Zellen der Haarwurzel produziert. Dabei wirkt das Haar umso aschiger, je weniger das gelb-rote Phäomelanin zum Zuge kommt. Naturblond entsteht aus einem schwachen, aber ausgewogenen Cocktail beider Pigmente. Künstlich blondiertes Haar erscheint deshalb heller, weil das Wasserstoffperoxid die Melanine angreift und das Haar sozusagen entfärbt. Auch wenn Haare mit dem Alter immer weißer werden, verlieren sie die Melanine. Ob falsch oder echt: Hat sich der Mann erst einmal mit einer Blondfrau aufgewertet, muss er - so viel weiß Paarspezialist Lermer aus »jahrzehntelanger deskriptiver Psychologie« - sein Päckchen tragen. Die Haarfarbe, und das meint der Forscher tatsächlich ernst, wirke »charakterbildend«. Ihr »Rote-Listen-Dasein« veranlasse Blondinen zu »aufgeblähtem Selbstbewusstsein« und gar, Lermer kann es kaum fassen, Sprüchen wie »Dann geh ich in eine Bar und schäl mir einen Kerl vom Tresen«. Von klein auf als hübsche Minderheit verwöhnt, so Lermer, hätten sie nie Leistungsfähigkeit und soziale Kompetenz entwickeln müssen. »Wer mauerblümchenmäßig brünett aufwächst und übersehen wird, wird eher Professor oder Nobelpreisträger«,meint der Psychologe und hält auch diese These für so seriös, dass er gleich noch hinterherschiebt: »Von zwei weiß bekittelten Frauen auf einem Klinik- flur ist die Brünette Ärztin und die blonde Krankenschwester. Die musste kein Abitur machen - Chefarzt und sozialer Aufstieg sind ihr sowieso sicher.« Wen kann es da noch wundern, dass sich die Natur-Blondine in einer Beziehung als die schwierigere Partnerin entpuppt. Aufbrausend und immer bereit zu leiden, schiebt die Hellhaarige, einmal der rauen Wirklichkeit ausgesetzt, nur noch Frust: »Etwa wenn sie plötzlich erkennt, dass sie genauso an der roten Ampel oder der Kasse anstehen muss«, erklärt Experte Lermer. Als Prinzessin habe sie das Warten einfach nicht gelernt und gelte deshalb oft als zickig. »Menschen«, schließt der Psychologe, »assoziieren nun einmal schrecklich schlicht.« So ist das wohl. Die Frau von heute nimmt, wenn sie sticken will, vorm Bildschirm Platz. Sie tippt auf das Bärchenmotiv, dann sucht sie in den Tiefen der Untermenüs nach passenden Blümchenbuchstaben. Und wenig später stichelt die Nähmaschine das Bärchen mitsamt einem flotten Spruch auf die Baseballkappe. Solche Wunder bewirken die Nähmaschinen der jüngsten Generation. Die teuersten Modelle haben einen großen Farbmonitor; im Laden werden sie oft als »Nähcomputer« verkauft. Sie kosten mehrere tausend Euro. Dafür nähen und sticken sie jegliches Muster mit digitaler Finesse. Vorbei die Zeiten, da das Sticken eine liebe Mühe war, gepflogen an endlosen Winterabenden. Heute genügt es, eine Bärchen-Vorlage per Diskette in den Nähcomputer einzuspeisen, und die Nadel rattert los. Der Mensch schaut zu und wechselt nur ab und zu die Garnrolle. Im Internet diskutieren die Stickmamsellen der Moderne über Dateiformate und Vektorgrafiken. Sie nennen sich traulich »Stickeule« oder »Nadelhexchen«, aber sie gebieten über mächtige Maschinen, die zum Beispiel »Super Galaxie 3000« heißen - das ist das Spitzenmodell der Firma Brother (Kaufpreis rund 4000 Euro). Es zaubert auf Kommando vielerlei Zierstiche, Hohlsäume und rankenreiche Bordüren. Auch Buchstabensortimente stehen den Nadelhexchen zu Gebot. Ganze Liebesbriefe könnten sie am Monitor zusammentippen in elferlei Schrifttypen. Und es gibt einen reichen Fundus von nähfertigen Bildmotiven: Elefanten und Mickymäuse, Obstschalen und Segelschiffe. Dies alles stichelt der Nähcomputer mit beängstigender Schnelligkeit auf jedwedes Textil. Früher waren die Stickerinnen auf das Handstickrähmchen beschränkt, heute dringen sie in die Fläche vor - mit 800 Stichen pro Minute und mehr. Bestickt wird alles, was nicht nadelfest ist: Vorhänge, Nackenrollen, Diskettenhalter aus Stoff. »Es gibt nichts mehr, vor dem wir Halt machen«, sagt Anne Liebler, Hobbyschneiderin aus Stralsund. »Das ist wie ein Virus. Manche Frauen sind regelrecht besessen. Sie müssen die Software an den Rand ihrer Möglichkeiten bringen.« Liebler selbst wirft den Nähcomputer vor allem für ihre vier Kinder an: »Die finden das cool.« In der Schule trumpfen sie auf mit superindividuell bestickten Jeans oder einer Teletubby-Jacke, die es nur einmal gibt auf der Welt. Auch das bloße Nähen geht mit Computerhilfe perfekt vonstatten bis hin zum Knopfloch. Gerade am Knopfloch erkannten die Eingeweihten bislang untrüglich die Heimschneiderei. Nun aber, dank »Knopfloch-Sensormatik«, sehen die Sachen aus wie gekauft, wenn nicht besser. Der Rechner schneidet sogar am Ende automatisch den Faden ab. Früher oder später verfallen die meisten Näherinnen jedoch den Reizen des Kunststickens. Sie können ihre Motive sogar am PC selbst entwerfen. Die Vorlagen speisen sie einfach auf Diskette oder Speicherkarte in die Nähmaschine ein. Selbst aus Fotografien errechnet der Computer nähfertige Stickbilder, die sich aufs Sofakissen nadeln lassen - sei es der Schnappschuss vom geliebten Dobermann oder ein grienender Dieter Bohlen (die fertige Vorlage gibt es gratis im Internet). Das Internet ist ein unerschöpflicher Speicher für Bärchen und Bordüren. Zehntausende von Stickmotiven sind dort frei verfügbar; sie lassen sich in jeden gängigen Nähcomputer laden. Das Weltzentrum der Nadelkunst hat die Amerikanerin Ann Cobb unter www.annthegran.com aufgebaut. Dort wimmelt es von blühenden Buchstaben und schnäbelnden Vöglein, von Schmetterlingen, Elfen und anderem Zierrat. Jüngster Trend: Stickvorlagen mit US-Flaggen und patriotischen Parolen. In diesem Online-Paradies hat Sabine Pothmann aus Grünendeich bei Hamburg viele malerische Blumen abgegrast für den Quilt, an dem sie gerade stickt. Sonst schneidert Pothmann gern Kostüme nach historischen Vorlagen. Im Internet bietet sie eine Kollektion von Prunkkleidern aus dem »Titanic«-Film feil; bis nach Japan, sagt sie, fänden sich Abnehmer. Für die erlesenen Stickereien benutzt Pothmann ihre Nähmaschine als eine Art Textilkopierer: Sie scannt die Bildvorlagen, der Computer übersetzt die Muster in Stichfolgen, und die Nähmaschine überträgt die ganze Pracht mit farbigem Garn auf den Kleiderstoff. Wo so viel Wundertechnik wirkt, können Frauen nicht unter sich bleiben. In den Diskussionsforen drücken sich bereits etliche Männer herum - gern unter dem Vorwand, sie suchten nur Software für die Gattin. Andere steuern beiläufig selbst gemachte Stickmotive bei und sehen zu, wie diese sich über die Damenwelt verbreiten. Und der deutsche Programmierer Uli Tessel wird bewundert für eine Software, die jede beliebige Vorlage in ein Kreuzstichmuster für den Nähcomputer verwandelt. Die ersten Pioniere wagen sich sogar schon selber ans Textil: Almut Bree, Autorin mehrerer Fachbücher zum Computersticken, zählt in den Kursen, die sie gibt, mehr und mehr Männer. Der Bäcker will mit Brot und Ähren die Kittel des Ladenpersonals veredeln, der Schreiner träumt von einer Kreissäge als Logo auf seiner Mütze. »Es kommen aber auch Leute vom Kirchenchor«, sagt Sticklehrerin Bree, »vom Anglerverein, vom Foxterrierverband mit ihren Emblemen.« Die Industrie wittert einen Zukunftsmarkt. In Deutschland werden, trotz gesalzener Preise, schon jedes Jahr mehr als 10 000 computergesteuerte Maschinen verkauft; jeder große Hersteller hat mehrere Modelle im Sortiment. Die Super Galaxie 3000 von Brother führe die Liga an, sagt Almut Bree; aber im kommenden Frühjahr will die Firma Pfaff mit dem neuen Spitzenmodell Creative 2140 gleichziehen. Hojotoho, der Alte hat durchgehalten, steht weiter im Saft, hütet den Hort auf dem Hügel. Der Wagner Wolfgang ist, keine Frage, 2001 der Stand-Man des Jahres. Selbst die Getreuesten unter den Bayreuthianern hatten ihn abgeschrieben, der Ernstfall schien da. Abkömmlinge des genialischen Stamms und sippenfremde Schmarotzer leckten schon Blut, zum Greifen nah schien der Gral. Denkste. Der Komponistenenkel, per Vertrag lebenslänglich an den Hügel gekettet, blieb stur und machte einfach, was seines Amtes ist: Er organisierte Opas Festspiele und versetzte allen Naseweisen einen Stüber: »So toll, finde ich, sieht er auch nicht aus.« Amina Handke, Tochter des Schriftstellers Peter Handke, über die Liebesbeziehung der Schauspielerin Katja Flint zu ihrem Vater »Nun sind wir mit dem 'Quartett' am Ende, und also ziehen wir den Vorhang betroffen zu.« Marcel Reich-Ranickis Schlussworte im letzten »Literarischen Quartett« »Was auch immer er vorher (...) Bedenkenswertes, Streitbares, Kluges und Differenziertes zum Ruhme und zur Verteidigung der Literatur geschrieben haben mag - es kann dem Spektakel eines Fernseh-Berserkers nicht standhalten, der korrumpiert von der eigenen Prominenz zur Gaudi vor aller nicht lesenden Öffentlichkeit Autoren- Reputation gleich reihenweise demoliert.« Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler über ihren Kollegen Marcel Reich-Ranicki »Was da geschehen ist, ist - jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen - das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat.« Der Schauspieler, Autor und Regisseur Michael Herbig, 33, über »Der Schuh des Manitu« - den erfolgreichsten deutschen Film seit 15 Jahren SPIEGEL: Herr Herbig, mit Ihrem Enthüllungsfilm über den Wilden Westen haben Sie sich einen Ehrenplatz in den ewigen Jagdgründen des deutschen Kinos erkämpft. Mehr als zehn Millionen Menschen haben Ihren Film gesehen. Doch die Kritik hat das Kriegsbeil geschwungen und das Werk als niveaulos niedergemacht. Warum bloß? Herbig: Das weiß ich auch nicht. Ich weiß nur, dass diese Form der Kritik in einem freien Land erlaubt sein muss. Vom Erfolg war ich selbst überrascht. Ich hatte gehofft, die 1,3 Millionen Zuschauer von »Erkan und Stefan« zu toppen. SPIEGEL: Ein ähnlich spaßiges Produkt wie Ihr Indianerepos. Kann man in Deutschland nur mit Klamauk Erfolg haben? Herbig: Scheint so. Dieser Trend widerspricht immerhin der Annahme, die Deutschen hätten keinen Humor. Es kann auch sein, dass die Leute gern in Komödien rennen, weil sie denken, die ernsthaften deutschen Filme seien so schlecht. Ich habe für mein Teil keinerlei Anspruch, etwas anderes zu liefern als Unterhaltung pur. Dieses Genre hat genauso seine Berechtigung wie das Drama oder der Dokumentarfilm. SPIEGEL: Nun sind Ihnen »Harry Potter« und »Der Herr der Ringe« auf den Fersen. Macht Ihnen das Sorgen? Herbig: Überhaupt nicht. Irgendwann muss man ja die Kinosäle wieder räumen. SPIEGEL: Schon Pläne, womit Sie triumphal zurückkehren wollen? Bereits der Dichter selbst erkannte, er sei »eine öffentliche Angelegenheit« geworden - jetzt, 200 Jahre nach seiner Geburt am 26. Februar 1802 in Besançon, feiert ihn wieder die ganze Nation. Am ersten Tag nach den Weihnachtsferien, in der ersten Unterrichtsstunde, werden alle französischen Schüler, knapp 12,5 Millionen, von den Erstklässlern bis zu den Abiturienten, gleichzeitig in allen Klassen ausgewählte Texte von Victor Hugo lesen: Auch die laizistische Republik braucht ihre Götter. Die nationale Hommage gilt einem Mann, der bereits 1850 für den freien und obligatorischen Schulunterricht kämpfte, denn »das ist das Recht des Kindes, das heiliger noch ist als das Recht des Vaters und das eins wird mit dem Recht des Staates«. Victor Hugo, das ist eine einzige Übertreibung. Lyriker, Romancier, Dramaturg, Zeichner, Redner, Politiker, Verteidiger des Proletariats, triebhafter Faun, Visionär im täglichen Kontakt mit dem Unendlichen - alles ist wahr, oft bombastisch und pompös, aber immer faszinierend. Heute ist er ein schier unbezwingbarer Gigant - und der geistige Schutzpatron der freiheitsliebenden Nation, die sich in ihm wiedererkennt. Das Jahr 2002 wird das Hugo-Jahr sein, überall, in den Buchhandlungen mit rund hundert Neuerscheinungen und einer frischen Auflage der gesammelten Werke, im Theater, in den Schulen, auf Plakaten und im Internet, in Paris, der Provinz und im Ausland. »In Victor Hugo erblicken wir die Werte, die unsere Republik begründen«, verkündet Kulturministerin Catherine Tasca zum Auftakt. »Hugo hat alles angefasst. Er ist universal«, sagt Bertrand Poirot-Delpech, Mitglied der Académie française und Präsident der nationalen Kommission für die Zweihundertjahrfeier. Der mumifizierte Großvater mit dem weißen Rauschebart, der seit 116 Jahren im Pantheon ruht, soll noch einmal entstaubt und in einen ewig jungen Mann verwandelt werden. In einem landesweiten Wettbewerb werden die französischen Schüler der Oberstufe noch einmal Plädoyers halten für die »großen Kämpfe«, die Victor Hugo im 19. Jahrhundert führte - gegen die Sklaverei, die Todesstrafe, die absolute Gewalt, für die Freiheit der Presse, die Gleichberechtigung der Frau und die Vereinigten Staaten von Europa. Die besten Rhetoren dürfen ihr Talent am 9. März im Halbrund der Nationalversammlung vor einer erlauchten Jury aus Abgeordneten, Rechtsgelehrten, Schriftstellern und Historikern zur Schau stellen. Die Akademien, die Nationalbibliothek, der Senat, die Comédie-Française - alle ehrwürdigen Instanzen und Institutionen beteiligen sich an der Generalmobilmachung für den »Homme-océan« (so der Titel einer Ausstellung), das literarische Genie und den ebenso mutigen wie subversiven Rächer der Verfolgten. Eine solch frenetische Huldigung des Geistes bringt von allen demokratischen Staaten heute wohl nur Frankreich fertig. Das Theater wird die Schlacht zwischen Klassikern und Romantikern um Hugos Drama »Hernani« noch einmal schlagen. In der Comédie-Française, die seit Ende November »Ruy Blas« spielt, flüstern viele Zuschauer im Dunkel der Sitzreihen andächtig die Verse mit. Sie können sie auswendig, das Stück ist neben Corneilles »Le Cid« und Rostands »Cyrano de Bergerac« ein klassen- und altersloser Hit der französischen Bühnen. Nicht zu Unrecht gilt die Education nationale als die größte Macht im Staate. »Alles für alle«, lautete der Wahlspruch Victor Hugos. Er ist eine Totalität, das sagte er selbst: »Die Gesamtheit meines Werks wird eines Tages ein unteilbares Ganzes bilden. Ich mache eine Bibel, nicht eine göttliche Bibel, sondern eine menschliche Bibel. Ein vielfältiges Buch, das ein Jahrhundert zusammenfasst, das ist es, was ich zurücklasse.« Damit ist Hugo der »Sonnenkönig der französischen Literatur« geworden, urteilt sein Biograf Jean-Marc Hovasse. »Niemals ist einem Menschen diese geheimnisvolle Umwandlung so gelungen wie ihm: ein Schicksal in ein Werk zu gießen.« Als er starb, am 22. Mai 1885, notierte der Schriftsteller Edmond de Goncourt, Stifter des berühmten Literaturpreises, in sein Tagebuch: »Hugolâtrie.« In allen Gemeinden Frankreichs wehte die Trikolore auf Halbmast, der Senat, die Abgeordnetenkammer und der Pariser Stadtrat unterbrachen ihre Sitzung. Das Staatsbegräbnis wurde zur Apotheose. Zwei Millionen Menschen waren auf den Straßen, um ihm vom Arc de Triomphe bis zum Pantheon das letzte Geleit zu geben. »Vive Victor Hugo!«, schrie die Menge, wenn der Leichenzug vorbeikam. Die Pariser wohnten nicht einer Bestattung, sondern einer Heiligsprechung bei. Von 11 bis 18.30 Uhr dauerte die Zeremonie, die Menschen stiegen auf die Bäume, auf die Dächer, auf die Schornsteine, um sich von ihrem Nationaldichter zu verabschieden. Ganz im Sinne des Alten artete die Feier, die in Andacht und Kommunion begonnen hatte, spätabends in ein Volksfest, ja in eine Massenorgie aus. Eine Explosion des Lebens im Gefolge des Toten: Jeder Busch wurde zum Liebesnest, die Freudenmädchen boten kostenlos ihre Dienste an. Es war ihre Art, dem Autor des »Satyr« die letzte Ehre zu erweisen. Sein Leben lang griff Hugo gern den Dienstmädchen unter den Rock. Seine brennende, 50 Jahre lang währende Liebe zu der Schauspielerin Juliette Drouet konnte seine stürmische Sexualität nicht bremsen, die sich praktisch bis zu seinem Ende austobte. Die Abenteuer trug er in kodierter Form in seine Notizbücher ein, oft auf Spanisch ("visto y tocado«, »Augustine la segunda vez, Augustine la tercera vez"). Je älter er wurde, um so besessener jagte er einer Lust nach, die ihn nicht losließ und ihn zu großen Unbedachtheiten im Bois de Boulogne verleitete. Der Patriarch musste »den Ofen reinigen«, wie er sich ausdrückte, maßlos in allem: »Ich stecke voller Leidenschaft. Ich liebe, und ich bin ein alter Irrer.« Schon im Juli 1845 hatte die Polizei ihn einmal in flagranti beim Ehebruch erwischt, was seine Karriere und seine offizielle Position als Mitglied der Académie française und »Pair de France« gefährdete. 1841, beim fünften Versuch, als »Unsterblicher« in die Académie aufgenommen, war der Verfasser von »Hernani« und »Notre-Dame de Paris« schon damals, mit 39, der strahlendste Stern am literarischen Firmament. Der hässliche Glöckner Quasimodo ist auch heute noch die bekannteste Hugo-Figur. Aber den entscheidenden Schlag führte er 1862 aus dem Exil auf der englischen Kanalinsel Guernsey, wohin seine Gegnerschaft zu Napoleon III. ("dem Kleinen") ihn verjagt hatte. Die Veröffentlichung von »Les Misérables« in zehn Bänden löste eine ungeheure Schockwelle aus. Die Autorenrechte verkaufte Hugo für 300 000 Francs, eine unglaubliche Summe für die damalige Zeit. Der Erfolg kam augenblicklich, die Leser standen vor den Buchhandlungen Schlange. Die Namen seiner Helden Cosette und Gavroche wurden alsbald im ganzen Volk ein Begriff. »Niemals«, rühmte sich Hugo, »ist eine größere Hydra aus einem Abgrund aufgestiegen. Dante hat die Hölle der Unterwelt beschrieben, ich habe mich bemüht, die Hölle der Oberwelt darzustellen. Er hat die Verdammten geschildert, ich die Menschen.« Das Werk machte Hugo, der als Royalist und Verteidiger der legitimierten Ordnung gestartet war, endgültig zum Anwalt des Volks. Seine Stimme war die der Freiheit gegen Unterdrückung und Armut. Der romantische Poet und der revolutionäre Politiker verschmolzen miteinander. Denn Hugo hatte die zersetzende, aufrührerische Kraft erkannt, die in der Beschreibung der Armut und des Elends steckt: Statt diese als soziale Fatalität hinzunehmen, »erkennt das Bewusstsein ihre Obszönität« in der literarischen Darstellung und schafft damit die Voraussetzung für ihre »unausweichliche Auflösung«, also die Revolte. Konservative Zeitgenossen wie der damals äußerst einflussreiche Kritiker Jules Barbey d''Aurevilly bemerkten die explosive Kraft des »gefährlichsten Buchs des Jahrhunderts« sofort. Hugo verfolge die Absicht, so Barbey, »alle gesellschaftlichen Institutionen in die Luft zu sprengen, eine nach der anderen - mit Tränen und Mitleid«. Aber auch wohlgesinnte Hugo-Bewunderer waren entsetzt. Théophile Gautier und Gustave Flaubert, beide künstlerische Puristen, verabscheuten das Predigerhafte in Hugos Stil. Aus Achtung vor dem verbannten Autor schwieg Flaubert öffentlich; privat urteilte er: »Dieses Buch ist für das katholisch-sozialistische Pack gemacht.« Sogar der Dichter Charles Baudelaire, obwohl selbst ein Verfemter, fand das Werk »widerwärtig und töricht ... Auch ein großer Mann kann ein Dummkopf sein«. Trotzdem lobte er »Les Misérables« öffentlich als einen »Roman, konstruiert nach der Art eines Gedichts, in dem jede Figur allein dadurch einzigartig ist, dass sie eine Allgemeinheit darstellt«. Der Schriftsteller und Kritiker Sainte-Beuve, der sich in der Gnade Napoleons III. sonnte und Hugos erster Frau Adèle nahe stand, jammerte über den »kranken Geschmack« des Publikums: »Der Erfolg der ''Misérables'' hat gewütet und fährt fort zu wüten, weit über alles hinaus, was man befürchten musste. Es gibt Erfolge wie Epidemien.« Noch heute berühren die Leiden der Armen ein Massenpublikum, wenn auch eher in Verfilmungen wie zuletzt dem TV-Dreiteiler mit Gérard Depardieu oder der in vielen Ländern erfolgreichen Musical-Version. Victor Hugo ist der weltweit bekannteste französische Literat. Während er noch auf Guernsey schmachtete, wurden seine Verse und seine Prosa schon überall in Frankreichs Städten und Dörfern rezitiert. Seine Rückkehr nach der Niederlage Napoleons III. 1870 im Krieg gegen die Deutschen geriet zum Triumphzug. Ähnliches war knapp hundert Jahre zuvor nur Voltaire widerfahren. Voltaires Schriften hatten die große Revolution inspiriert. Hugo verankerte die Republik ein für allemal. Hugo war kein Sozialist und kein Kommunarde. Er glaubte an Gott, aber hasste die Klerikalen. In seinem Testament hatte er sich kirchliche Trauerreden verbeten. Den Armen vermachte er 50 000 Francs. Er wollte die moderne, die liberale und soziale Republik. Nie hörte er auf, den Despotismus anzuprangern und die Gleichheit der Menschen zu verkünden. Und für die Franzosen, schreibt Chateaubriand in seinen »Erinnerungen von jenseits des Grabes«, ist »allein die Gleichheit ihr Idol«. Was Wunder, dass die Republik den alten Hugo in immer neuen Kleidern feiern möchte. Er ist ihr Kind, und er ist ihr Großvater zugleich. ROMAIN LEICK Die Helle und die Dunkle, die Blondine und die Brünette, das Engelchen und die Femme fatale. Alles beginnt in dunkler Nacht, als die schöne Dark Lady im Fond eines Cadillac eine Pistole auf sich gerichtet sieht und im selben Augenblick ein anderer Wagen in diesen Cadillac hineinkracht. Die Frau, in Schock und Panik, flieht in die Nacht hinaus, überquert eine Straße, die ein Schild als »Mulholland Drive« ausweist, und versteckt sich hinter einer Hecke. Dass sie Grund dazu hat, zeigt sich später: In ihrer Tasche stecken dicke Bündel von 1000-Dollar-Scheinen. Am anderen Morgen schlüpft sie in einer nahen Wohnanlage in ein Apartment, das sie für leer hält. Die Geschichte geht weiter damit, dass in dem Apartment kurz darauf eine muntere Blondine namens Betty auftaucht, eine Nichte der abwesenden Bewohnerin, zu Besuch frisch in Los Angeles eingetroffen. Betty hat zu Hause im ländlichen Kanada einen Jitterbug-Wettbewerb gewonnen und fühlt sich dadurch qualifiziert, ihr Glück in Hollywood zu suchen. Rasch wird ihr klar, dass die Unbekannte in der Wohnung durch den Unfallschock ihr Gedächtnis verloren hat, und Betty, patent wie sie ist, stürzt sich geradezu in die Aufgabe, der Fremden zu helfen, die sich Rita nennt, indem sie deren Unglück und Identität zu enträtseln sucht. Klingt so weit ziemlich gut, oder? Die geheimnisträchtig-bedrohliche Grundstimmung und ein paar farbig umrissene Nebenfiguren - ein misstrauisches Kriminalistenduo am Unfallort, die mysteriöse Concierge der Apartmentanlage, ein panisch herumballernder Profikiller, ein genialischer Jungregisseur, der dem Wunschstar seiner Financiers von der Mafia nicht die Hauptrolle geben will - versprechen einen scharfen, überraschungsreichen Mystery-Thriller. Schließlich ist der Mulholland Drive, der sich über den Rücken der Hollywood Hills schlängelt, eine der exklusivsten Staradressen der Welt: Wo Geld, Macht, Ruhm und Glamour hinter so hohen Fassaden hausen, müssen Abgründe, wenn sie sich öffnen, sehr tief sein. Aber wie kann es weitergehen mit der Spurensuche nach Ritas Vergangenheit und der Jagd nach Bettys Zukunft als Star, wobei - hier wie dort - zwei rätselhafte Frauennamen, Diane Selwyn und Camilla Rhodes, Schlüsselrollen zu spielen scheinen? Die Bosse des TV-Kanals ABC sollen entzückt gewesen sein, als sich David Lynch 1998 darauf einließ, ein neues Projekt für sie zu entwickeln, und sie bewilligten dem Schöpfer der legendären Kultserie »Twin Peaks« von 1990 ein üppiges Budget für einen Zwei-Stunden-Pilotfilm. Jeder Kinofilm hat - einer Godard zugeschriebenen Theorie zufolge - einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, jedoch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Eine TV-Serie hingegen kann sich (und das macht ihr Konzept für Lynch so faszinierend), wenn sie einmal in Gang gekommen ist, immer weiter verzweigen, auch im Kreise drehen und muss im Idealfall nie zu einem Ende kommen. Lynchs Exposition ist erzählerisch grandios und gespickt mit visuell verblüffenden, wenn auch noch ganz unerklärlichen Volten. Aber, oje, dieser Anfang 1999 gedrehte Pilotfilm geriet 125 Minuten lang, und als ihn Lynch vertragsgemäß auf 88 Minuten gekürzt hatte, blieb eine bizarre Ruine übrig, die niemand bei ABC mehr haben wollte. Was nun in zweieinhalb Kinostunden zu sehen ist, besteht wohl im Wesentlichen aus jenem Pilotfilm sowie einem neu gedrehten Schlussdrittel, das aber keines der Rätsel löst, sondern alles Vorherige auf eine Weise umstürzt, dass dem Zuschauer schwindlig wird: Sogar die Helle und die Dunkle, die Naive und die Melodramatische scheinen plötzlich ihre Rollen getauscht zu haben. Die beiden bislang kaum bekannten Darstellerinnen, aus denen der Magier Lynch unwirklich-unergründlich faszinierende Geschöpfe gemacht hat - die Engländerin Naomi Watts und die aus Mexiko stammende Laura Elena Harring, Ex-Miss-USA und geschiedene Gräfin von Bismarck - sind nun nicht mehr »Betty« und »Rita«, sondern tragen selbst die Namen Diane Selwyn und Camilla Rhodes und stellen ein von Leidenschaften zerrissenes Liebespaar dar: arriviert in der Glitzerwelt des Mulholland Drive. Fanatischen Lynchologen, den Pynchonologen nicht unverwandt, diskutieren auf Websites in den USA inzwischen die Bedeutung jedes Details bis hin zu einem Hundehaufen am Straßenrand, als wäre Lynchs Kunst eine Art Ostereierverstecken für höhere Semester. Tonangebend ist derzeit die Theorie, bei den ersten zwei Dritteln handle es sich um einen Traum von Diane Selwyn, dem aber chronologisch der Schlussteil vorangehe. Wenn ein Regisseur beweisen will, dass er den Kinderschuhen entwachsen ist, tritt er oft in möglichst große Fußstapfen, um sich an seinen Vorgängern zu messen. Caroline Link, 37, gelang es in ihrem Taubstummen-Drama »Jenseits der Stille« und ihrer Erich-Kästner-Adaption »Pünktchen und Anton«, aus Kindersicht anrührende, oft ergreifende Geschichten zu erzählen. In der Stefanie-Zweig-Verfilmung »Nirgendwo in Afrika« tritt sie den Erwachsenen nun meist in Augenhöhe gegenüber. Doch aus dieser Perspektive sieht alles viel kleiner aus. Link, eines der großen Talente des deutschen Kinos, will ihre Reifeprüfung machen: mit einer Bestseller-Adaption, einem Epos, das es ihr ermöglicht, sich auf Neuland zu beweisen. Dabei stößt sie - ob sie will oder nicht - laufend auf die Spuren eines anderen Films, die auch nach über 15 Jahren noch nicht verweht sind, weil sie sich zu tief ins Gedächtnis der Zuschauer eingegraben haben: den Klassiker »Jenseits von Afrika«. Stefanie Zweigs 1995 erschienener Roman erzählt die Lebensgeschichte ihrer Familie, die 1938 der Judenverfolgung in Breslau mit knapper Not entrann, nach Kenia emigrierte und 1947 nach Deutschland zurückkehrte - überwiegend aus der Sicht des heranwachsenden Mädchens, das sie bei ihrer Ankunft in Afrika war, schildert die Autorin den Schwarzen Kontinent. In Caroline Links Filmen sind die Kinder Mittler zwischen der Welt der Stille und der Welt der Töne, zwischen Arm und Reich. Sie überwinden spielend, was ihre Eltern trennt, werden Dolmetscher der Erwachsenen, die keine gemeinsame Sprache haben. Zweig beschreibt im Roman, dass Walter und Jettel Redlich (gespielt von Merab Ninidze und Juliane Köhler) sich in Afrika fühlen wie »verirrte Kinder«, ihre Tochter Regina aber anfängt, mit dem schwarzen Koch Owuor »Blicke, Scherze und Wortspiele auszutauschen, auf die nur er und sie sich verstanden«. Für Sätze wie diese findet Link Bilder. Wenn Regina (Lea Kurka) ihren schwarzen Spielgefährten eine Geschichte vorliest und mit ihnen das Erzählte nachstellt, hat der Zuschauer das Gefühl, dabei zu sein, wie sich zwanglos Kulturen mischen und neue Allianzen bilden. In diesen Momenten entfaltet der Film jene zauberische Leichtigkeit, die Link bewundernswert beherrscht: Was überaus schwer zu erreichen ist, wirkt bei ihr wie ein Kinderspiel. Doch oft verliert die Regisseurin das Vertrauen in ihre Bilder, die so großartig daherkommen. Wenn Regina ihren Vater in einem Internierungslager besucht, in das er nach Kriegsausbruch gerät, erzählt sie im Off, dass die Gefangenen und ihre britischen Bewacher kaum zu unterscheiden waren, weil alle kakifarbene Uniformen trugen. Warum darf der Zuschauer das nicht selbst entdecken? Es gibt zahlreiche Szenen, in denen sich der Film verplappert und den Zuschauer bevormundet wie ein kleines Kind. Warum sind die Dialoge der Erwachsenen, die der Drehbuchautorin Link in ihren vorangegangenen Filmen offenbar ganz leicht von der Hand gingen, hier oft so hölzern, als wollte sie Winke mit dem Zaunpfahl daraus schnitzen? Vermutlich weil das deutsche Kino fast immer in Lähmung verfällt, wenn es sich mit dem Dritten Reich beschäftigt - auch Caroline Link gelingt es nicht, dieser Starre zu entgehen. In »Pünktchen und Anton« trieb Link politisch durchaus unkorrekte Scherze über die Kolonialzeit. Davon ist sie hier Welten entfernt. Zwar beschreibt sie Jettels Widerwillen, unter »Negern« zu leben, aber verglichen mit dem Moment in »Jenseits von Afrika«, wenn Karen Blixen (Meryl Streep) einem schwarzen Diener weiße Handschuhe überzieht, fasst sie das Thema mit spitzen Fingern an. Um zu überzeugen, sollten Filmfiguren aber sagen, was sie denken - und nicht das, was ihnen unser historisches Gewissen vorschreibt. Links Film bricht nach Afrika auf, schleppt die Erinnerung an die Heimat, in der die Juden verfolgt und ermordet werden, aber wie ein schweres Gepäck mit, das alles niederdrückt und die Hingabe an den neuen Kontinent nicht zulassen kann. Vielleicht ist das gar nicht anders denkbar. Dann wäre dieser Film aber von Beginn an zum Scheitern verurteilt gewesen. So ganz jedenfalls finden die Regisseurin und ihr Stoff nicht zueinander. Statt ihre Geschichten (zur Freude des Zuschauers) in Harmonie aufzulösen, müsste sie hier auf Härte setzen. Zu den interessanten Neuerungen gegenüber der Vorlage zählt eine Szene, in der Walter Redlich, der wohl noch nie zuvor ein Gewehr in der Hand hatte, für die hungernde Familie einen Kudu-Bock schießen will. Er trifft - und das Tier stirbt nicht. Doch der Film wendet den Blick so schnell von dem leidenden Tier ab, dass der innere Kampf des Mannes, der es nicht übers Herz bringt zu töten, kaum spürbar wird. So lapidar inszeniert, muss das einschneidende Erlebnis nach dem nächsten Schnitt in einem Dialog über Männlichkeit zerredet werden. Alle Jahre wieder - the same procedure. Der besoffene Butler James stolpert durch den Kultfilm »Dinner for One«, die Raucher schwören, von ihrem Laster zu lassen. Der Schampus schäumt, der Karpfen dampft, und spätestens wenn das Feuerwerk zischt, zündet auch der schöne Götterfunke: Denn die Neunte - Prost Neujahr! - ist der klassische Knaller zum Jahreswechsel. Jahraus, jahrein wird Beethovens Opus 125 zur Kalenderwende urbi et orbi eingepaukt, auch diesmal wieder. Da wird es in Zwickau gespielt und in Plauen, in Hamburgs Musikhalle, in den Konzerthäusern von Wien und Berlin, im Verdi-Auditorium zu Mailand, im New Yorker Lincoln Center und in Honolulu auf Hawaii. Allein im deutschen CD-Sortiment rotiert Beethovens letzte Sinfonie in über hundert Interpretationen und Kopplungen, nie wird das Singstück so emsig gekauft und so andächtig abgehört wie zwischen den Jahren. Für Monika Griefahn, die Vorsitzende des Kulturausschusses im Deutschen Bundestag, hat das Stück schon »fast den Charakter eines Gassenhauers«, Regisseur Christoph Schlingensief will das Werk bereits im Mutterleib gehört haben. Er kenne sich »mit der Neunten sehr gut aus«, die habe ihm »viel Kraft gegeben und Lebensfreude«, und er empfehle sie, »das meine ich ernst«, zur »Beschallung von Föten«. Doch nirgends wütet der Neunte-Koller grotesker als in Japan. Zum Jahreswechsel kommt das Land regelmäßig auf über 200 Aufführungen. »Daiku«, die Neunte, ist stets rekordverdächtig. Das Sinfonieorchester von Osaka hat das Singstück mehr als 500mal dargeboten, jedes Jahr im Dezember verbünden sich in der Stadt rund 10 000 Sänger, Profis wie Laien, zur Mega-Nummer. In diesem Jahr nun ist der zwittrige Hit endlich global und offiziell heilig gesprochen worden: Als wertvolle Schöpfung der Tonkunst wurde die Neunte jüngst von der Unesco in die Liste »Memory of the World« - Weltdokumentenerbe - aufgenommen und so mit dem Weihrauch ewiger Werte getränkt, wie auch der Nachlass von Goethe und die Gutenberg-Bibel. Dabei ist die Neunte - hochachtungsvoll - ein Unding. Vor allem das auf Schiller-Verse notierte Finale für vier Gesangssolisten, Chor und großes Orchester, musikhistorisch (1824) ein Novum in der bis dahin rein instrumentalen Gattung Sinfonie, plus- tert simple melodische Einfälle zur großen bacchantischen Sause auf, wechselt jäh zwischen militärischem Tschingderassassa und sakralem Gepränge, und wenn die Soprane des Chors, wie leider meist, mit ihrem mörderisch hohen A die akustische Schmerzgrenze überkreischen, wird der Schlussakkord nur noch als Wohltat empfunden. Dieses Werk, befand schon Beethovens Zeitgenosse und Kollege Louis Spohr, sei »monströs, trivial, geschmacklos« und beweise, dass es seinem Schöpfer »an ästhetischer Bildung und Schönheitssinn« gefehlt habe. Richard Wagner gestand seinem Schwiegervater Franz Liszt, er halte den Schlusssatz der Neunten für deren schwächsten Teil. Claude Debussy polemisierte gegen diesen »Popanz zur öffentlichen Verehrung«. Thomas Mann »brachte keine Liebe auf für den verzettelten letzten, den Variationensatz«. Der Dirigent Sergiu Celibidache tat das Finale als »scheußlichen Salat« ab. Der Neutöner Mauricio Kagel ließ in seiner 1969 entstandenen Spott-Hommage »Ludwig van« zum Chorgesang vom »lieben Vater überm Sternenzelt« einen Elefanten die Notdurft verrichten. Half alles nichts: Das Werk blieb für alle Schwarmgeister die philharmonische, alles überragende Friedenspalme. Dieses gebenedeite Tremolo um Beethovens letzte Sinfonie setzte 1845 ein, als der taube Tonsetzer bereits 18 Jahre tot war und von seiner Geburtsstadt Bonn mit einem Denkmal bedacht wurde. Da verhökerten die lokalen Koofmichs Hosen »à la Beethoven« (mit Notenlinien als Streifen und Ziernoten als Dekoration); in nur elf Tagen und Nächten wurde eine hölzerne Beethovenhalle mit fast 3000 Sitzplätzen aufgewuchtet; Dutzende Tonsetzer, Poeten und blaublütiger Herrschaften reisten an, und natürlich kulminierte das Programm in einer Darbietung der Neunten als staatstragender Hymne. Richard Wagner krönte seine Tätigkeit als Dirigent in Dresden mit der Neunten und feierte mit ihr 1872 auch die Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses. Der Pariser Sozialist Georges Pioch enthüllte das Werk als den »großen sozialen Akt der Musik« und ernannte es zur »Marseillaise der künftigen regenerierten und verbrüderten Gesellschaften«. Der französische Komponist Vincent d'Indy rühmte die »Nächstenliebe« im »liturgischen Gesang« der Komposition, d'Indys italienischer Kollege Pietro Mascagni feierte den Schöpfer der Neunten als Heiland: »Gestorben« sei er »wie Jesus«, aber »wieder auferstanden im strahlenden Licht seiner Kunst, zum Wohle der Menschheit«. Der deutsche Dichter Gerhart Hauptmann verklärte das Chor-Finale gar zu einer »göttlich tönenden Kuppel über dem Tempel der Menschheit«. »Jenseits aller politischen Unterschiede«, urteilt der Neunte-Monograf Esteban Buch in seiner verdienstvollen Historie der Sinfonie, »vereinten sich die preußischen Nationalisten, deutschen Kommunisten, französischen Republikaner, Wagnerianer aller Länder, Apostel der Nächstenliebe und selbst die Theoretiker der absoluten Musik einhellig um die IX. Sinfonie, die zum Fetisch der abendländischen Metaphysik geworden war.« Kaum drängten die Nazis an die Macht, verglich der braune Chefideologe Alfred Rosenberg den Ansturm der Hitler-Gefolgschaft mit dem tenoralen Schlachtruf der Neunten: »Freudig wie ein Held zum Siegen!« 1936 ließ der Führer am Abend des Eröffnungstages der Olympischen Spiele in Berlin das Chor-Finale von fast 6000 städtischen Teenagern intonieren; dazu läuteten die Glocken, und Scheinwerfer der Flak wuchteten einen Lichtdom gen Himmel - die Neunte à la Riefenstahl. Ein Jahr später wurde, auf Geheiß von Goebbels, Hitlers Geburtstag in Berlin erstmals mit einer Aufführung der Neunten gefeiert, Furtwängler dirigierte. In der Saison 1941/42 rückte das Opus 125 im Großdeutschen Reich zum meistgespielten Stück des sinfonischen Repertoires auf. Vor der Götterdämmerung der braunen Machthaber erlebte das Werk allerdings auch eine besonders perverse Premiere: In Auschwitz sang ein Chor jüdischer Kinder die »Ode an die Freude« auf Tschechisch - in den Latrinen des Vernichtungslagers: »Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.« Nun, spätestens am Ende des Zweiten Weltkriegs, hätte es erst einmal genug sein müssen mit der gespenstischen Schändung und dem frivolen Schindluder, da hätte die Sinfonie - immerhin ein Jahrhundert lang als titanisch-totalitäre Staatsmusik, klingende Gesinnungsdemo und religiöses Aufputschmittel missbraucht - eine Schonzeit verdient gehabt: Das Stück war anrüchig. Nicht ohne Grund hatte der Tonsetzer Adrian Leverkühn in Thomas Manns Roman »Doktor Faustus« die Sinfonie in den Orkus verwünscht: »Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt, und was die Erfüllten jubelnd verkündigt haben, das soll nicht sein ... Ich will es zurücknehmen ... Die Neunte Symphonie.« Im (1971 verfilmten) Roman »A Clockwork Orange« von Anthony Burgess wird der jugendliche Held und Beethoven-Freak Alex unter Drogen gesetzt und muss dann im Rausch die Neunte als Begleitmusik zu KZ-Filmen über sich ergehen lassen, eine literarisch-musikalische Fiktion als Folter. Und Theodor W. Adorno kommentierte in seinem (Fragment gebliebenen) Beethoven-Buch den jauchzenden Imperativ der Neunten - »Seid umschlungen, Millionen!« - mit einem einzigen Namen: »Adolf Hitler«. Na und? Die Ode blieb Mode, und mit dem Kalten Krieg begann ihre zweite Karriere. Als die Sportler der beiden deutschen Staaten 1952 zur völkerverbindenden Olympiade in Rom antraten, marschierten sie zu den Klängen der Freuden-Nummer ein. 1967 wurde der Evergreen zur Weihe des Brüsseler Nato-Hauptquartiers gespielt. 1971 fasste der Europarat den Beschluss 492, das »Vorspiel zur ,Ode an die Freude', 4. Satz der IX. Sinfonie von Beethoven«, zur »Europahymne« zu wählen und künftig »bei allen offiziellen europäischen Veranstaltungen« zu spielen. Der Auftrag zur »musikalischen Gestaltung« ging an »Herrn Herbert von Karajan«, der die im Original gesungenen Takte 140 bis 187 in reinen Orchestersatz verwandelte und sich mit diesem Eingriff das Urheberrecht an Beethovens Euro sicherte. 1974 versammelte sich Rhodesiens rassistisches Kabinett zu einer ungewöhnlichen Sitzung. Mitten im Guerrillakrieg suchten die militanten Apartheid-Politiker eine Schlachtenmusik, die »ernst, aber nicht schwermütig, würdevoll, aber nicht hochtrabend« sein sollte. Gerade jetzt, »wo wir an den nordöstlichen Grenzen unseres Landes Krieg führen«, entschied die Regierung, sei »eine Hymne notwendiger denn je, um unsere Einheit widerzuspiegeln und unsere kämpfenden Truppen anzuspornen«. Ihre Wahl fiel auf die Neunte, der Militärbefehlshaber Ken MacDonald arrangierte eine 16-taktige Kurzfassung, Beethovens schillernde Apotheose war neuerlich zur Begleitmusik von Folter und Unterdrückung pervertiert. Egal. Als sei nichts gewesen, wurde das Stück weiter philharmonisch zelebriert, politisch verkitscht und zur Schnulze kandiert. Der andalusische Bauernsohn Miguel Ríos machte mit seinem weich gespülten »Song Of Joy« Millionenumsätze, und Roy Black äffte ihn mit seiner Lenor-Neunten nach. Kurz nach dem Mauerfall im Dezember 1989 überraschte der Theatraliker Leonard Bernstein West- und Ost-Berliner in getrennten Aufführungen mit einer revidierten Fassung der Chor-Sinfonie: Statt »Freude« ließ er »Freiheit, schöner Götterfunken« singen; einer Teilauflage ihres (bald bestsellernden) Mitschnitts von »Bernsteins Freudenfest« legte die Deutsche Grammophon ein Mauerbröckchen bei, verkaufsstrategisch der Stein der Weisen. Doch »die wahren musikalischen Sinnbilder dieser glorreichen Stunde waren die Gitarren der jungen Leute in Jeans«, schrieb Richard Taruskin in der »New York Times«, »die oben auf der Mauer die Musik spielten, derentwegen man sie am Tag zuvor noch ins Gefängnis gesteckt hätte. Nur sie haben die Freiheit symbolisiert«. Beethoven dagegen, so der amerikanische Beobachter, stehe nur als »konservierte Größe« da, »mit allem, was das an Selbstgefälligkeit, Langeweile und Ritualen mit sich bringt. Eben genau das, wogegen sich die Aufstände von 1989 gerichtet haben«. Alles ganz kompliziert: »Es geht um eine viel schwierigere Aufgabe, als ein neues Gebäude zu errichten«, wand sich Hannes Swoboda, SPÖ-Politiker aus Wien und Vorsitzender des Fachleute-Gremiums, andererseits sei eine exakte Kopie des alten Prachtbaus »weder sinnvoll noch machbar«. Ja, was denn nun? Immerhin die Grundaussage war klar: Berlins Hohenzollernschloss soll wieder her. Am Donnerstag vor Weihnachten verkündete Swoboda, 55, als Sprecher einer von Bund und Land Berlin eingesetzten internationalen Expertenkommission die Empfehlung, jenes Berliner Stadtschloss wieder aufzubauen, das 1950 auf Beschluss der DDR-Staatslenker gesprengt worden war: der sicher nur vorläufige Schlusspunkt in der mittlerweile seit über zehn Jahren dauernden Debatte über Sinn und Unsinn einer Wiedergeburt der preußischen Glanz- und Glorienstätte. Von einer »Sensation«, die gleichwohl »leise daherkomme«, kündete tags darauf das Feuilleton des Berliner »Tagesspiegel«. Kern des Kommissionsbefunds: Das barocke Schloss, 1699 von Andreas Schlüter in sparsamer Ziegelbauweise begonnen und später noch einmal aufgemotzt, soll in den originalen Maßen ein zweites Mal errichtet werden. Die 17 Experten stellen sich vor, dass drei Fassaden barock, die Rückseite und die Innenräume aber weitgehend modern gestaltet werden. Es soll also nicht bis ins letzte Detail das alte Bauwerk sein, aber trotzdem nach Schloss aussehen, wenn man davor steht. Erst mal muss allerdings Gerhard Schröders Kabinett diesem Retro-Projekt zustimmen - für das auch der zumindest weit gehende Abriss des Palastes der Republik notwendig ist. Genutzt werden soll das neue alte Schloss als Museum, Bibliothek und Ort für nationale und internationale Veranstaltungen. Letztere sind schon deshalb wichtig, weil sie später einmal Geld einbringen sollen. Das aber fehlt schon heute. Kommissionschef Swoboda schätzt allein die Baukosten auf über 760 Millionen Euro. Die aber kann und will, so haben sich die rotroten Berliner Koalitionäre bereits festgelegt, keinesfalls die Hauptstadt aufbringen - jede finanzielle Beteiligung an einem Schlossneubau wurde ausgeschlossen. Kein Problem: Swoboda meint, dass es sich ohnehin um eine »nationale Aufgabe« handle. So könne im besten Fall ein Drittel der Kosten durch private Gelder aufgebracht werden. »Der Rest muss aber von der Bundesregierung kommen.« Nur: In der Willensbekundung zur Wiederherstellung preußischer Staats- und Kultursymbole sind deutsche Politiker zwar mittlerweile geübt - wenn's ums Bezahlen geht, gibt's aber regelmäßig Streit. So wurde Anfang Dezember auf der Berliner Museumsinsel die klassizistische Alte Nationalgalerie nach einer mehrjährigen Sanierung wieder eingeweiht; doch noch weiß niemand, wer die milliardenteure Wiedererweckung der restlichen Museumsinsel finanzieren soll. Viele Deutsche, klagt Swoboda, hätten noch nicht begriffen, dass Berlin wieder eine Hauptstadt sei. Das Stadtschloss sei nun mal, so der Gutachter, »ein politisches Projekt«. Schon weil geplant sei, die außereuropäischen Kunst- und Kultursammlungen aus dem Museum in Berlin-Dahlem dort unterzubringen, könne es zugleich »ein wunderbares Symbol der Weltoffenheit werden«. Das Tollste am Plan zum Schloss-Wiederaufbau ist bislang die Diskussion darüber. Bald nachdem der Hamburger Kaufmann Wilhelm von Boddien 1993 mit der Aufstellung einer Schloss-Attrappe zahlreiche Zweifler für den Rekonstruktionsplan begeisterte, verblüffte der Berliner Architekt Axel Schultes mit einer geradezu verwegenen Idee. Er behauptete, er habe in Moskauer Archiven Originalpläne des preußischen Großbaumeisters Karl Friedrich Schinkel zur Neugestaltung des Schlossplatzes gefunden - und stellte dann das angebliche Schinkel-Modell vor, das aber sein eigenes war. Vor ein paar Tagen meldete Schultes sich mit einer neuen, stärker an Schlüter orientierten Variation seines Entwurfs zurück: einem pompösen Auftrumpfen von historisierenden Elementen und dabei vor allem von neuen, aber neobarocken Fassaden. Das alles aber nicht in Form des einstigen Schlosskastens mit Innenhöfen, sondern als monumentale Dreiflügelanlage, die selbst Schultes' bombastisches Bundeskanzleramt mickrig aussehen lässt. Als die »FAZ« diese Vision vorstellte, brach sie sogleich in Jubel aus: »Dies ist, scheuen wir nicht das große Wort, ein Wunder.« Auch von »versöhnender Kraft« war die Rede. Das Jauchzen dürfte vergebens sein. Sollten die Empfehlungen der Kommission tatsächlich umgesetzt werden, hat die großurbanistische Utopie von Schultes wohl keine Chance. Allerdings ist er nicht der Einzige, der sich nach einem Symbol der deutsch-deutschen Zusammengehörigkeit sehnt. Thomas Flierl, Kultur- und Stadtentwicklungsexperte der PDS, nennt die »architektonischen Verkündigungen« und Feinformulierungen der Expertenkommission zwar »verfrüht«. Zuerst hätten »definitive« Konzepte zur Nutzung und zur städtebaulichen Einbindung ausgearbeitet werden müssen. Aber er wisse, »dass viele den Schlossplatz für den wichtigsten Platz der Hauptstadt, vielleicht sogar des Landes halten«. Hier, sagt er, könne der »symbolische Ausdruck der Einheit entstehen«. Geldof, 50, wurde 1979 bekannt als Sänger der Boomtown Rats mit dem Song »I Don''t Like Mondays« - und 1985 weltberühmt als Organisator der Live-Aid-Konzerte zu Gunsten der Hungernden Afrikas, die zeitgleich in London und Philadelphia stattfanden. Etwa 1,7 Milliarden Menschen verfolgten das Ereignis an Fernseher und Radio. Geldof hat drei Töchter und eine Pflegetochter. Er lebt in London. ------------------------------------------------------------------- SPIEGEL: Mr. Geldof, nach privaten Schicksalsschlägen, die in aller Öffentlichkeit verhandelt wurden, und vielen Jahren musikalischer Pause haben Sie nun ein Album herausgebracht, das schon im Titel von den ganz großen Dingen des Lebens zu erzählen verspricht - von Sex, Alter und Tod. Handelt es sich um eine Art philosophisches Grundsatzbekenntnis? Geldof: Ich habe lange gebraucht, um diese Platte zu machen, weil ich sie erst leben musste. Ich verstand nicht, was in den vergangenen paar Jahren passiert war. Dies war der Beginn des Verstehens. SPIEGEL: Damals verließ Sie Ihre Frau Paula Yates für den INXS-Sänger Michael Hutchence; beide kamen später zu Tode, Hutchence 1997 unter nie ganz geklärten Umständen, Paula Yates starb 2000 an einer Überdosis Drogen. Dieses Trauma arbeiten Sie mit Ihrer Platte ab? Geldof: Es ging um alles, was damit zu tun hatte. Dies war nur der letzte Akt einer schrecklichen, fast Shakespeareschen Tragödie. Tatsächlich war das Album fertig, bevor Paula starb. Die Platte hat nichts mit Katharsis zu tun. Trotzdem ist es bis heute sehr belastend für mich, sie anzuhören. SPIEGEL: Wann haben Sie angefangen, an »Sex, Age & Death« zu arbeiten? Geldof: Ich weiß, es klingt seltsam, aber ich habe keine Ahnung. Als meine Frau mich 1995 verlassen hat, bin ich völlig zusammengebrochen. Zwei, drei Jahre lang war ich außer Funktion. SPIEGEL: Litten Sie unter Depressionen? Geldof: Das war mehr als Depression. Jeder hat ähnliche Geschichten zu erzählen, wie er mal verlassen wurde. Aber meine Erfahrung, denke ich, war extrem. Dazu kam, dass dieses Drama wie geschaffen war für die britischen Boulevardzeitungen: Alle, die darin eine Rolle hatten, waren prominent. SPIEGEL: Hat das öffentliche Interesse an Ihrem Unglück Ihnen nicht wenigstens das Gefühl beschert, nicht völlig allein zu sein? Geldof: In Wahrheit ist man ganz besonders allein. Wie ein Objekt unter dem Mikroskop. Aber ich war mit viel simpleren Dingen beschäftigt: Ich existierte nur. Ich musste mich daran erinnern einzuatmen, auszuatmen und wieder einzuatmen. Ich war wie entmannt und ausgeweidet. In dieser Situation hat man nur eine schmale Bandbreite von Gefühlen zur Verfügung. SPIEGEL: Konnten Sie in dieser Zeit arbeiten? Sie waren damals neben Ihrem Musikerjob immerhin Miteigentümer der Fernseh-Produktionsfirma Planet 24, die Shows wie »The Big Breakfast« produzierte. Geldof: Nein. Ich wollte mich in einen möglichst weit entfernten Winkel unserer Erde zurückziehen und dort die graue Leere anheulen. Aber das ist nicht möglich, wenn man drei Kinder hat. SPIEGEL: Und das hielt Sie auch vom Gedanken an Selbstmord ab? Geldof: Ich fand Suizid immer erbärmlich. Bis zu jenem Morgen, als ich aufwachte und mein Gesicht nass war, weil ich wieder im Schlaf geweint hatte. Und mir nicht mehr vorstellen konnte, diesen Zustand noch länger zu ertragen. Meine Freunde haben gesagt: Glaub mir, das geht vorbei. Aber wann? Man kann sich Zeit nicht mehr vorstellen, und es sind Jahre, um die es geht. Ich habe mich dann hingesetzt und eine Liste von Gründen gemacht, derentwegen es sich lohnt zu leben - oder zu sterben. Als ich alles zusammenaddiert habe, kam heraus, dass ich mich nicht mehr so fühlen wollte. Es war, dachte ich, eine rationale, gut überlegte Entscheidung. In dem Moment wurde mir klar, dass ich mich auf sehr gefährlichem Gebiet bewegte. SPIEGEL: Haben Sie damals allein gelebt? Geldof: Nein. Meine Freunde Howard und Pete, mit dem ich bei den Boomtown Rats zusammengespielt hatte, zogen zu mir. Es war wirklich eine seltsame Erfahrung, wie Männer sich in so einer Situation unterstützen: Wir saßen zusammen herum und haben gemeinsam geschwiegen. Es war bizarr, aber beruhigend. Howard hat sich um mich gekümmert, und Pete arbeitete im Keller an seiner Musik. Zunächst brauchte ich keine Musik und wollte noch nicht mal welche hören. Aber dann drangen Klangfetzen in meinen Kopf. Irgendwann habe ich mir die Gitarre genommen und plonk, plonk, die Bass-Saite gezupft. SPIEGEL: Haben Sie das Gefühl, dass Sie die Sache heute endgültig hinter sich haben? Geldof: Man könnte es so beschreiben: Man nimmt den Schmerzklumpen aus dem Kopf, untersucht ihn und sagt zu sich selbst: So siehst du aus, ich kenne dich, du Scheißding - und räumt ihn wieder zurück. Bis zum nächsten Mal. Nach und nach kommen die eigenen Fähigkeiten zurück. Als Erstes war ich in der Lage, mich um Geschäftliches zu kümmern. Weil es da nicht um Gefühle ging. Irgendwann hatte ich wieder Zugang zur Welt der Kreativität. SPIEGEL: Hatten Ihre Freunde doch Recht mit dem Trost, die Zeit heile alle Wunden? Geldof: Nein. Man kann versuchen, den Schmerz zu begraben. Aber die Zeit heilt nicht. Sie hilft nur, sich auf ihn einzustellen. Und wenn er sich doch wieder ins Bewusstsein vorgearbeitet hat, kann man ihn in einer Ecke des Gehirns parken. Er ist immer dort, immer anwesend, aber er steht in einem Zusammenhang. Man lernt mit ihm zu leben, mehr nicht. SPIEGEL: Ihr Album ist ein Jahr nach dem Tod von Paula Yates erschienen. Hätten Sie es auch veröffentlicht, wenn sie noch leben würde? Geldof: Ja. Ich hätte es schön gefunden, wenn sie es gehört hätte. Und sie dachte, dass ich ein guter Musiker bin. Ich glaube, dass ihr die Platte gefallen hätte. SPIEGEL: Was haben Ihre Töchter zu den Texten gesagt, in denen Sie recht offen über deren Mutter Paula Yates schreiben? Geldof: Die denken sowieso, dass meine Musik schrecklich ist. Auf die Texte achten sie erst gar nicht. Und selbst wenn die Lieder ihnen gefielen, würden sie das nie zugeben. Die hören lieber Eminem, Britney Spears oder so etwas. Im Übrigen muss ich sagen: Ich erwarte gar nicht, dass die Leute »Sex, Age & Death« so genau anhören. Fürs Radio ist es nicht sehr gut geeignet. Es gibt keinen Titel, der sich zur Single eignen würde. Na und? SPIEGEL: Das klingt nicht nach dem Geschäftsmann Geldof. Geldof: Ich bin Musiker. Business ist nur eine Fähigkeit. Ich verfüge über sie, also nutze ich sie. Musik ist das Einzige, was mich ganz gefangen nimmt: emotional, psychisch, intellektuell, geistig, physisch. Ich bin auch kein echter Geschäftsmann. Ich habe Ideen, die ich umsetzen will. Und wenn die Sache läuft, wie damals mit der TV-Firma Planet 24, dann wird sie mir langweilig. Ich habe Planet 24 inzwischen verkauft. SPIEGEL: Heute sind Sie mit Ihrer Firma Ten Alps in Fernsehen, Radio, Werbung und Event-Planung engagiert. Gehen Sie wie ein ordentlicher Firmenchef jeden Tag ins Büro? Geldof: Nein, ich gehe nie ins Büro. Da wird dann alles zu kompliziert. Ich bin zu Hause, den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, und spiele auf der Gitarre herum. Mit einem Ohr lausche ich der Unterhaltung, mit dem anderen der Gitarre. Wenn mir gefällt, was ich spiele, wiederhole ich es so lange, bis das Gespräch vorbei ist. Meine Konferenzen halte ich alle in einem Café in der King''s Road ab. Ich habe keine E-Mail, keinen Anrufbeantworter und keine Sekretärin. Meine Aufgabe ist es, Einfälle zu haben und Kontakte herzustellen. SPIEGEL: Finden Sie noch Zeit, sich für Afrika und Ihr Hilfsprojekt Band Aid zu engagieren? Geldof: Ich arbeite seit 17 Jahren für Afrika, ich bin Vorsitzender des Band Aid Trusts. Und ich engagiere mich für die »Drop the Debt«-Kampagne, in der es um den Schuldenerlass für die ärmsten Länder der Welt geht. SPIEGEL: Dafür trafen Sie und Bono dieses Jahr beim G-8-Gipfel in Genua den britischen Premier Tony Blair und den deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder. Konnten Sie die beiden überzeugen? Geldof: Die Sache ging sehr schnell über die Bühne. Bono und ich sind die Laurel und Hardy der Dritte-Welt-Schulden. Wenn er spricht, ist er sehr salbungsvoll. Und unglücklicherweise bin ich sehr direkt. Leute wie Blair, Bill Clinton, George W. Bush, Schröder sind mehr oder weniger aus der gleichen Generation, wir haben den gleichen kulturellen Hintergrund. Das Problem liegt darin, das System zu verändern. Und diese Politiker sind Sprachrohre des Systems. Trotzdem gibt es jetzt den Willen, etwas zu verändern. Vor allem nach Afghanistan. Aber es gibt immer wieder Entschuldigungen, wie zum Beispiel, dass der Internationale Währungsfonds praktisch pleite sei. SPIEGEL: Und was antworten Sie dann? Geldof: Dass 800 Millionen Dollar Schuldenerlass pro Jahr, die beim G-8-Gipfeltreffen 1999 in Köln gewährt wurden, nicht genug sind. Diese Dritte-Welt-Länder brauchen 3 Milliarden Dollar, um die Möglichkeit zu haben, sich zu entwickeln. Tatsache ist doch: Diese Staaten können ihre Zinsen nicht bezahlen. Es geht nicht. Und diese einfache Tatsache muss man zur Kenntnis nehmen. In diesen Ländern wird für die Zinsen mehr bezahlt als für das Gesundheitssystem. Und das in Zeiten der Aids-Pandemie in Afrika. Das ist lächerlich. Wir brauchen dieses Geld nicht. Wir sind die reichsten Staaten dieses Planeten. Das ist ökonomischer Schwachsinn. SPIEGEL: Die Logik der Banker lautet: Wer seine Kredite nicht abbezahlt, bekommt kein weiteres Geld. Geldof: Das ist Unsinn. Von allen Ländern sollte Deutschland das am besten wissen. Was passierte denn nach dem Versailler Vertrag von 1919? Was war mit den Reparationszahlungen nach dem Zweiten Weltkrieg? Und die Bedingungen, die heute den ärmsten Entwicklungsländern aufgezwungen werden, sind schlimmer als jene, die der Versailler Vertrag vorsah. Die Sache ist doch so: Wenn es in diesen Staaten keine Ausbildung für die Menschen gibt, kein Gesundheitssystem und nicht genug zu es- sen, dann ist das die Basis für eine reiche, korrupte Elite, die das Volk ausbeutet. SPIEGEL: Werden Sie also wieder Wohltätigkeitsspektakel organisieren wie 1985, als bei zwei parallelen Konzerten in London und Philadelphia Stars wie Paul McCartney, Bob Dylan, Elton John auftraten? Damals haben Sie immerhin rund 200 Millionen Mark gesammelt. Geldof: Für mich war das keine Wohltätigkeitsveranstaltung. Bei Live Aid ging es darum, eine politische Lobby zu schaffen, die ein Thema, das ganz unten auf der Agenda stand, an Punkt eins setzt. Der mögliche Tod von 13 Millionen Menschen in Afrika damals war obszön. Es ist intellektuell absurd und moralisch grotesk, dass in einer Welt des Überflusses Menschen am Mangel sterben. Geld war die physische Manifestation dieser Lobby. Das Ereignis wurde von etwa 1,7 Milliarden Menschen gesehen. Ein Ergebnis davon war, dass ich ins Weiße Haus, in die Downing Street und den Elysée-Palast gehen konnte. Wir haben mitgeholfen, 37 Gesetze zu ändern. Das hat einen wirklichen positiven Langzeiteffekt. Natürlich ging das ganze Geld an jene, die es brauchten. Individuen sind monströsen, menschlichen Ereignissen nicht hilflos ausgeliefert. Wenn man mit Argumenten, Vernunft, Logik arbeitet, kann man die Dinge verändern. SPIEGEL: Waren Ihnen die Dimensionen dieses Ereignisses damals bewusst? Geldof: Bevor ich bei Live Aid auf die Bühne ging, hatte ich viele Monate damit verbracht, das Ereignis zu organisieren. Und dann war ich plötzlich wieder ein Musiker, auf der Bühne mit den Boomtown Rats im Wembley-Stadion. Der Lärm war absolut unglaublich. Ich zog meine Jeansjacke aus und dachte nur: »Verdammte Scheiße!« Wir fingen an, wir spielten »I Don''t Like Mondays«, und ich hatte schon die Zeile im Kopf, die ich als Nächstes singen musste: »The lesson today is how to die.« Und es traf mich wie ein Schlag, dass die Worte an diesem Tag plötzlich eine komplett andere Bedeutung hatten als ursprünglich beabsichtigt. Ich hatte in diesem Moment den rechten Arm in der Luft, und ich hielt einfach inne. Die Dinge, die in meinem Kopf unklar waren, wurden klar, der dauernde innere Bürgerkrieg stoppte. Es war ein Moment tiefer Stille, wie ich ihn vorher nie erlebt hatte. Ich dachte, dass es mir immer um die Verbindung von Musik und Politik gegangen war, und nun verstand ich, dass alles auf diesen Tag hingeführt hatte. Und dann musste ich diesen Moment loslassen. SPIEGEL: Ist es richtig, dass Sie durch ihr jahrelanges Engagement für die Ärmsten dieser Welt irgendwann selbst pleite waren? Geldof: Ja, weil ich von 1984 bis 1987 nur für Live Aid gearbeitet habe, natürlich ohne Gehalt. Wir wollten, dass jeder gespendete Penny in Afrika ankommt. Ich habe von zu Hause aus telefoniert, und leider waren nicht alle Flüge von den Airlines gesponsert. Aber ich hatte eine Familie, die ich ernähren musste. Weil mir ein großer Vorschuss angeboten wurde, habe ich das Angebot angenommen, meine Autobiografie zu schreiben. Es ist eben ein dauerndes Auf und Ab: reich, pleite, reich. So war es immer, und zwar nicht nur, wenn es ums Geld ging. Mir scheint mein Leben sehr extrem, sehr episodenhaft zu sein. Wie eine Seifenoper. Es ist ein sehr ermüdendes Leben. SPIEGEL: Glauben Sie, das ist Schicksal? Oder liegt es an Ihnen? Geldof: Ich habe keine Ahnung. Mein Lehrer fragte mich, als ich wieder eine Prüfung verpatzt hatte, was ich eigentlich mal sein wollte. Ich antwortete: Ich möchte von Schönheit umgeben sein. SPIEGEL: Wie reagierte Ihr Lehrer darauf? Geldof: Er sagte: Mit diesen Noten schaffst du das nie. SPIEGEL: Er hatte Unrecht. Geldof: Vielleicht. Aber es ist das Hässliche, was Spuren hinterlässt. SPIEGEL: Mr. Geldof, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. DONNERSTAG, 20. 12. ARGENTINIEN I Wirtschaftsminister Domingo Cavallo tritt zurück. Am Vortag hatte die Regierung nach blutigen Unruhen mit zwölf Toten für 30 Tage den Ausnahmezustand verhängt. BERLIN In der Hauptstadt einigen sich SPD und PDS auf ein Regierungsprogramm für die rot-rote Koalition. BUNDESRAT Die Länderkammer verabschiedet das zweite Anti-Terror-Paket. AFGHANISTAN I In New York beschließt der Weltsicherheitsrat einstimmig das Mandat für den Einsatz einer Afghanistan-Schutztruppe. FREITAG, 21. 12. AFGHANISTAN II Das Bundeskabinett entscheidet sich für die Entsendung von bis zu 1200 Soldaten nach Kabul. SAMSTAG, 22. 12. AFGHANISTAN III In Kabul nimmt die Übergangsregierung von Hamid Karzai ihre Arbeit auf. Der Bundestag stimmt mit großer Mehrheit einer deutschen Beteiligung am Friedenseinsatz zu. TERRORISMUS I Besatzungsmitglieder und Passagiere überwältigen auf einem Flug von Paris nach Miami den 28-jährigen Briten Richard Reid und verhindern damit womöglich eine Katastrophe. Reid hatte versucht, versteckten Sprengstoff in seinem Schuh zu zünden. SONNTAG, 23. 12. ARGENTINIEN II Der Peronist Adolfo Rodríguez Saá wird vom Kongress in Buenos Aires zum Übergangspräsidenten gewählt. MONTAG, 24. 12. SCHNEECHAOS Autos bleiben stundenlang stecken, Züge sind eingeschneit, Dörfer müssen geräumt werden: Für viele wird die weiße Weihnacht zur Qual. TERRORISMUS II Ein Gericht in Boston erhebt Anklage gegen den verhinderten Flugzeugattentäter Reid. Bei einer Verurteilung wegen »Einmischung in die Pflichten einer Flugzeugbesatzung« drohen ihm 20 Jahre Haft und eine Geldstrafe von 250 000 Dollar. DIENSTAG, 25. 12. NAHOST Überfall auf eine israelische Patrouille an der jordanisch-israelischen Grenze. MITTWOCH, 26. 12. AUSTRALIEN Außer Kontrolle geratene Buschfeuer umzingeln die Millionenstadt Sydney. UNGLÜCK Bei Bremerhaven stürzt ein Flugzeug in die Weser. Acht der neun Insassen kommen ums Leben. KASCHMIR I An der pakistanisch-indischen Grenze toben heftige Kämpfe. Beide Seiten haben auch Mittelstreckenraketen in Position gebracht. DONNERSTAG, 27. 12.Nr. 51/2001, Titel: Dichtung und Wahrheit - Die Manns - Eine deutsche Familie Eine wirklich gute Zusammenfassung über das Leben einer großen deutschen Literatenfamilie. Durch den Artikel kann man auch den Film besser verstehen. ZEVEN (NIEDERS.) HANNFRIED LEISTERER So macht denn der SPIEGEL endlich wieder gut, was er vor einem Vierteljahrhundert dem Andenken Thomas Manns beschert hatte: In der Ausgabe vom 26. Mai 1975 wurde der große Autor von Hanjo Kesting auf eine Weise niedergemacht, die an Schärfe das Aufbegehren einiger Angehöriger der so genannten inneren Emigration nach 1945 übertraf und den Vergleich mit der Verhöhnung durch die NS-Presse nahe legte. Der ausgewogene Aufsatz von Volker Hage ist umso erfreulicher, als es sich nicht um die Arbeit eines Trittbrettfahrers des gegenwärtigen Mann-Booms handelt. MALSBURG (BAD.-W.) PROF. ECKHARD HEFTRICH EHRENPRÄSIDENT DER DEUTSCHEN THOMAS-MANN-GESELLSCHAFT In Ihrem ansonsten sehr kenntnisreichen und differenzierten Beitrag kommen zwei Aspekte zu kurz. Politisch: Alle Manns standen schon lange vor 1933 entschieden zur Republik und klar gegen die Nazis; darum war die Emigration schon gleich nach Hitlers Machtergreifung unvermeidlich. Künstlerisch: Die Konzentration auf Thomas Manns große, allerdings manchmal langatmige Romanwerke, beginnend mit dem Geniestreich der »Buddenbrooks«, verstellt den Blick auf das, was er vor allem war: ein meisterhafter Erzähler, der auch die kurze Form wunderbar beherrschte. Mein Favorit zum Beispiel: »Mario und der Zauberer«. BOCHUM DR. KAI VAN DE LOO Spät kam der SPIEGEL mit der publizistischen Begleitmusik zu Heinrich Breloers Dreiteiler, aber er kam - perfekt getimt, zum Nachlesen und Weiterdenken, inhaltsreich und anregend, Analyse statt PR. Kompliment. Kompliment natürlich auch an Breloer, Königstein und die Darsteller für dieses Meisterstück von narkotischer Sogwirkung, das immer spannend blieb. Obwohl: Nikolaus von Festenberg legt den Finger schon sehr genau auf den wunden Punkt, wenn er darauf hinweist, dass Breloer sich von dem »Demaskierungs«-Impetus seiner frühen Doku-Dramen entfernt hat. Heldenverehrung statt kritischer Distanz, Schlüssellochperspektive statt Aufklärung - diese Tendenz ist tatsächlich spürbar, und darin ist der Film natürlich auch Symptom des intellektuellen Klimas nach dem »Ende der Nachkriegszeit«. HAMBURG DETLEF RÖNFELDT REGISSEUR Elke Schmitter ist ein gebildetes, bisweilen gar zu gebildetes Frauenzimmerchen, doch in ihrem Artikel über die »Buddenbrooks« ist ihr der gestrenge Satz entschlüpft, die Gemütlichkeit des Genres scheine »die Tragik dieses Buches geradezu appetitlich zu machen«. Da ich mir nicht abgewöhnen kann, Bücher zu umarmen und Frauen zu lesen, habe ich es gern, wenn die einen wie die anderen appetitlich sind, also den Appetit anregen, und halte die vorwurfsvolle Behauptung Ihres Frauenzimmerchens für die größte Torheit, die seit der Erschaffung der Welt über die »Buddenbrooks« geschrieben wurde. Getröstet hat mich die Titelgeschichte, die mehr über Thomas Mann bietet als das Meiste zu diesem Thema, die auch für mich, der ich in Sachen Thomas Mann nicht ganz unbewandert bin, viel Neues enthält. Überdies ist sie überaus amüsant. »Mein Liebchen, was willst du mehr?« - fragt Heine. Ja, ich will mehr und häufiger, nämlich im SPIEGEL, so glanzvolle Artikel lesen. FRANKFURT AM MAIN MARCEL REICH-RANICKI Sie bebildern mit einem Foto, das Thomas Mann am Strand der Kurischen Nehrung zeigt. In der Bildunterschrift dazu heißt es statt Nidden »Nibben«. In Nidden, heute Nida, hatten die Manns ein Sommerhaus. SEELZE (NIEDERS.) SABINE SCHIEKE Wir bedauern den Druckfehler. -Red. Es muss noch gesagt werden, dass das ungebrochene Überleben von Thomas Mann als Autor des S. Fischer Verlages sich der ungeheuren Energie von Gottfried und Brigitte Bermann Fischer verdankt, die als Verleger in Zeiten größter Bedrängnis um ihren Autor gerungen haben. FRANKFURT AM MAIN MONIKA SCHOELLER S. FISCHER VERLAG Dieser Titel bezieht auch das ein, was der Film zu sparsam behandelt hat: Literatur und Politik, die doch der eigentliche Grund unseres Interesses an den »Manns« sind. So wird ein Autor, für den die 68er nur die Verachtung der Folgegeneration übrig hatten, einem großen Publikum zurückgewonnen. HAMBURG WOLFGANG PETERS »Man kann Mann und die Seinen bewundern und dabei nicht lieben, kann sie lieben und dabei nicht verehren. Aber eines kann man mit Sicherheit nicht: sie und ihr Werk ignorieren.«DER SPIEGEL vom 2. Januar 1952Nr. 51/2001, Kommentar: Rudolf Augstein: Arafat kennt Tunis bereits Endlich spricht es mal jemand klar und deutlich aus: Scharon will überhaupt keinen Ausgleich mit den Palästinensern. Da er dies aber gegenüber der Weltöffentlichkeit nur schlecht verkaufen kann, demütigt und provoziert er die Palästinenser, bis das gewünschte Ergebnis eintritt. Anschließend betont er Israels Recht auf Selbstverteidigung. Endziel: Die Konzentration der Palästinenser in einigen selbst verwalteten Homelands, während immer neue Siedlungen Fakten schaffen. Doch die Totengräber von Oslo sitzen auch in Washington. Erst wenn Bushs hehren Parolen von der neuen moralischen Außenpolitik endlich Taten folgen, wird es Frieden im Nahen Osten geben. TRIER GÜNTHER HEIL Wenn Israel nicht Israel wäre, welche Streitmächte hätte man da wohl schon längst vorsorglich in Stellung gebracht? Wenn Scharon nicht Regierungschef Israels wäre, wie würden ihn die maßgeblichen Akteure der Weltpolitik dann wohl heißen? Es ist ein Jammerspiel! Und weil dieses Jammerspiel einen israelischen Spielleiter hat, werden wir es uns weiterhin tatenlos anzusehen haben, wie dieser instinktlose Bulldozer die letzten Reste der Hoffnung zunichte macht, für die Peres und Arafat seinerzeit mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurden. MÜNCHEN DR. ANDREAS VIERECKE Ich finde es - gelinde gesagt - unpassend, von deutscher Seite den Nahostkonflikt und insbesondere die Taktik Ariel Scharons mit den Taten Hitlers zu vergleichen. Erstens steht uns das als Deutsche nicht zu, und zweitens wird ein sehr gefärbtes Bild zu Gunsten Arafats gezeichnet. WALZBACHTAL (BAD.-WÜRTT.) SVEN BELLER Die Rolle Arafats im leider gescheiterten Friedensprozess war definitiv nicht die der Taube. Eine Erklärung für seinen Abbruch der Verhandlungen in Camp David beziehungsweise ein konkreter Gegenvorschlag zu dem damals von der israelischen Regierung vorgelegten Angebot sind von Arafat und seinem Stab bis heute nicht geliefert worden. Ebenso wenig hat Arafat offen und entschlossen versucht, den Aktivisten der Hamas bei der Rekrutierung, Ausbildung und Entsendung von Attentätern Einhalt zu gebieten. MÜNCHEN PHILIP BEIL In Ihrem Kommentar zu Scharons Politik in Israel haben Sie den Mund etwas zu voll genommen, Herr Augstein. Die Tatsache, dass Hitler Chamberlain loswerden wollte, mit dem Versuch Scharons, Arafat als Verhandlungspartner auszuschalten, auf eine Stufe zu stellen, ist höchst zweifelhaft und historisch nicht haltbar. Hitler-Deutschland war 1939 nicht in seiner Existenz bedroht wie Israel es heute ist, vielmehr bedrohte Hitler zahlreiche andere Staaten. Scharon, so umstritten seine Vorgehensweise auch sein mag, muss sich mit der Frage auseinandersetzen, wie er seine Bürger am besten vor weiteren terroristischen Attacken seitens radikaler Palästinenser schützen kann. AACHEN MICHAEL SCHMIEDEL Man muss Augstein Mut bescheinigen: In der deutschen Presse wird schlichtweg nicht die Wahrheit gesagt, wenn es um das Thema Israel geht. Der Grund hierfür ist ebenso verständlich wie falsch und schädlich: Verständlich, weil es als moralischer Imperativ gilt, die Wahrheit über Israel zu verschweigen: ein Teil der Wiedergutmachung. Falsch, weil das Gewissen dies als Lüge erkennt, und schädlich, weil hieraus ein Ressentiment entsteht, das wieder zu neuem Rassismus führen kann. Gerade das Gegenteil des so wohlmeinend Gewollten wird also erreicht. OAKLAND (KALIFORNIEN) JÖRG RUPF Unzulässiger Versuch? Sehr geehrter Herr Augstein, eine Insinuierung, historische Analogie oder ein annähernder Vergleich zwischen dem Premierminister des jüdischen Staates und der Unperson, die dieses Volk vernichten wollte, ist - ganz unabhängig von vielen anderen Behauptungen in Ihrem Kommentar »Arafat kennt Tunis bereits«, die ich zurückweisen möchte - eine Beleidigung für jeden Holocaust-Überlebenden und für das gesamte jüdische Volk. Ich bin überzeugt, dass die Leser Ihren unzulässigen Versuch klar ablehnen werden. BERLIN SHIMON STEIN BOTSCHAFTER DES STAATES ISRAEL Sehr geehrter Herr Botschafter, Ihren Brief finde ich nicht überzeugend, mein ganzer Hass ist bis heute auf Adolf Hitler gerichtet. Warum sollte ich gegen den gegenwärtigen Premier Israels, Ariel Scharon, das Geringste haben? Es geht hier um einen Vergleich, den jeder verstehen müsste. Will Ariel Scharon wirklich, wie angekündigt, Arafat nicht mehr als Gesprächspartner anerkennen, so müsste er wissen, dass er keinen anderen Gesprächspartner finden wird, allenfalls einen radikaleren, der auch gesünder ist als Arafat. Es ist doch denkwürdig, dass Hitler nach Abschluss seines Teufelspakts mit Stalin ungeduldig darauf wartete, dass die Regierung Chamberlain zurücktreten werde. Es lag ja klar zu Tage, dass Winston Churchill sein Nachfolger werden würde. Scheu davor, den Namen Hitler auch nur zu erwähnen, habe ich nicht. Bis heute schäme ich mich, einer Generation anzugehören, in der Auschwitz möglich war. Meine Redakteure sind fähig genug, mich darauf aufmerksam zu machen, wenn ich einen so schwerwiegenden Fehler oder auch nur eine Taktlosigkeit begangen hätte. Mit ergebenen Grüßen.Nr. 51/2001, Kino: Der Herr der Ringe - das teuerste Filmprojekt aller Zeiten Infantiler Murks??? Natürlich infantil, Gott im Himmel, was sind denn Geschichten, wie man sie früher Kindern zum Einschlafen erzählt hat? Warum können Sie eigentlich nicht jemanden über dieses Buch und seine Verfilmung schreiben lassen, der ihn einfach liebt, diesen Kosmos des J. R. R. Tolkien. Und kommerzieller Erfolg kann nicht heißen, dass etwas gut, geistreich und wahrhaft qualitativ hochwertig ist??? Dann waren ja wohl der »Faust« und »Beethovens 9.« auch erbärmliche Brocken erfolgreicher Trivial-(Un-)kunst?! Gute Nacht, kindgebliebene Erwachsene, und lasst diese Typen in ihren traurigen, humorlosen und grauen Zellen hocken und weiterhin Wenders- und Visconti-Filme glotzen. SINSHEIM (BAD-WÜRTT.) DANNY BUSCH Dass das Buch kein Zauberberg ist, ist wohl jedem klar, es ist ein Märchen, das größte, das es gibt, nicht mehr und nicht weniger. HAMBURG SEBASTIAN SCHLIEP Ich kann nicht nachvollziehen, dass Sie als renommiertes Magazin Ihre eigene Klientel so vor den Kopf stoßen. Denn die Leser des »Herrn der Ringe« sind die so genannte Intelligenzia, das heißt, kaum ein Student, der das Buch nicht gelesen hat, kaum ein Arzt oder Lehrer, der das Buch nicht im Hause hat. Bei 6 bis 8 Millionen verkauften Exemplaren in Deutschland wäre eine vorsichtigere Behandlung des Themas mit Sicherheit angebracht gewesen. VILLINGEN-SCHWENNINGEN NICOLAS MAYER Offenbar hält der Autor eh nicht viel von Tolkiens Werk, doch warum wird er dann auf den Film losgelassen? Da kann man auch einen Vegetarier fragen, ob ihm die Blutwurst heute oder vor fünf Jahren besser geschmeckt hat. ZEUTERN (BAD.-WÜRTT.) MATHIAS STAUDT Geradezu dankbar muss man dafür sein, dass es noch Artikel wie diesen gibt, die nicht jeden Blödsinn zum Kulturereignis hochjazzen, sondern auch und gerade in Zeiten der Massenfantasy kritisch bleiben. Was sagt es über eine Gesellschaft aus, wenn die mythische Aufblähung eines Rings oder das Hineingeheimnissen von Unsterblichkeit in einen Stein für viele Menschen bedeutend genug ist, um viel Geld und Zeit dafür zu opfern? Zumindest doch, dass sie sich verdrängend wünscht, das Böse existiere bloß in fernen Welten und werde dort am Ende besiegt.Nr. 51/2001, Religionen: Naive Kirchenmänner ignorieren beim Dialog die dunklen Seiten des Islam Der Islam trifft im Westen auf ein »Christentum light«, das schon längst nicht mehr von der Wahrheit der eigenen Glaubensauffassung überzeugt ist. Unsere Oberhirten haben jahrzehntelang zugeschaut, wie die christliche Substanz in Predigt und Lehre ausgehöhlt wurde. Die Quittung wird ihnen nun präsentiert. Ernsthafter Widerstand ist von unseren glaubensvergessenen Hirten allerdings nicht zu erwarten. MÜHLTAL (HESSEN) HENDRICK JOLIE PFARRER Endlich ein deutliches Wort zu dieser Sache, und ich wünschte, dass der Artikel von allen »Gebildeten unter den christlichen Liebhabern des Islam« gelesen wird. Wie wäre es mit Freiexemplaren für alle Schulen? Die entscheidende Frage an den Islam bleibt diese: »Wie hältst du es mit den Aussagen des Korans, besonders in Sure 5 (Angriffe gegen Juden und Christen)? Sind diese zeitlos gültig oder zeitbedingt und damit nicht übertragbar auf alle Menschen und alle Länder? BOHMTE (NIEDERS.) DR. KARL-HEINZ KUHLMANN Dass der Dialog nötig ist, steht außer Frage - aber ohne Duckmäusertum unsererseits. Alle müssen wissen, dass das christliche Abendland und der Islam durch Welten getrennt sind. Demokratie, Sozialismus, Liberalität, selbst Anarchie wurzeln in der Tradition des Christentums und sind dem Islam wesensfremd. Außerdem: Zum Dialog kommt es nur da, wo der Islam in der Minderheit ist und nicht gesellschaftsbestimmend. TRIER HANS-WERNER DEGEN Endlich der notwendige Artikel. Vielleicht hätte noch deutlicher rauskommen dürfen, dass es nicht um die Religion geht, sondern um unsere Demokratie. Und wenn Religionen mit unseren Gesetzen Probleme haben sollten, müssen sie sich anpassen, nicht wir. Das schließt durchaus den Dialog mit ein, aber von einer selbstbewussten und nicht schuldgeplagten Position heraus. Es finden sich genügend verständige Muslime zum Gespräch. Deshalb sollten wir Kreuzritter einen präzisen Verfassungs-TÜV für Muslime fordern. Sprechen wir mit ihnen. Im Friseursalon oder Gemüseladen, am Krankenbett oder an der Uni. Gelingt dieses Gespräch nicht, wird es zum »clash of civilizations« kommen. HEIDELBERG RAIMUND POUSSET Unsere entchristlichte und fremdorientierte westliche Welt vermag dem Islam, der immer auch Ideologie ist, nichts mehr entgegenzusetzen. Deshalb nimmt er uns gar nicht mehr ernst und kann fast ungehindert die demokratisch verfasste Gesellschaft unterwandern. Von einer Dialogfähigkeit und Toleranz sind die meisten Systemträger der islamischen Welt noch weit entfernt. Trotz alledem: Dialog und Toleranz sind in religiösen Fragen unverzichtbar, nur dürfen sie eben keine Einbahnstraßen sein. BERLIN DIRK JUNGNICKEL Meine Erfahrung, einen Dialog mit islam.de (Zentralrat der Muslime) vor und nach dem 11. September zu führen, beschränkt sich auf Äußerungen der Selbstbeweihräucherung, Anklage, Opferhaltung und Arroganz bis hin zur Feindseligkeit, wenn etwas Selbstreflexion erwartet wird. Bedauerlich, dass von der offiziellen islamischen Seite keine Verantwortung übernommen wird. Es müssten Konzepte zur Integration in eine demokratische Gesellschaft erarbeitet werden.